Ist das russische „Agenten“-Gesetz reformierbar?
Bedenken mehrerer kremltreuer Akteure haben jüngst Hoffnungen auf eine Reform der seit 2012 immer wieder verschärften „ausländische-Agenten“-Gesetz geweckt. Aber reformierbar wäre das nur dann, wenn es ungewollte Mängel im Gesetzestext gäbe, die es auszubessern gälte. Oder wenn Behörden bei der Anwendung derart über die Stränge schlagen würden, dass auch Organisationen und Personen betroffen wären, für die das Gesetz gar nicht vorgesehen war, schreibt Fabian Burkhardt.
Sowohl hinsichtlich des Textes als auch der Anwendung erfüllt das Gesetz über „ausländische Agenten“ bisher genau den vom Inlandsgeheimdienst FSB, dem russischen Sicherheitsrat und letztendlich von Präsident Wladimir Putin avisierten Zweck als repressives Instrument: Unabhängige und regimekritische NGOs, Medien und natürliche Personen sollen als „ausländische Spione“ gebrandmarkt, rechtlich diskriminiert, von der Finanzierung innerhalb von Russland abgeschnitten und wie im Fall von Memorial zwangsliquidiert werden.
So ist offensichtlich, dass der Vorwurf der Staatsanwaltschaft gegen Memorial International und das Menschenrechtszentrum Memorial, gegen die Kennzeichnungsbestimmungen des Gesetzes über „ausländische Agenten“ verstoßen zu haben, im Kern nicht haltbar ist. Zudem wäre die vorgesehene Strafe der Auflösung der beiden NGOs selbst bei formalistischer Auslegung des Gesetzes äußerst unverhältnismäßig. Das Gesetz dient somit in einem politischen Prozess lediglich als Vorwand, um zwei der wichtigsten Organisationen der Gesellschaft Memorial den juristischen Garaus zu machen.
Die internationale Bewertung der „ausländische-Agenten“-Gesetze ist eindeutig: Die Gesetzgebung sollte am besten vollständig aufgehoben oder zumindest grundlegend revidiert werden. Zu diesem Schluss kamen im Jahr 2015 der UN-Menschenrechtsausschuss, 2014 und 2021 die Venedig-Kommission in gleich zwei Gutachten, der Menschenrechtskommissar des Europarats in Gutachten von 2015 und 2017 oder das OSZE-Büro für Demokratische Institutionen und Menschenrechte im Jahr 2020.
In Russland selbst regte sich vor allem unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen Widerstand, die vom russischen Staat in das Register als „ausländische Agenten“ eingetragen wurden. 2014 bescheinigte das russische Verfassungsgericht dem Gesetz Verfassungskonformität, und so blieb den gebrandmarkten NGOs nur noch die Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR).
Memorial spielte im innerrussischen Widerstand gegen das Gesetz in zweifacher Hinsicht eine herausragende Rolle: Zum einen legte Memorial zusammen mit 10 anderen NGOs als eine der ersten schon am 06. Februar 2013 Beschwerde beim EGMR ein und trug somit entscheidend dazu bei, mit einem möglichen Urteil des Straßburger Gerichts (das allerdings bis heute aussteht) die Grundvoraussetzung für internationalen Druck auf Russland zu schaffen, das „Ausländische-Agenten“-Gesetz rückgängig zu machen. Zweitens wurde Memorial zum Hub und übernahm Koordinationsaufgaben innerhalb der Zivilgesellschaft, um weitere Beschwerden auf den Weg zu bringen, was in der EGMR-Beschwerde ECODEFENCE and others v. Russia and 48 other applications resultierte.
Auch vor diesem Hintergrund sind die Auflösungsanträge der Staatsanwaltschaft zu lesen, denn nichts suchen autoritäre Regime mehr zu verhindern als kollektives Handeln und Mobilisierung von staatsunabhängigen Akteuren. In Russland selbst hat OWD-Info, das international vor allem durch das Monitoring von Festnahmen bei Protestaktionen bekannt geworden ist und das Memorial als zivilgesellschaftlichem Infrastrukturanbieter viel zu verdanken hat, wenige Monate, nachdem es Ende September 2021 zum „ausländischen Agenten“ deklariert wurde, bisher den ausführlichsten Bericht vorgelegt, der überzeugend darlegt, warum die Gesetzgebung für gelistete NGOs, Medien und natürliche Personen rechtlich diskriminierend ist und deswegen abgeschafft gehört. OWD-Info wäre aber nicht OWD-Info, wenn es neben dem nüchternen Bericht nicht auch eine Petition an das russische Parlament und die Menschenrechtsbeauftragte geschickt hätte, die die Abschaffung des „Ausländische-Agenten“-Gesetzes fordert und die inzwischen über 260.000 Personen unterzeichnet haben. Gleichzeitig wurde ein eigener Gesetzesentwurf ins Parlament eingebracht. Somit fordert OWD-Info nicht nur die Abschaffung des Gesetzes, sondern liefert die gesetzlichen Normen dafür gleich mit.
