Zehn fatale Irrtümer des Westens über Russland
Früher galt es als exzentrisch, sich um die russische Außenpolitik zu sorgen. Mittlerweile ist es Mainstream. Doch noch immer gibt es Missverständnisse, die eine adäquate Antwort des Westens auf die revisionistische Politik des Kremls verhindern, meint Edward Lucas vom Center for European Policy Analysis. Dies sind zehn dieser Irrtümer:
- „Russland bedroht uns nur militärisch.“ Ja, in der Ukraine herrscht Krieg, und ja, unsere Präsenz in den baltischen Staaten muss weiter verstärkt werden. Ja, die modernen russischen Waffen sind mitunter beeindruckend (zumindest als Prototypen). Jedoch ist Russland keine militärische Supermacht nach sowjetischem Muster und würde einen vollumfänglichen Krieg gegen den Westen nicht durchstehen. Die militärischen Täuschungsmanöver und Einschüchterungsversuche sind ernst zu nehmen. Sie sind aber lediglich Teil eines sehr viel größeren hybriden Kriegsinstrumentariums.
- „Russland ist ein neues Problem.” Neu ist das Problem nur für diejenigen, die dem Thema bisher keine Beachtung geschenkt haben. Die Sowjetunion hat den Weg für politische Kriegsführung geebnet. Das neokolonialistische Tyrannisieren der Nachbarn durch Russland stammt aus einer Zeit vor Vladimir Putin. Fragen Sie die Balten, Georgier, Moldauer und Ukrainer. Sie und andere haben den Westen bereits in den 1990er Jahren gewarnt – doch wir haben ihnen nicht zugehört.
- “Das Problem sind die ‘fake news’.” Dieser hochgradig nutzlose Begriff steht heute nur noch für “Medienberichterstattung, die mir nicht gefällt”. Außerdem gehören die Informationsaktivitäten lediglich zum sichtbaren Teil des Kreml-Arsenals. Die Dinge, die wir nicht sehen können, sind um ein Vielfaches besorgniserregender.
- “Alles ist unsre Schuld.” Das Denken des Westens wird noch immer von moralischer Gleichmacherei heimgesucht. Die russischen Taktiken seien auch nicht schlimmer als das, was die westlichen Staaten in der Vergangenheit getan hätten, heißt es. Ein weiteres Argument: Wir hätten den Kreml durch die Erweiterung der NATO und EU provoziert. In beiden Fällen handelt es sich um Irrtümer. In Wahrheit verteidigen wir eine internationale Rechtsordnung, die seit 1991 besteht und den Schwachen gegenüber den Starken Rechtsgarantien einräumt. Russland will sie durch das Recht des Stärkeren ersetzen. Mitnichten war die Aufnahme neuer Mitglieder sowohl in die NATO als auch in die EU Teil eines quasi-imperialen Projekts. Sie wurden aufgenommen, weil vormals unfreie Nationen an die Tür hämmerten und um Eintritt baten. Nicht zuletzt, weil sie vorausgesehen haben, was Russland plant.
- “Die Aggression richtet sich nur gegen die USA.” Erstaunlicherweise ist besonders in der amerikanischen Diskussion Selbstbezogenheit weit verbreitet – sowohl bei denen, die die Einmischung Russlands überbewerten, als auch bei denen, die sie abtun. Dabei hat Russland seine Taktiken bereits in Dutzenden Ländern angewendet. Amerikaner und Europäer können aus diesen Erfahrungen nützliche Lehren ziehen.
- “Putin ist schuld.” Der russische Präsident ist nur das Symptom der Probleme mit Russland, nicht deren Ursache. Genauso wie das imperialistische Denken hat die xenophobe Kleptokratie tiefe Wurzeln. Beides hat es vor Putin gegeben und wird es auch nach ihm geben.
- „Putin ist übermächtig.” Die Dämonisierung Putins ist genauso ein Fehler wie die Überbewertung seines Einflusses. Russland ist wesentlich ein schwaches und rückständiges Land, das mit dem Westen nicht konkurrieren kann. Unser Problem besteht nicht darin, dass uns die Mittel fehlen, sondern darin, dass es uns an Koordination und Willenskraft mangelt. Das ließe sich ändern – wenn wir es denn wollen.
- „Wir haben’s beinah überstanden.” Ja, langsam wacht der Westen auf. Und ja, Russland ist dabei, in finanzielle und andere Schwierigkeiten zu geraten. Ja, das Regime steht vor inneren Zerwürfnissen und Herausforderungen. Aber es wäre eine fahrlässige Selbstgefälligkeit, jetzt schon den Sieg zu verkünden.
- “Russland ist nachrangig”. Ja, langfristig ist China der sehr viel größere und besorgniserregendere Gegenspieler. Aber die Schwachstellen unserer Gesellschaft, die Russland heute bereits ausnutzt, könnten eines Tages auch von der kommunistischen Führungsclique in Peking ausgeschlachtet werden. Wenn unser tief verwurzeltes transatlantisches Bündnis in Europa nicht bestehen kann, welche Chance hätten wir dann, in Ostasien die Geschlossenheit des Westens zu bewahren?
- “Abschreckung reicht aus”. Es ist verlockend, alle Anstrengungen auf Sanktionen und andere Maßnahmen der Eindämmung zu verlegen. Aber die Empfänglichkeit unserer Gesellschaft für dreckiges Geld, Bandenkriminalität, Informationsangriffe, spalterische Taktiken und Unterwanderung werden fortbestehen. Unsere Abschreckungsmaßnahmen auszubauen, ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, um zu überleben. Wir sollten vielmehr auch eigenen Schwächen angehen.
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