Die langen Linien des rus­si­schen Imperialismus

Der Über­fall auf die Ukraine hat den Blick auf Russ­land ver­än­dert. Fast über Nacht werden die langen Linien des rus­si­schen Impe­ria­lis­mus sicht­bar – und mit ihnen die Zen­tral­stel­lung der Ukraine als Kron­ju­wel des rus­si­schen Imperiums.

Von den langen Linien des rus­si­schen Impe­ria­lis­mus zu spre­chen, mar­kiert einen Per­spek­ti­ven­wech­sel in der neueren deut­schen Debatte. Wenn bislang von Impe­ria­lis­mus die Rede war, galt dieser Begriff fast aus­schließ­lich den west­li­chen Mächten, die sich seit dem 16. Jahr­hun­dert weite Teile des Globus unter­tan gemacht hatten. Die Kolo­ni­sie­rung Nord- und Süd­ame­ri­kas, Asiens und Afrikas mar­kierte die erste Phase dieser impe­ria­len Expan­sion. Sie wurde nach dem 2. Welt­krieg abge­löst durch eine neue Form wirt­schaft­li­cher und mili­tä­ri­scher Domi­nanz, die vor allem von den USA reprä­sen­tiert wurde. Impe­riale Vor­herr­schaft löste sich vom klas­si­schen Kolonialsystem. 

Portrait von Ralf Fücks

Ralf Fücks ist geschäfts­füh­ren­der Gesell­schaf­ter des Zen­trums Libe­rale Moderne.

In der Stu­den­ten­be­we­gung und der poli­ti­schen Linken war „Impe­ria­lis­mus“ weit­ge­hend synonym mit „US-Impe­ria­lis­mus“, während die Sowjet­union sich als „anti­im­pe­ria­lis­ti­sche Macht“ in Szene setzte und natio­nale Befrei­ungs­be­we­gun­gen im glo­ba­len Süden unter­stützte. Dass die UdSSR zugleich alle Frei­heits- und Unab­hän­gig­keits­be­we­gun­gen im eigenen Macht­be­reich nie­der­schlug, wurde merk­wür­di­ger­weise nicht als kom­ple­men­täre Form impe­ria­ler Herr­schaft wahrgenommen.

Impe­rien im Sinne von macht­vol­len, ter­ri­to­rial weit über die Zen­tral­macht hinaus aus­ge­dehn­ten Reichen gab es bereits in frü­he­ren geschicht­li­chen Peri­oden. Auch sie beruh­ten auf mili­tä­ri­scher Erobe­rungs­po­li­tik und zen­tra­li­sier­ter Herr­schaft. Aber „Impe­ria­lis­mus“ ist eine Kate­go­rie der Neuzeit. Kolo­ni­al­po­li­tik ist eine Form des Impe­ria­lis­mus, aber der Impe­ria­lis­mus als expan­sive Form poli­ti­scher und öko­no­mi­scher Herr­schaft endete nicht mit der Deko­lo­nia­li­sie­rung, die nach dem 2. Welt­krieg einsetzte.

Der Über­fall auf die Ukraine hat den Blick auf Russ­land verändert

Putins Ukraine-Obses­sion ist keine per­sön­li­che Marotte. Die Ukraine war über Jahr­hun­derte das Objekt rus­si­scher Begierde – als his­to­ri­scher Aus­gangs­punkt rus­si­scher Staats­wer­dung, als Korn­kam­mer, Tor zu Mit­tel­eu­ropa und später auch als indus­tri­elle Herz­kam­mer der Sowjetunion.

Auch unter Stalin war die Herr­schaft über die Ukraine ein zen­tra­ler Impe­ra­tiv sowje­ti­scher Macht­si­che­rung. So löste der sowje­ti­sche Dik­ta­tor mittels erhöh­ter Getrei­de­be­schaf­fungs­an­ord­nun­gen 1932–33 die als Holo­do­mor bekannt gewor­dene Hun­gers­not aus, um dem „ukrai­ni­schen Natio­na­lis­mus“ das Rück­grat zu brechen.

