Die langen Linien des russischen Imperialismus
Der Überfall auf die Ukraine hat den Blick auf Russland verändert. Fast über Nacht werden die langen Linien des russischen Imperialismus sichtbar – und mit ihnen die Zentralstellung der Ukraine als Kronjuwel des russischen Imperiums.
Von den langen Linien des russischen Imperialismus zu sprechen, markiert einen Perspektivenwechsel in der neueren deutschen Debatte. Wenn bislang von Imperialismus die Rede war, galt dieser Begriff fast ausschließlich den westlichen Mächten, die sich seit dem 16. Jahrhundert weite Teile des Globus untertan gemacht hatten. Die Kolonisierung Nord- und Südamerikas, Asiens und Afrikas markierte die erste Phase dieser imperialen Expansion. Sie wurde nach dem 2. Weltkrieg abgelöst durch eine neue Form wirtschaftlicher und militärischer Dominanz, die vor allem von den USA repräsentiert wurde. Imperiale Vorherrschaft löste sich vom klassischen Kolonialsystem.
In der Studentenbewegung und der politischen Linken war „Imperialismus“ weitgehend synonym mit „US-Imperialismus“, während die Sowjetunion sich als „antiimperialistische Macht“ in Szene setzte und nationale Befreiungsbewegungen im globalen Süden unterstützte. Dass die UdSSR zugleich alle Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen im eigenen Machtbereich niederschlug, wurde merkwürdigerweise nicht als komplementäre Form imperialer Herrschaft wahrgenommen.
Imperien im Sinne von machtvollen, territorial weit über die Zentralmacht hinaus ausgedehnten Reichen gab es bereits in früheren geschichtlichen Perioden. Auch sie beruhten auf militärischer Eroberungspolitik und zentralisierter Herrschaft. Aber „Imperialismus“ ist eine Kategorie der Neuzeit. Kolonialpolitik ist eine Form des Imperialismus, aber der Imperialismus als expansive Form politischer und ökonomischer Herrschaft endete nicht mit der Dekolonialisierung, die nach dem 2. Weltkrieg einsetzte.
Der Überfall auf die Ukraine hat den Blick auf Russland verändert
Putins Ukraine-Obsession ist keine persönliche Marotte. Die Ukraine war über Jahrhunderte das Objekt russischer Begierde – als historischer Ausgangspunkt russischer Staatswerdung, als Kornkammer, Tor zu Mitteleuropa und später auch als industrielle Herzkammer der Sowjetunion.
Auch unter Stalin war die Herrschaft über die Ukraine ein zentraler Imperativ sowjetischer Machtsicherung. So löste der sowjetische Diktator mittels erhöhter Getreidebeschaffungsanordnungen 1932–33 die als Holodomor bekannt gewordene Hungersnot aus, um dem „ukrainischen Nationalismus“ das Rückgrat zu brechen.
Auch im 2. Weltkrieg war die Ukraine ein zentraler Schauplatz des Kampfs zwischen dem Deutschen Reich und der UdSSR. Hitler wollte die Ukraine als Brotkorb, Siedlungsraum und Rekrutierungsfeld für slawische Zwangsarbeiter, Stalin brauchte die Ukraine als westliches Vorfeld der Sowjetunion.
Putins geschichtspolitischer Traktat vom Juli 2021 mit dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ war bereits die Ankündigung dessen, was kommen würde. Im Kern bestreitet er darin die Existenzberechtigung der Ukraine als eigenständige Nation. Der Text ist eine unverhüllte Drohung, dass der Kreml nicht dulden wird, dass die Ukraine sich aus dem russischen Orbit entfernt und Teil der westlichen Welt wird. Es gab schon damals genügend Stimmen, die das als ideologische Kriegsvorbereitung verstanden – dummerweise wollte sie in Berlin und anderen westlichen Hauptstädten niemand hören.
I Russlands koloniale Geschichte[1]
Russlands koloniale Geschichte war alles andere als „friedlich“ und „einvernehmlich“, wie gern von russischen Historikern behauptet wird. Das war sie ganz und gar nicht. Sie war nicht weniger kriegerisch und grausam als die koloniale Expansion der europäischen Mächte. Dennoch gibt es signifikante Unterschiede. Dies wird deutlich, wenn wir die drei Epochen der Kolonisierung betrachten.
