Sowjetnostalgie und Großmachtanspruch
Vorwärts in die Vergangenheit – Wie Putin sich die Welt vorstellt.
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Es kommt nicht oft vor, dass ein Staatspräsident eine amtliche Lesart der Geschichte verkündet. Vladimir Putin hat das zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs getan. Sein geschichtspolitisches Manifest will die „wahren Lehren“ aus der großen Völkerschlacht ziehen. Wer verstehen will, wie Putin tickt und worauf er hinaus will, sollte den Text aufmerksam lesen. Er ist ein Dokument des historischen Revisionismus und der alt-neuen Großmachtambitionen des Kremls.
Putin fordert nichts weniger als die Rückkehr zum Mächtekonzert am Ende des 2. Weltkriegs. Sein Bezugspunkt ist 1945, nicht 1990, also nicht die europäische Friedensordnung, die aus dem Kollaps des sowjetischen Imperiums hervorging, sondern die Verständigung der Siegermächte über die Nachkriegsordnung. Putin beschwört den Geist von Teheran, Yalta und Potsdam, als sich Stalin, Roosevelt und Churchill über die Weltkarte beugten. Die Helsinki-Prinzipien von 1975 und die Pariser Charta für ein neues Europa von 1990 werden mit keiner Silbe erwähnt. Das ist keine Petitesse. Im Pariser Abkommen verpflichteten sich 32 europäische Staaten, darunter auch die Sowjetunion, gemeinsam mit den USA und Kanada auf die Demokratie als gültige Regierungsform und auf die Achtung der Menschenrechte. Das künftige Europa sollte auf Gewaltverzicht und Kooperation, gemeinsamer Sicherheit und gleicher Souveränität aller Staaten aufbauen. Auch Russland schloss sich dem Abkommen an.
Diese Leitwerte, die sich auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspiegeln, sind für Putin nicht mehr relevant. Auch das Völkerrecht zählt für ihn nicht zu den Lehren von 1945. Kern der Vereinten Nationen ist für den russischen Präsidenten der Sicherheitsrat mit dem Vetorecht der ehemaligen Siegermächte, das er nachdrücklich verteidigt. Darin steckt der Anspruch, dass die großen Konfliktfragen der internationalen Politik nicht ohne und gegen Russland entschieden werden dürfen.
Putin reklamiert für Russland in aller Klarheit die Rolle, die einst die Sowjetunion spielte. Es war keine bloße Nostalgie, als er ihren Zerfall als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Sein Ehrgeiz ist es, diesen Machtverlust so weit wie irgend möglich wettzumachen. Für ihn ist die russische Föderation nicht nur Rechtsnachfolger der UdSSR, sondern ihr legitimer politischer Erbe. Er reklamiert die Rückkehr Russlands in den Kreis der Mächte, die das Geschick Europas und der Welt lenken. Sie rivalisieren miteinander und begrenzen zugleich ihre Rivalität, indem sie ihre wechselseitigen Interessen und Einflußsphären respektieren. Die EU kommt in diesem neuen Direktorium übrigens nicht vor. Es geht ihm um Augenhöhe mit Washington und Peking.
Putin begründet den Großmacht-Anspruch Russlands mit dem entscheidenden Beitrag der UdSSR im Kampf gegen den Hitlerfaschismus. Ja, Briten und Amerikaner hatten auch ihre Verdienste, das räumt er großzügig ein, aber die größten Opfer und die entscheidenden Siege gebühren der Sowjetunion. Der „Große Vaterländische Krieg“ ist die zentrale Legitimationsquelle des Regimes nach innen und außen. Eine andere gibt es nicht. Der Kommunismus ist diskreditiert, die Ökonomie stagniert. Russland hat heute wenig anderes vorzuweisen als Öl, Gas und seine militärische Stärke. Der Stolz auf die opferreichen Siege der Roten Armee ist Balsam für die gekränkte russische Seele.
Auf diese nationale Erzählung darf kein kritisches Licht fallen. Folgerichtig verteidigt Putin den Hitler-Stalin-Pakt ebenso wie die Annexion der baltischen Staaten. Für ihn liegt die Verantwortung für den zweiten Weltkrieg ausschließlich bei den Westmächten und ihrer Appeasement-Politik gegenüber Hitler. Ein Bündnis der Sowjetunion mit England und Frankreich sei von Polen hintertrieben worden. Deshalb habe Stalin keine andere Wahl gehabt, als einen Pakt mit dem Teufel zu schließen. Den Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen und die Westverschiebung der sowjetischen Grenzen rechtfertigt Putin als rein defensive Operation, um die Wehrmacht so weit wie möglich von Moskau fernzuhalten.