Auch im 2. Welt­krieg war die Ukraine ein zen­tra­ler Schau­platz des Kampfs zwi­schen dem Deut­schen Reich und der UdSSR. Hitler wollte die Ukraine als Brot­korb, Sied­lungs­raum und Rekru­tie­rungs­feld für sla­wi­sche Zwangs­ar­bei­ter, Stalin brauchte die Ukraine als west­li­ches Vorfeld der Sowjetunion.

Putins geschichts­po­li­ti­scher Traktat vom Juli 2021 mit dem Titel „Über die his­to­ri­sche Einheit der Russen und Ukrai­ner“ war bereits die Ankün­di­gung dessen, was kommen würde. Im Kern bestrei­tet er darin die Exis­tenz­be­rech­ti­gung der Ukraine als eigen­stän­dige Nation. Der Text ist eine unver­hüllte Drohung, dass der Kreml nicht dulden wird, dass die Ukraine sich aus dem rus­si­schen Orbit ent­fernt und Teil der west­li­chen Welt wird. Es gab schon damals genü­gend Stimmen, die das als ideo­lo­gi­sche Kriegs­vor­be­rei­tung ver­stan­den – dum­mer­weise wollte sie in Berlin und anderen west­li­chen Haupt­städ­ten niemand hören.


I Russ­lands kolo­niale Geschichte[1]

Russ­lands kolo­niale Geschichte war alles andere als „fried­lich“ und „ein­ver­nehm­lich“, wie gern von rus­si­schen His­to­ri­kern behaup­tet wird. Das war sie ganz und gar nicht. Sie war nicht weniger krie­ge­risch und grausam als die kolo­niale Expan­sion der euro­päi­schen Mächte. Dennoch gibt es signi­fi­kante Unter­schiede. Dies wird deut­lich, wenn wir die drei Epochen der Kolo­ni­sie­rung betrachten.

Die erste Epoche erstreckte sich über das 11. bis 14. Jahr­hun­dert. Zwi­schen 1000 und 1150 n. Chr. grün­de­ten junge Fürsten der Kiewer Rus‘ die Städte, die später zu den Anker­punk­ten rus­si­scher Staats­bil­dung wurden – dar­un­ter auch Moskau. His­to­risch ist Moskau eine Kiewer Kolonie. Diese Ableger wurden mäch­ti­ger, als die Kiewer Metro­pole auf­grund von dynas­ti­schen Strei­tig­kei­ten unter­ging. In den Jahren um 1230 war dieser Teil des spä­te­ren Russ­land bereits größer als jeder andere euro­päi­sche Staat mit Aus­nahme des Hei­li­gen Römi­schen Reiches.

Um 1240 gerie­ten die ost­sla­wi­schen Fürs­ten­tü­mer unter die Herr­schaft der Mon­go­len. Das Groß­fürs­ten­tum Moskau wurde zum Nukleus einer neuen Staat­lich­keit, ver­ei­nigte im 14./15. Jahr­hun­dert die übrigen Teil­fürs­ten­tü­mer unter seiner Führung und konnte sich 1480 von der Mon­go­len­herr­schaft befreien. Damit begann eine neue Phase kolo­nia­ler Expansion.

Als die Euro­päer zu Beginn des 16. Jahr­hun­derts ihre Expe­di­tio­nen nach Übersee began­nen, setzten die Mos­ko­wi­ter ihre Erobe­run­gen nach Norden und Osten fort. Bis 1610 waren bis zum Fluss Jenis­sej in Sibi­rien vor­ge­drun­gen, und Mitte des 17. Jahr­hun­derts näher­ten sie sich der Grenze zu China. 1689 hatten sie den gesam­ten Nord­os­ten Eura­si­ens bis zur Bering­straße erobert.