Die erste Epoche erstreckte sich über das 11. bis 14. Jahrhundert. Zwischen 1000 und 1150 n. Chr. gründeten junge Fürsten der Kiewer Rus‘ die Städte, die später zu den Ankerpunkten russischer Staatsbildung wurden – darunter auch Moskau. Historisch ist Moskau eine Kiewer Kolonie. Diese Ableger wurden mächtiger, als die Kiewer Metropole aufgrund von dynastischen Streitigkeiten unterging. In den Jahren um 1230 war dieser Teil des späteren Russland bereits größer als jeder andere europäische Staat mit Ausnahme des Heiligen Römischen Reiches.
Um 1240 gerieten die ostslawischen Fürstentümer unter die Herrschaft der Mongolen. Das Großfürstentum Moskau wurde zum Nukleus einer neuen Staatlichkeit, vereinigte im 14./15. Jahrhundert die übrigen Teilfürstentümer unter seiner Führung und konnte sich 1480 von der Mongolenherrschaft befreien. Damit begann eine neue Phase kolonialer Expansion.
Als die Europäer zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihre Expeditionen nach Übersee begannen, setzten die Moskowiter ihre Eroberungen nach Norden und Osten fort. Bis 1610 waren bis zum Fluss Jenissej in Sibirien vorgedrungen, und Mitte des 17. Jahrhunderts näherten sie sich der Grenze zu China. 1689 hatten sie den gesamten Nordosten Eurasiens bis zur Beringstraße erobert.
Die ersten sibirischen Städte wurden fast zeitgleich mit der britischen Kolonisierung Nordamerikas gegründet: Tomsk (1604) und Krasnojarsk (1628) entstanden parallel zu Jamestown (1607), New York (1624) und Boston (1630). Russisch-Sibirien war die gleiche Art von Siedlerkolonie wie Neuengland, Québec, Australien und Neuseeland, alles Gebiete, die wir als Ausgründungen ihrer Mutterländer bezeichnen könnten, da die Kolonisten die einheimische Bevölkerung zahlenmäßig weit übertrafen. Ein großer Teil der indigenen Bevölkerung wurde hier wie dort ausgerottet; wenn ein lokaler Stamm rebellierte, töteten die russischen Kolonialtruppen bis zur Hälfte der Bevölkerung.
Gemessen an seiner territorialen Größe und historischen Dauer war das Russische Reich das erfolgreichste aller historischen Imperien. Auf seinem Höhepunkt erstreckte es sich über ein Sechstel der Landmasse der Erde. In den Grenzen des Zarenreichs wurden über 130 Sprachen gesprochen und an unterschiedliche Götter gebetet: Christen unterschiedlicher Konfessionen (mit der Orthodoxie als Staatskirche), Muslime, Buddhisten, Juden (Ende des 19. Jahrhunderts lebten ca. zwei Drittel aller Juden im Russischen Reich) und Anhänger animistischer Naturreligionen. Das klingt nach multikultureller Idylle, verdeckt aber die aggressive Russifizierungspolitik, die bis zur versuchten Auslöschung der kulturellen Identität von nationalen Minderheiten ging, deren Sprachen und Kultur marginalisiert wurden.
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zeigt sich eine auffällige Parallele zwischen Russland und den anderen europäischen Kolonialmächten. Als beide ihren Vorrat an Kolonisten erschöpft hatten, entschieden sie sich für eine andere Art von kolonialer Expansion, bei dem sie sich vorrangig auf militärische Überlegenheit stützten. Auf diese Weise sicherten sie sich die Kontrolle über riesige neue Gebiete, in denen die Eroberer nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung stellten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten die Briten große Teile Afrikas, Indiens und Malaysias erobert; die Franzosen kontrollierten Indochina, Westafrika und Teile des Nahen Ostens; die Niederländer, Portugiesen, Belgier und Deutschen folgten ihnen. 1885 war der Deal unter Dach und Fach, und der Vertrag von Berlin machte ihn offiziell: Die Europäer hatten Afrika unter sich aufgeteilt.
Zur gleichen Zeit wandten sich auch die Russen dem Süden zu und begannen ihre dritte Periode des Kolonialismus: Zwischen 1804 und 1810 nahm das Reich ganz Georgien, Abchasien und Armenien in Besitz, bis 1859 hatte es eine Reihe von Kriegen mit den nordkaukasischen Stämmen abgeschlossen. Danach folgte die Eroberung Zentralasiens.