Dass die Sowjetunion über Nacht alle antifaschistische Propaganda einstellte, die Westmächte als Kriegstreiber beschuldigte und bis in den Juni 1941 kriegswichtige Rohstoffe an das Dritte Reich lieferte, fällt ebenso unter den Tisch wie das Massaker von Katyn und die Deportationen in den baltischen Republiken. Auch die Besetzung der mittel-osteuropäischen Staaten durch die Rote Armee gilt Putin allein als Akt der Befreiung. Dass die Befreiung von der NS-Tyrannei in ein neues System der Unterdrückung mündete, will er nicht zugestehen. Putins historischer Ausflug entpuppt sich als imperiale Geschichtsschreibung.
Auf den Ruhm der russischen Waffen lässt er nichts kommen. Nebenbei rechtfertigt er auch die blutigen Tschetschenienkriege wie den Bombenkrieg in Syrien als „Kampf gegen den internationalen Terrorismus“. Den unerklärten Krieg gegen die Ukraine verklärt er als Widerstand gegen „Neonazis und Bandera-Nachfolger“. Zynischer geht’s kaum.
Putins Angebot eines neuen Arrangements zwischen den Großmächten ist vergiftet. Es ist ein Spaltpilz für die Europäische Union wie für die NATO, und es ist ein Rückfall hinter eine normative Ordnung. In Europa scheint vor allem der französische Präsident anfällig für Putins Offerten. Frankreich als Mitspieler im Konzert der Großen – auch das ist gefährliche Nostalgie. Macron hat bereits einen strategischen Dialog mit Moskau eröffnet und träumt von einem „Europa von Lissabon bis Wladiwostok.“ Dass er Europa aus dem transatlantischen Bündnis lösen möchte, ist kein Geheimnis. Putin gefällt das sehr. Wir sollten uns keinen Illusionen über eine europäische Autonomie hingeben: Ohne Rückbindung an Amerika rutscht Europa noch stärker in das Gravitationsfeld des Kremls.
Bei Putins Vorstoß für ein neues Yalta geht es auch um die Zukunft der Ukraine, Georgiens, Moldawiens, Weißrusslands: Sollen sie wieder zu Satelliten des Kremls werden oder bleibt der Weg nach Europa offen? Billigen wir dem Kreml ein Vetorecht gegen eine europäische Integration dieser Länder zu? Hier ist jede Zweideutigkeit von Übel. Das gilt auch für die Sicherheit Polens und der baltischen Staaten. Sie kann nur durch die NATO gewährleistet werden.
Damit wir uns nicht missverstehen: Eine strategische Partnerschaft mit Russland ist sehr zu wünschen. Aber sie kann nur auf einer normativen Grundlage entstehen: wechselseitige Sicherheit und Gewaltverzicht, Anerkennung der gleichen Souveränität aller europäischen Staaten, Achtung der Menschenrechte. Das sind Prinzipien, auf die sich Russland bereits mehrfach verpflichtet hat. Solange der Kreml nicht bereit ist, auf diesen Weg zurückzukehren, braucht es eine Russland-Politik. die begrenzte Kooperation mit der Eindämmung neoimperialer Ambitionen verbindet. Dazu gehört auch eine Antwort auf die russische Aufrüstung im Bereich taktischer Atomwaffen und die Verletzung des INF-Vertrags zum Verbot von Mittelstreckenraketen. Europa darf nicht militärisch erpressbar werden.
Gleichzeitig sollten wir alles tun, um die demokratische Zivilgesellschaft Russlands zu unterstützen. Es gibt Tausende von Nichtregierungsorganisationen, die sich für Menschenrechte, Umweltschutz und soziale Anliegen einsetzen, Kampagnen gegen Korruption und Wahlbetrug, unabhängige Internetprojekte, kritische Journalistinnen, Schriftsteller und Künstler. Sie bezeugen, dass Russland nicht dazu verdammt ist, auf ewig autoritär regiert zu werden. Die Zeit des Wandels wird kommen.
Dieser Text erschien zuerst in der WELT vom 29. Juni 2020.
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