Die ersten sibi­ri­schen Städte wurden fast zeit­gleich mit der bri­ti­schen Kolo­ni­sie­rung Nord­ame­ri­kas gegrün­det: Tomsk (1604) und Kras­no­jarsk (1628) ent­stan­den par­al­lel zu Jame­s­town (1607), New York (1624) und Boston (1630). Rus­sisch-Sibi­rien war die gleiche Art von Sied­ler­ko­lo­nie wie Neu­eng­land, Québec, Aus­tra­lien und Neu­see­land, alles Gebiete, die wir als Aus­grün­dun­gen ihrer Mut­ter­län­der bezeich­nen könnten, da die Kolo­nis­ten die ein­hei­mi­sche Bevöl­ke­rung zah­len­mä­ßig weit über­tra­fen. Ein großer Teil der indi­ge­nen Bevöl­ke­rung wurde hier wie dort aus­ge­rot­tet; wenn ein lokaler Stamm rebel­lierte, töteten die rus­si­schen Kolo­ni­al­trup­pen bis zur Hälfte der Bevölkerung.

Gemes­sen an seiner ter­ri­to­ria­len Größe und his­to­ri­schen Dauer war das Rus­si­sche Reich das erfolg­reichste aller his­to­ri­schen Impe­rien. Auf seinem Höhe­punkt erstreckte es sich über ein Sechs­tel der Land­masse der Erde. In den Grenzen des Zaren­reichs wurden über 130 Spra­chen gespro­chen und an unter­schied­li­che Götter gebetet: Chris­ten unter­schied­li­cher Kon­fes­sio­nen (mit der Ortho­do­xie als Staats­kir­che), Muslime, Bud­dhis­ten, Juden (Ende des 19. Jahr­hun­derts lebten ca. zwei Drittel aller Juden im Rus­si­schen Reich) und Anhän­ger ani­mis­ti­scher Natur­re­li­gio­nen. Das klingt nach mul­ti­kul­tu­rel­ler Idylle, ver­deckt aber die aggres­sive Rus­si­fi­zie­rungs­po­li­tik, die bis zur ver­such­ten Aus­lö­schung der kul­tu­rel­len Iden­ti­tät von natio­na­len Min­der­hei­ten ging, deren Spra­chen und Kultur mar­gi­na­li­siert wurden.

Im Verlauf des 19. Jahr­hun­derts zeigt sich eine auf­fäl­lige Par­al­lele zwi­schen Russ­land und den anderen euro­päi­schen Kolo­ni­al­mäch­ten. Als beide ihren Vorrat an Kolo­nis­ten erschöpft hatten, ent­schie­den sie sich für eine andere Art von kolo­nia­ler Expan­sion, bei dem sie sich vor­ran­gig auf mili­tä­ri­sche Über­le­gen­heit stütz­ten. Auf diese Weise sicher­ten sie sich die Kon­trolle über riesige neue Gebiete, in denen die Erobe­rer nur eine kleine Min­der­heit der Bevöl­ke­rung stell­ten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahr­hun­derts hatten die Briten große Teile Afrikas, Indiens und Malay­sias erobert; die Fran­zo­sen kon­trol­lier­ten Indo­china, West­afrika und Teile des Nahen Ostens; die Nie­der­län­der, Por­tu­gie­sen, Belgier und Deut­schen folgten ihnen. 1885 war der Deal unter Dach und Fach, und der Vertrag von Berlin machte ihn offi­zi­ell: Die Euro­päer hatten Afrika unter sich aufgeteilt.

Zur glei­chen Zeit wandten sich auch die Russen dem Süden zu und began­nen ihre dritte Periode des Kolo­nia­lis­mus: Zwi­schen 1804 und 1810 nahm das Reich ganz Geor­gien, Abcha­sien und Arme­nien in Besitz, bis 1859 hatte es eine Reihe von Kriegen mit den nord­kau­ka­si­schen Stämmen abge­schlos­sen. Danach folgte die Erobe­rung Zentralasiens.