Auf den ersten Blick erscheint dieser Schritt naiv: Warum sollte jene Duma, die nahezu vollständig vom Kreml abhängig ist und die das Gesetz in den letzten Jahren schrittweise verschärft und ausgeweitet hat, von einem „ausländischen Agenten“ wie OWD-Info Änderungsvorschläge auch nur in Betracht ziehen?
Bei genauerem Hinsehen ist es durchaus sinnvoll, gerade jetzt einen Entwurf für eine Änderung des „Ausländische Agenten“-Gesetzes in die Duma einzubringen.
Denn im vergangenen Jahr hat sich die Kritik an dem Gesetz massiv verschärft, und zwar insbesondere aus den Reihen derer, die gewöhnlich als systemisch und regimeloyal einzustufen sind. Insofern fällt die Antwort auf die Frage, ob das „Ausländische-Agenten“-Gesetz „reformierbar“ ist, weniger eindeutig aus als die Kurzdarstellung oben vermuten lässt. Dass die internationale Gemeinschaft und russische unabhängige zivilgesellschaftliche Akteure die Gesetzgebung kritisieren, ist wenig überraschend. Dass nun verschiedene organisierte regimeloyale Berufsgruppen Änderungen einfordern, lässt weitreichende Rückschlüsse über die Funktionslogik staatlicher Repressionen im heutigen Russland zu.
Die Machtorgane setzen Repressionen eben nicht nur gegen „widerspenstige“ NGOs wie Memorial oder die politische Opposition wie Alexej Nawalny ein. Repressionen sind ein Herrschaftsinstrument, das vor allem auch gegen loyale Akteure oder gar Regimestützen eingesetzt wird, etwa gegen Ministerinnen, Gouverneure, Bürgermeisterinnen und Politiker der systemischen „Opposition“ der KPRF oder LDPR, Geschäftsleute und selbst Angehörige von Polizei, Strafverfolgung und Sicherheitsbehörden. Ist einmal ein neues Repressionsinstrument wie das „Ausländische Agenten“-Gesetz geschaffen, so bringt dies Dynamik in die Hackordnung der Repressionen: Die bürokratische Logik der Repressionen drängt auf Expansion, auch jene Berufsgruppen und Personen geraten zunehmend in Gefahr, für die das Gesetz ursprünglich gar nicht vorgesehen war. An drei Beispielen kann dies gut verdeutlicht werden:
(1) Medien. Aus Listen der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor wird ersichtlich, dass auch staatliche und staatsnahe Medien Gelder aus dem Ausland bekommen und somit unter das „Ausländische-Agenten“-Gesetz fallen würden. Hierzu gehören etwa der Propagandasender RT, die staatliche Nachrichtenagentur TASS, das zum Gazprom-Medienimperium gehörende NTV-Plus oder auch unpolitische Glamourzeitschriften. Über das Digitalministerium versuchen diese regimeloyalen Medien nun zu erwirken, dass sich die Gesetzgebung über „ausländische Agenten“ nicht auf staatlich Medien oder solche mit Staatsanteil erstrecken soll. Ein weiteres Beispiel ist das Sankt-Petersburger Onlinemedium „Rosbalt“, das im Oktober 2021 zum „ausländischen Agenten“ erklärt wurde. „Rosbalt“ ist durchaus noch als Nischen-Qualitätsmedium zu verbuchen, verfügt aber auch über enge Beziehungen weit in den Staat hinein. Gründerin und Direktorin von „Rosbalt“ ist Natalja Tscherkesowa, die Frau von Wiktor Tscherkessow, der in den 2000er Jahren zu einem der mächtigsten Putin-Vertrauten gehörte und der, obwohl er im letzten Jahrzehnt in Ungnade gefallen ist, noch immer in der Elite gut vernetzt ist. Zudem gehören der börsennotierten milliardenschweren „AFK Sistema“ (Wladimir Jewtuschenkow) über einen Offshore Anteile an „Rosbalt“.
Infolgedessen wurde im Sankt Petersburger Regionalparlament eine Arbeitsgruppe eingerichtet, in der alle Parlamentsfraktionen (also auch Einiges Russland) sowie Journalisten vertreten waren, um Änderungsvorschläge für das „Agenten“-Gesetz zu erarbeiten. Wenig verwunderlich ist es deswegen, dass die sonst handzahme „Union der Journalisten Russlands“ über die Duma-Fraktion von „Gerechtes Russland“ im November ebenfalls einen Änderungsentwurf in die Duma einbrachte.