Die wichtigste russische Siedlerkolonie war und ist bis heute Sibirien. Es lieferte Russlands wertvollste Exportgüter, von Pelzen, Gold und Holz bis zu Erdöl und Erdgas. Die russischen Herrscher waren nie daran interessiert, eine regionale Elite zu schaffen. Die erste sibirische Universität wurde erst 1878 in Tomsk gegründet, 242 Jahre nach der Harvard University in Massachusetts. Fast alle großen Rohstoffunternehmen, die in Sibirien tätig sind, haben ihren Firmensitz in Moskau oder St. Petersburg, ein Großteil des Steueraufkommens fließt aus der Region ab.
Im Gegensatz zu den amerikanischen Kolonien Englands und Spaniens versuchte Sibirien allerdings nie, sich von Moskau abzuspalten. Die russischen Siedler blieben loyal zu Moskau. Ob Sibirien sich auf Dauer damit zufriedengeben wird, eine ausgebeutete Peripherie Moskaus bleiben, ist für eine entscheidende Frage für die Zukunft Russlands.
II Von der Sowjetunion zu Putins Neoimperialismus
Als Russland in den 1920er Jahren zur Sowjetunion wurde, mischte sich das alte imperiale Erbe mit der neuen kommunistischen Ideologie. Die Oktoberrevolution war – neben anderen Motiven – auch ein Gewaltakt, um den Niedergang Russlands aufzuhalten. Spätestens als an die Stelle der Weltrevolution der „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ trat, ging es um ein brachiales Modernisierungsprogramm von oben, um Russland aus einem rückständigen Land in eine industrielle und militärische Großmacht zu verwandeln. Die bolschewistische Führung knüpfte an die imperialen Traditionen an und schickte sich an, Zentralasien zurückzuerobern und die östliche Ukraine wieder einzugliedern. Die Rote Armee versuchte Warschau zu erobern, holte sich dabei eine blutige Nase.
Eine wichtige Etappe in der Restauration des einstigen russischen Reichs durch die sowjetische Führung war der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Er führte zur Besetzung Ostpolens, des westlichen Weißrusslands, der westlichen Ukraine und Bessarabiens sowie zur Annexion der drei baltischen Staaten im Jahr 1940. Der Versuch, auch Finnland wieder „heim ins Reich“ zu zwingen, scheiterte im Winterkrieg von 1939/40.
Nach dem siegreichen Ende des 2. Weltkriegs war die Angliederung Ostpreußens die letzte Gebietserweiterung der Sowjetunion. Parallel setzte eine neue Form imperialer Expansion ein: die Errichtung von Marionettenrepubliken in Mittel-Osteuropa bis hin zur Spaltung Deutschlands.
Während sich die anderen europäischen Kolonialreiche – zum Teil in blutigen Kriegen wie in Algerien – auflösten, erreichte das sowjetische Imperium nach dem 2. Weltkrieg den Höhepunkt seiner Macht. Doch als die sowjetische Wirtschaft schrumpfte und politische Reformen unausweichlich wurden, kamen die alten nationalen Konflikte mit ungeheurer Wucht wieder zum Vorschein. Sie mündeten in die Auflösung der UdSSR und des Warschauer Pakts.
Der Zerfall der Sowjetunion 1991 war die Auflösung eines Imperiums durch die zentrifugalen Fliehkräfte der nationalen Teilrepubliken und abhängigen Vasallenstaaten. Von den Warschauer-Pakt-Staaten in Mittel-Osteuropa über die baltischen Sowjetrepubliken bis zu den russischen Eroberungen im Südkaukasus und Zentralasien verabschiedeten sich die abhängigen Nationen in die Unabhängigkeit.
Die Dynamik von 1989/90 folgte einem ähnlichen Muster wie der Zerfall des britischen oder französischen Kolonialreichs nach dem 2. Weltkrieg – allerdings im Zeitraffer und vergleichsweise unblutig. Das lag nicht nur an der ökonomischen und politischen Erschöpfung der Sowjetmacht. Parallel zu den Unabhängigkeitsbestrebungen der inneren und äußeren Kolonien zogen auch die Machteliten in Moskau die Reißlinie. Es war Boris Jelzin, der der UdSSR den Todesstoß versetzte. Er wollte Russland retten, indem er das Imperium aufgab.
In den abtrünnigen ehemaligen Sowjetrepubliken vom Baltikum bis nach Zentralasien fanden sich die dort lebenden Russen plötzlich als Minderheit wieder. Sie verloren ihren Status als dominierendes Staatsvolk. Als Reaktion darauf erfand der Kreml das Konzept einer „russischen Welt“. In den Augen Putins ist die russische Nation über den gesamten postsowjetischen Raum verstreut und muss wiedervereinigt werden – wenn nicht als Rückkehr dieser Staaten in die russische Föderation, dann zumindest in Form einer Allianz von eng mit Russland verbundenen Staaten.