Die wich­tigste rus­si­sche Sied­ler­ko­lo­nie war und ist bis heute Sibi­rien. Es lie­ferte Russ­lands wert­vollste Export­gü­ter, von Pelzen, Gold und Holz bis zu Erdöl und Erdgas. Die rus­si­schen Herr­scher waren nie daran inter­es­siert, eine regio­nale Elite zu schaf­fen. Die erste sibi­ri­sche Uni­ver­si­tät wurde erst 1878 in Tomsk gegrün­det, 242 Jahre nach der Harvard Uni­ver­sity in Mas­sa­chu­setts. Fast alle großen Roh­stoff­un­ter­neh­men, die in Sibi­rien tätig sind, haben ihren Fir­men­sitz in Moskau oder St. Peters­burg, ein Groß­teil des Steu­er­auf­kom­mens fließt aus der Region ab.

Im Gegen­satz zu den ame­ri­ka­ni­schen Kolo­nien Eng­lands und Spa­ni­ens ver­suchte Sibi­rien aller­dings nie, sich von Moskau abzu­spal­ten. Die rus­si­schen Siedler blieben loyal zu Moskau. Ob Sibi­rien sich auf Dauer damit zufrie­den­ge­ben wird, eine aus­ge­beu­tete Peri­phe­rie Moskaus bleiben, ist für eine ent­schei­dende Frage für die Zukunft Russlands.

II Von der Sowjet­union zu Putins Neoimperialismus

Als Russ­land in den 1920er Jahren zur Sowjet­union wurde, mischte sich das alte impe­riale Erbe mit der neuen kom­mu­nis­ti­schen Ideo­lo­gie. Die Okto­ber­re­vo­lu­tion war – neben anderen Motiven – auch ein Gewalt­akt, um den Nie­der­gang Russ­lands auf­zu­hal­ten. Spä­tes­tens als an die Stelle der Welt­re­vo­lu­tion der „Aufbau des Sozia­lis­mus in einem Land“ trat, ging es um ein bra­chia­les Moder­ni­sie­rungs­pro­gramm von oben, um Russ­land aus einem rück­stän­di­gen Land in eine indus­tri­elle und mili­tä­ri­sche Groß­macht zu ver­wan­deln. Die bol­sche­wis­ti­sche Führung knüpfte an die impe­ria­len Tra­di­tio­nen an und schickte sich an, Zen­tral­asien zurück­zu­er­obern und die öst­li­che Ukraine wieder ein­zu­glie­dern. Die Rote Armee ver­suchte War­schau zu erobern, holte sich dabei eine blutige Nase.

Eine wich­tige Etappe in der Restau­ra­tion des eins­ti­gen rus­si­schen Reichs durch die sowje­ti­sche Führung war der Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Er führte zur Beset­zung Ost­po­lens, des west­li­chen Weiß­russ­lands, der west­li­chen Ukraine und Bes­sa­ra­bi­ens sowie zur Anne­xion der drei bal­ti­schen Staaten im Jahr 1940. Der Versuch, auch Finn­land wieder „heim ins Reich“ zu zwingen, schei­terte im Win­ter­krieg von 1939/​40.

Nach dem sieg­rei­chen Ende des 2. Welt­kriegs war die Anglie­de­rung Ost­preu­ßens die letzte Gebiets­er­wei­te­rung der Sowjet­union. Par­al­lel setzte eine neue Form impe­ria­ler Expan­sion ein: die Errich­tung von Mario­net­ten­re­pu­bli­ken in Mittel-Ost­eu­ropa bis hin zur Spal­tung Deutschlands.

Während sich die anderen euro­päi­schen Kolo­ni­al­rei­che – zum Teil in blu­ti­gen Kriegen wie in Alge­rien – auf­lös­ten, erreichte das sowje­ti­sche Impe­rium nach dem 2. Welt­krieg den Höhe­punkt seiner Macht. Doch als die sowje­ti­sche Wirt­schaft schrumpfte und poli­ti­sche Refor­men unaus­weich­lich wurden, kamen die alten natio­na­len Kon­flikte mit unge­heu­rer Wucht wieder zum Vor­schein. Sie mün­de­ten in die Auf­lö­sung der UdSSR und des War­schauer Pakts.