(2) Rechtsanwälte. Bisher wurden seit November 2021 insgesamt fünf Juristinnen und Juristen als „ausländische Agenten“ gelistet, mit Iwan Pawlow und Walerija Wetoschkina haben zwei der fünf eine Anwaltslizenz, Pawlow ist sogar Mitglied der Sankt-Petersburger Anwaltskammer. Zwar ist davon auszugehen, dass Pawlow als Strafverteidiger Alexej Nawalnys und als jemand, der sich mit heiklen, den FSB betreffenden Themen wie Staatsverrat befasst, aus politischen Gründen verfolgt wird. Dennoch war Pawlows Listung auch ein deutliches Warnsignal an die russische Anwaltschaft als Ganzes, da die Gesetzgebung so breit gefasst ist, dass auch Rechtsanwälte, die Klienten aus dem Ausland betreuen oder aus dem Ausland Honorare beziehen, als „ausländische Agenten“ eingestuft werden müssten. Die russische Anwaltschaft ist gut organisiert und zu kollektivem Handeln fähig, sie ist insbesondere im Föderationsrat, also dem Oberhaus des Parlaments, gut vernetzt. Obwohl die Föderale Anwaltskammer insgesamt als loyal gilt, hat auch hier die „Agenten“-Gesetzgebung für sichtlichen Unmut gesorgt.
(3) Wohltätigkeitsorganisationen. Dass auch gemeinnützige Stiftungen als „ausländische Agenten“ gelistet werden können, zeigen die Themen HIV, LGBTQ+ oder häusliche Gewalt, die in Russland politisch heikel sind. Allerdings wird aus einem Brief, den Vorsitzende von Wohltätigkeitsorganisationen Ende Oktober an Wladimir Putin richteten, ersichtlich, dass sich die Wohltätigkeitsbranche insgesamt in Gefahr wähnt. Zu den Unterzeichnern gehören regimeloyale und in der Moskauer Elite bestens verankerte Personen wie die Schauspielerinnen Tschulpan Chamatowa und Xenia Rappoport oder der Leiter des Tschechow-Kunsttheaters, Konstantin Chabenski. Es ist wohl kein Zufall, dass die Charity-Elite den offenen Brief kurz nach dem Waldaj-Forum veröffentlichte, bei dem Friedensnobelträger und Nowaja-Gaseta-Chefredakteur Dmitri Muratow die Reformbedürftigkeit des Agenten-Gesetzes ansprach. Aus Putins Reaktion wurde aber schnell ersichtlich, dass der russische Präsident die Gesetzgebung grundsätzlich für sinnvoll und notwendig hält, vereinzelt aber „Nachbesserungen“ nicht ausschließt, etwa um staatlich gepäppelte Wohltätigkeitsorganisation abzusichern.
Der Antrag der Staatsanwaltschaften auf Auflösung von Memorial International und des Menschenrechtszentrums Memorial fällt also in ein Zeitfenster, in dem zahlreiche systemische Akteure versuchen, das „Ausländische-Agenten“-Gesetz durch Änderungen zu ihren Gunsten abzuschwächen. Denn die Gesetzgebung droht, wie ein Krebsgeschwür in das Regime hineinzuwirken.
Allerdings melden sich auch die Sprachrohre der Sicherheitsorgane zu Wort: Aus dem Föderationsrat war schon zu hören, dass nicht nur eine Abschwächung, sondern auch eine Verschärfung des Gesetzes diskutiert werde. Für Memorial, die unabhängige Zivilgesellschaft, kritische Medien und für Privatpersonen muss das Zeitfenster also nicht unbedingt ein Hoffnungsschimmer sein. Wenn überhaupt, sind nur kosmetische Nachbesserungen zu erwarten, die auf bestimmte systemische Lobbygruppen ausgerichtet sind.
Entscheidend für die russische Zivilgesellschaft wird sein, inwieweit sie sich trotz des repressiver werdenden Regimes – zur Not auch ohne juristischen Status – weiterhin horizontal vernetzen und kollektiv agieren kann. Denn früher oder später wird sich ein wirkliches Zeitfenster für Veränderungen öffnen.
Dieser Beitrag ist ebenfalls in der Ausgabe Nr. 411 der Russland-Analysen erschienen.
Dr. Fabian Burkhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg und forscht zu autoritären Regimen im postsowjetischen Raum mit Schwerpunkt Russland und Belarus. Er ist Redakteur der Zeitschrift Russland-Analysen und Redaktionsmitglied von Riddle Russia.
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