Zehn fatale Irr­tü­mer des Westens über Russland

Quelle: Rob Walsh/​Unsplash

Früher galt es als exzen­trisch, sich um die rus­si­sche Außen­po­li­tik zu sorgen. Mitt­ler­weile ist es Main­stream. Doch noch immer gibt es Miss­ver­ständ­nisse, die eine adäquate Antwort des Westens auf die revi­sio­nis­ti­sche Politik des Kremls ver­hin­dern, meint Edward Lucas vom Center for Euro­pean Policy Ana­ly­sis. Dies sind zehn dieser Irrtümer:

  • „Russ­land bedroht uns nur mili­tä­risch.“ Ja, in der Ukraine herrscht Krieg, und ja, unsere Präsenz in den bal­ti­schen Staaten muss weiter ver­stärkt werden. Ja, die moder­nen rus­si­schen Waffen sind mit­un­ter beein­dru­ckend (zumin­dest als Pro­to­ty­pen). Jedoch ist Russ­land keine mili­tä­ri­sche Super­macht nach sowje­ti­schem Muster und würde einen voll­um­fäng­li­chen Krieg gegen den Westen nicht durch­ste­hen. Die mili­tä­ri­schen Täu­schungs­ma­nö­ver und Ein­schüch­te­rungs­ver­su­che sind ernst zu nehmen. Sie sind aber ledig­lich Teil eines sehr viel grö­ße­ren hybri­den Kriegsinstrumentariums.
  • „Russ­land ist ein neues Problem.” Neu ist das Problem nur für die­je­ni­gen, die dem Thema bisher keine Beach­tung geschenkt haben. Die Sowjet­union hat den Weg für poli­ti­sche Kriegs­füh­rung geebnet. Das neo­ko­lo­nia­lis­ti­sche Tyran­ni­sie­ren der Nach­barn durch Russ­land stammt aus einer Zeit vor Vla­di­mir Putin. Fragen Sie die Balten, Geor­gier, Mol­dauer und Ukrai­ner. Sie und andere haben den Westen bereits in den 1990er Jahren gewarnt – doch wir haben ihnen nicht zugehört.
  • “Das Problem sind die ‘fake news’.” Dieser hoch­gra­dig nutz­lose Begriff steht heute nur noch für “Medi­en­be­richt­erstat­tung, die mir nicht gefällt”. Außer­dem gehören die Infor­ma­ti­ons­ak­ti­vi­tä­ten ledig­lich zum sicht­ba­ren Teil des Kreml-Arse­nals. Die Dinge, die wir nicht sehen können, sind um ein Viel­fa­ches besorgniserregender.
  • “Alles ist unsre Schuld.” Das Denken des Westens wird noch immer von mora­li­scher Gleich­ma­che­rei heim­ge­sucht. Die rus­si­schen Tak­ti­ken seien auch nicht schlim­mer als das, was die west­li­chen Staaten in der Ver­gan­gen­heit getan hätten, heißt es. Ein wei­te­res Argu­ment: Wir hätten den Kreml durch die Erwei­te­rung der NATO und EU pro­vo­ziert. In beiden Fällen handelt es sich um Irr­tü­mer. In Wahr­heit ver­tei­di­gen wir eine inter­na­tio­nale Rechts­ord­nung, die seit 1991 besteht und den Schwa­chen gegen­über den Starken Rechts­ga­ran­tien ein­räumt. Russ­land will sie durch das Recht des Stär­ke­ren erset­zen. Mit­nich­ten war die Auf­nahme neuer Mit­glie­der sowohl in die NATO als auch in die EU Teil eines quasi-impe­ria­len Pro­jekts. Sie wurden auf­ge­nom­men, weil vormals unfreie Natio­nen an die Tür häm­mer­ten und um Ein­tritt baten. Nicht zuletzt, weil sie vor­aus­ge­se­hen haben, was Russ­land plant.
  • “Die Aggres­sion richtet sich nur gegen die USA.” Erstaun­li­cher­weise ist beson­ders in der ame­ri­ka­ni­schen Dis­kus­sion Selbst­be­zo­gen­heit weit ver­brei­tet – sowohl bei denen, die die Ein­mi­schung Russ­lands über­be­wer­ten, als auch bei denen, die sie abtun. Dabei hat Russ­land seine Tak­ti­ken bereits in Dut­zen­den Ländern ange­wen­det. Ame­ri­ka­ner und Euro­päer können aus diesen Erfah­run­gen nütz­li­che Lehren ziehen.
  • “Putin ist schuld.” Der rus­si­sche Prä­si­dent ist nur das Symptom der Pro­bleme mit Russ­land, nicht deren Ursache. Genauso wie das impe­ria­lis­ti­sche Denken hat die xeno­phobe Klep­to­kra­tie tiefe Wurzeln. Beides hat es vor Putin gegeben und wird es auch nach ihm geben.
  • „Putin ist über­mäch­tig.” Die Dämo­ni­sie­rung Putins ist genauso ein Fehler wie die Über­be­wer­tung seines Ein­flus­ses. Russ­land ist wesent­lich ein schwa­ches und rück­stän­di­ges Land, das mit dem Westen nicht kon­kur­rie­ren kann. Unser Problem besteht nicht darin, dass uns die Mittel fehlen, sondern darin, dass es uns an Koor­di­na­tion und Wil­lens­kraft mangelt. Das ließe sich ändern – wenn wir es denn wollen.
  • „Wir haben’s beinah über­stan­den.” Ja, langsam wacht der Westen auf. Und ja, Russ­land ist dabei, in finan­zi­elle und andere Schwie­rig­kei­ten zu geraten. Ja, das Regime steht vor inneren Zer­würf­nis­sen und Her­aus­for­de­run­gen. Aber es wäre eine fahr­läs­sige Selbst­ge­fäl­lig­keit, jetzt schon den Sieg zu verkünden.
  • “Russ­land ist nach­ran­gig”. Ja, lang­fris­tig ist China der sehr viel größere und besorg­nis­er­re­gen­dere Gegen­spie­ler. Aber die Schwach­stel­len unserer Gesell­schaft, die Russ­land heute bereits aus­nutzt, könnten eines Tages auch von der kom­mu­nis­ti­schen Füh­rungs­cli­que in Peking aus­ge­schlach­tet werden. Wenn unser tief ver­wur­zel­tes trans­at­lan­ti­sches Bündnis in Europa nicht bestehen kann, welche Chance hätten wir dann, in Ost­asien die Geschlos­sen­heit des Westens zu bewahren?
  • “Abschre­ckung reicht aus”. Es ist ver­lo­ckend, alle Anstren­gun­gen auf Sank­tio­nen und andere Maß­nah­men der Ein­däm­mung zu ver­le­gen. Aber die Emp­fäng­lich­keit unserer Gesell­schaft für dre­cki­ges Geld, Ban­den­kri­mi­na­li­tät, Infor­ma­ti­ons­an­griffe, spal­te­ri­sche Tak­ti­ken und Unter­wan­de­rung werden fort­be­stehen. Unsere Abschre­ckungs­maß­nah­men aus­zu­bauen, ist eine not­wen­dige, aber nicht hin­rei­chende Vor­aus­set­zung, um zu über­le­ben. Wir sollten viel­mehr auch eigenen Schwä­chen angehen.

 

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