Wie Putins Schwäche in Russlands Fernen Osten bloßgestellt wird
Seit zwei Monaten gehen in Chabarowsk zehntausende Russen auf die Straße. Ausgelöst wurden die Proteste von der Festnahme des gewählten Gouverneurs, aber längst wird auch gegen Moskau und Putin demonstriert.
In Russland wurde Politik stets in den Hauptstädten gemacht. Auch wenn das Land 11 Zeitzonen umfasst und von der Ostsee bis zum Pazifik reicht, so waren doch Moskau und St Petersburg die Ausgangspunkte der drei russischen Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts – sowie auch der vierten an dessen Ende. Im August 1991 erfuhren die Bewohner einiger abgelegenen Regionen von dem versuchten Putsch in Moskau erst als er bereits gescheitert war.
Im 21. Jahrhundert gilt dieser Hauptstadtzentrismus scheinbar nicht mehr. Es gibt dafür viele Gründe – unter anderem moderne Kommunikationstechnik – aber russische Politik wird nun endlich überregional. Das zeigen die Proteste in Chabarowsk, einer Stadt 6.000 Kilometer von Moskau entfernt im Fernen Osten, wo Einwohner eine noch nie dagewesene Protestwelle gegen den plötzlichen Rausschmiss ihres gewählten Gouverneurs angestoßen haben.
Chabarwosk war seit September 2018 ein Stachel im Fleisch der russischen Regierung, als der vom Kreml unterstützte Kandidat die Gouverneurswahl haushoch verlor. Sieger wurde mit 70 Prozent der Stimmen Sergei Furgal, ein Abgeordneter der kremlfreundlichen Nationalistenpartei mit dem unpassendem Namen Liberaldemokratische Partei. Aber der Sieger war eigentlich egal. Wie bei den meisten jüngsten Wahlen in Russland – vor allem bei der Moskauer Stadtratswahl 2019 – verlieren die Kremlkandidaten eigentlich immer, egal gegen wen sie antreten – sogar wenn die echte Opposition an der Teilnahme gehindert wird (was meist der Fall ist).
In Chabarowsk war ausschlaggebend, dass die Wähler ihren eigenen Gouverneur gewählt hatten und nicht den vom Kreml vorgesetzten. Die Person und politische Bindungen waren sekundär. Im Juli wurde dieser gewählte Gouverneur festgenommen und nach Moskau geflogen, wo in Untersuchungshaft kam. Ihm wird vorgeworfen, als Geschäftsmann in den frühen 2000ern mehrere Morde organisiert zu haben. Die Reaktion folgte prompt. So viele Menschen wie nie zuvor in Chabarowsk gingen auf die Straße – und tun es immer noch. Medienberichten zufolge waren auf dem Demonstrationszug am 25 Juli 50.000 Menschen, rund zehn Prozent der Bevölkerung. In Moskau hätte eine gleich große Demonstration 1,2 Millionen Teilnehmer.
Die Proteste wurden schnell überregional – im politischen und nicht im geografischen Sinn. Zuerst wurde gefordert, Furgal wieder einzusetzen, und ihm in Chabarowsk statt in Moskau den Prozess zu machen. Aber immer mehr richteten sich die Forderungen direkt an den Kreml. Slogans wie „Nieder mit dem Zar“, „Putin tritt zurück“ und „Wach auf, Russland“ sind an der Tagesordnung. Bemerkenswert ist, dass die Polizei sich zurückhält und kaum Gewalt anwendet – eine ungewöhnliche Ausnahme bei Oppositionsprotesten in Russland.
So berichtet der St Petersburger Oppositionsführer Andrei Piwowarow, der an den Protesten in Chabarowsk teilnahm, ihm habe dort ein Offizier der Nationalgarde erklärt, dass er und seine Kameraden die Proteste unterstützen. „Wenn es einen Befehl gibt, die Demonstranten auseinanderzutreiben, dann ziehen meine Kameraden und ich unsere Uniformen aus. Wir leben hier.“
Ein direkte Erkenntnis aus den Protesten in Chabarowsk ist, dass die staatliche Kontrolle über das Fernsehen, die die frühen Jahre von Wladimir Putins Herrschaft ermöglichte, nicht mehr so wichtig ist. Denn obwohl das Fernsehen nicht über die Proteste berichtete, hatten laut einer Umfrage des Levada-Zentrums von Juli 83 Prozent der befragten Russen von ihnen gehört – und 45 finden sie gut (nur 17 Prozent lehnten sie ab). Und 29 Prozent der Befragten gaben an, dass sie an derartigen Protesten in ihrer Region teilnehmen würden.
Es sieht so aus, als lasse der Kreml den Menschen keine andere Wahl. Das Putin-Regime hat sich jahrelang mit einem Mix aus Propaganda, wirtschaftlichen Anreizen und Unterdrückung an der Macht gehalten. Seit viele Russen sich im Internet informieren, ist die Propaganda weniger wirksam, während der Verfall des Ölpreises und die Corona-bedingte Rezession die wirtschaftlichen Möglichkeiten eingeschränkt haben – so dass der Kreml nur noch mit Unterdrückung reagieren kann. Aber auch dieses Mittel hat seine Grenzen, wie die Untätigkeit der Polizei in Chabarowsk zeigt.
Am 13. September finden in mehr als 30 russischen Regionen Regionalwahlen statt, ein wichtiger Stimmungstest für die Parlamentswahl im kommenden Jahr. Im Vorfeld hat der Kreml die Schrauben wieder angezogen – es wurden neue Methoden eingeführt, mit denen unliebige Kandidaten verhindert sowie Möglichkeiten für elektronische Stimmabgabe, Briefwahl und mobiles Wählen ausgeweitet werden – alles Dinge, die staatliche Manipulation und Wahlbetrug erleichtern. Nach Einschätzung der unabhängigen Wahlbeobachterorganisation Golos sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Regionalwahlen 2020 die schlimmsten der vergangenen 25 Jahre.
Und trotzdem kann es sein, dass Putin und seine Partei dieses oder nächstes Jahr eine peinliche Niederlage erleben. Das Vertrauen in Putin ist der jüngsten Levada-Umfrage zufolge auf 23 Prozent gesunken, so niedrig wie nie zuvor. Die Proteste in Russlands Fernen Osten zeigen, wie wenig offizielle Wahlergebnisse, wie das Plebiszit zur Verlängerung von Putins Amtszeit, wert sind. Natürlich kann der Kreml diese Taktik nächstes Jahr wiederholen und die Auszählung der Stimmen „gewinnen“. Aber Chabarowsk hat dem Rest des Landes gezeigt, was danach passieren kann.
Dieser Artikel ist ursprünglich am 3. August in der „Washington Post“ erschienen. Übersetzung: Nikolaus von Twickel
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