Der Zerfall der Sowjet­union 1991 war die Auf­lö­sung eines Impe­ri­ums durch die zen­tri­fu­ga­len Flieh­kräfte der natio­na­len Teil­re­pu­bli­ken und abhän­gi­gen Vasal­len­staa­ten. Von den War­schauer-Pakt-Staaten in Mittel-Ost­eu­ropa über die bal­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken bis zu den rus­si­schen Erobe­run­gen im Süd­kau­ka­sus und Zen­tral­asien ver­ab­schie­de­ten sich die abhän­gi­gen Natio­nen in die Unabhängigkeit.

Die Dynamik von 1989/​90 folgte einem ähn­li­chen Muster wie der Zerfall des bri­ti­schen oder fran­zö­si­schen Kolo­ni­al­reichs nach dem 2. Welt­krieg – aller­dings im Zeit­raf­fer und ver­gleichs­weise unblu­tig. Das lag nicht nur an der öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Erschöp­fung der Sowjet­macht. Par­al­lel zu den Unab­hän­gig­keits­be­stre­bun­gen der inneren und äußeren Kolo­nien zogen auch die Macht­eli­ten in Moskau die Reiß­li­nie. Es war Boris Jelzin, der der UdSSR den Todes­stoß ver­setzte. Er wollte Russ­land retten, indem er das Impe­rium aufgab.

In den abtrün­ni­gen ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken vom Bal­ti­kum bis nach Zen­tral­asien fanden sich die dort leben­den Russen plötz­lich als Min­der­heit wieder. Sie ver­lo­ren ihren Status als domi­nie­ren­des Staats­volk. Als Reak­tion darauf erfand der Kreml das Konzept einer „rus­si­schen Welt“. In den Augen Putins ist die rus­si­sche Nation über den gesam­ten post­so­wje­ti­schen Raum ver­streut und muss wie­der­ver­ei­nigt werden – wenn nicht als Rück­kehr dieser Staaten in die rus­si­sche Föde­ra­tion, dann zumin­dest in Form einer Allianz von eng mit Russ­land ver­bun­de­nen Staaten.

Deshalb auch die For­de­rung, die NATO solle sich wieder aus Mittel- und Ost­eu­ropa zurück­zie­hen: die Ost­erwei­te­rung der NATO schränkt den Zugriff Moskaus auf die Staaten in seiner rekla­mier­ten Ein­fluss­sphäre ein. Dass Putin mit dem Über­fall auf die Ukraine genau das Gegen­teil bewirkt, ist Ergeb­nis einer gro­tes­ken Fehlkalkulation.

Bei Bedarf lügen Putin und sein Außen­mi­nis­ter, ohne mit der Wimper zu zucken. Es ist dennoch ein großer Fehler, nicht ernst zu nehmen, was er sagt. Putin hat schon früh den Unter­gang der Sowjet­union als „größte geo­po­li­ti­sche Kata­stro­phe des 20. Jahr­hun­derts“ bezeich­net. Spä­tes­tens mit der Inva­sion in Geor­gien im Jahr 2008 wurde klar, dass er danach trach­tet, die groß­rus­si­sche Ein­fluss­phäre zu restaurieren.

Vor­aus­ge­gan­gen waren zwei ver­hee­rende Feld­züge gegen sepa­ra­tis­ti­sche Bestre­bun­gen in Tsche­tsche­nien, bei denen Zehn­tau­sende Zivi­lis­ten ums Leben kamen und die Haupt­stadt Grosny fast kom­plett ver­wüs­tet wurde – ein klares Signal, dass Moskau keine wei­te­ren natio­na­len Abspal­tun­gen dulden wird.

Die Trans­for­ma­tion des sowje­ti­schen Impe­ri­ums blieb in den 1990er-Jahren auf halbem Wege stecken. Der Über­gang zu einem moder­nen, demo­kra­ti­schen Natio­nal­staat ist geschei­tert. Mit der Macht­über­nahme Putins ent­wi­ckelte sich eine drei­fa­che Restau­ra­tion: von der ste­cken­ge­blie­be­nen Demo­kra­ti­sie­rung zum Auto­ri­ta­ris­mus, von halb­her­zi­gen markt­wirt­schaft­li­chen Refor­men zurück zur Staats­wirt­schaft und von einem nach Westen ori­en­tier­ten, post­im­pe­ria­len Russ­land zu einer neo­im­pe­ria­len Politik.