Deshalb auch die Forderung, die NATO solle sich wieder aus Mittel- und Osteuropa zurückziehen: die Osterweiterung der NATO schränkt den Zugriff Moskaus auf die Staaten in seiner reklamierten Einflusssphäre ein. Dass Putin mit dem Überfall auf die Ukraine genau das Gegenteil bewirkt, ist Ergebnis einer grotesken Fehlkalkulation.
Bei Bedarf lügen Putin und sein Außenminister, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist dennoch ein großer Fehler, nicht ernst zu nehmen, was er sagt. Putin hat schon früh den Untergang der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Spätestens mit der Invasion in Georgien im Jahr 2008 wurde klar, dass er danach trachtet, die großrussische Einflussphäre zu restaurieren.
Vorausgegangen waren zwei verheerende Feldzüge gegen separatistische Bestrebungen in Tschetschenien, bei denen Zehntausende Zivilisten ums Leben kamen und die Hauptstadt Grosny fast komplett verwüstet wurde – ein klares Signal, dass Moskau keine weiteren nationalen Abspaltungen dulden wird.
Die Transformation des sowjetischen Imperiums blieb in den 1990er-Jahren auf halbem Wege stecken. Der Übergang zu einem modernen, demokratischen Nationalstaat ist gescheitert. Mit der Machtübernahme Putins entwickelte sich eine dreifache Restauration: von der steckengebliebenen Demokratisierung zum Autoritarismus, von halbherzigen marktwirtschaftlichen Reformen zurück zur Staatswirtschaft und von einem nach Westen orientierten, postimperialen Russland zu einer neoimperialen Politik.
Der post-imperiale Phantomschmerz in Russland wurde über die Jahre noch stärker. Er ist der psychologische Resonanzboden für einen aggressiven Revanchismus nach außen. Auch die innere Verfassung des russischen Staates gleicht immer noch mehr einem Kolonialreich als einer modernen multiethnischen Föderation.
Gleichzeitig betreibt Russland wieder globale Machtpolitik. Als Machtmittel bleiben dem Kreml mangels einer attraktiven Ideologie nur noch Korruption, fossile Energien, Desinformation und Militär. Der Bombenkrieg in Syrien war das Exerzierfeld für den Überfall auf die Ukraine. Und er war ein Test auf die Standfestigkeit des Westens. Dass Amerika und Europa die Kriegsverbrechen Putins und Assads tatenlos hingenommen haben, wurde im Kreml als Einladung verstanden, den nächsten Schritt zu gehen. Schwäche ermutigt Aggression.
III Russland muss an der Ukraine scheitern
Jetzt also endlich das Ende der Illusionen über Putin-Russland als Partner des Westens. Solange das jetzige Regime an der Macht ist, zwingt es den Westen zu einer Politik der Abschreckung und Eindämmung – mit einem Rest Hoffnung, dass auch Russland nicht auf ewig in seiner imperialen, militaristischen und autoritären Geschichte gefangen bleibt. Deshalb dürfen wir auch die Kontakte zu den Freigeistern in Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft nicht abreißen lassen, die noch in Russland überwintern. Hunderttausende haben das Land seit dem 24. Februar verlassen – damit schwinden auch die Aussichten auf einen baldigen Umschwung der Verhältnisse.
Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sich die Zukunft Russlands in der Ukraine entscheidet. Der Abschied vom Imperium wird nicht freiwillig erfolgen, noch weniger als in den europäischen Demokratien, die ihre Kolonien nicht freiwillig räumten. Umgekehrt gibt es wohl keinen stärkeren Hebel für eine innere Wandlung Russlands als eine demokratische, ökonomisch prosperierende und in die europäische Gemeinschaft eingebundene Ukraine. Wir sollten deshalb in unserem eigenen Interesse alles tun, damit der russische Imperialismus an der Ukraine scheitert.
Dieser Essay basiert auf einem Vortrag, den Ralf Fücks am 25. Mai 2022 als Eröffnungsvortrag der gleichnamigen Ringvorlesung an der Universität Kassel gehalten hat.
[1] Dieser Abschnitt stützt sich vor allem auf einen erhellenden Aufsatz des russischen Ökonomen Vladislav Inozemtsev. Einige Passagen sind wörtlich übernommen: Russia, The Last Colonial Empire. The American Interest, https://www.the-american-interest.com/2017/06/29/russia-last-colonial-empire/
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