Der post-impe­riale Phan­tom­schmerz in Russ­land wurde über die Jahre noch stärker. Er ist der psy­cho­lo­gi­sche Reso­nanz­bo­den für einen aggres­si­ven Revan­chis­mus nach außen. Auch die innere Ver­fas­sung des rus­si­schen Staates gleicht immer noch mehr einem Kolo­ni­al­reich als einer moder­nen mul­ti­eth­ni­schen Föderation.

Gleich­zei­tig betreibt Russ­land wieder globale Macht­po­li­tik. Als Macht­mit­tel bleiben dem Kreml mangels einer attrak­ti­ven Ideo­lo­gie nur noch Kor­rup­tion, fossile Ener­gien, Des­in­for­ma­tion und Militär. Der Bom­ben­krieg in Syrien war das Exer­zier­feld für den Über­fall auf die Ukraine. Und er war ein Test auf die Stand­fes­tig­keit des Westens. Dass Amerika und Europa die Kriegs­ver­bre­chen Putins und Assads taten­los hin­ge­nom­men haben, wurde im Kreml als Ein­la­dung ver­stan­den, den nächs­ten Schritt zu gehen. Schwä­che ermu­tigt Aggression.

III Russ­land muss an der Ukraine scheitern

Jetzt also endlich das Ende der Illu­sio­nen über Putin-Russ­land als Partner des Westens. Solange das jetzige Regime an der Macht ist, zwingt es den Westen zu einer Politik der Abschre­ckung und Ein­däm­mung – mit einem Rest Hoff­nung, dass auch Russ­land nicht auf ewig in seiner impe­ria­len, mili­ta­ris­ti­schen und auto­ri­tä­ren Geschichte gefan­gen bleibt. Deshalb dürfen wir auch die Kon­takte zu den Frei­geis­tern in Wis­sen­schaft, Kultur und Zivil­ge­sell­schaft nicht abrei­ßen lassen, die noch in Russ­land über­win­tern. Hun­dert­tau­sende haben das Land seit dem 24. Februar ver­las­sen – damit schwin­den auch die Aus­sich­ten auf einen bal­di­gen Umschwung der Verhältnisse.

Es ist kaum über­trie­ben zu sagen, dass sich die Zukunft Russ­lands in der Ukraine ent­schei­det. Der Abschied vom Impe­rium wird nicht frei­wil­lig erfol­gen, noch weniger als in den euro­päi­schen Demo­kra­tien, die ihre Kolo­nien nicht frei­wil­lig räumten. Umge­kehrt gibt es wohl keinen stär­ke­ren Hebel für eine innere Wand­lung Russ­lands als eine demo­kra­ti­sche, öko­no­misch pro­spe­rie­rende und in die euro­päi­sche Gemein­schaft ein­ge­bun­dene Ukraine.  Wir sollten deshalb in unserem eigenen Inter­esse alles tun, damit der rus­si­sche Impe­ria­lis­mus an der Ukraine scheitert.

Dieser Essay basiert auf einem Vortrag, den Ralf Fücks am 25. Mai 2022 als Eröff­nungs­vor­trag der gleich­na­mi­gen Ring­vor­le­sung an der Uni­ver­si­tät Kassel gehal­ten hat.

 

[1] Dieser Abschnitt stützt sich vor allem auf einen erhel­len­den Aufsatz des rus­si­schen Öko­no­men Vla­dis­lav Ino­zemt­sev. Einige Pas­sa­gen sind wört­lich über­nom­men: Russia, The Last Colo­nial Empire. The Ame­ri­can Inte­rest, https://www.the-american-interest.com/2017/06/29/russia-last-colonial-empire/

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