Her­aus­for­de­rung Russ­land
Ein pol­nisch-deut­sches Exper­ten­pa­pier für eine neue Russlandpolitik

von Maria Domańska, Arndt Freytag von Loring­ho­ven, Ralf Fücks, Gustav Gressel, Irene Hahn-Fuhr, Julian Hinz, Wojciech Kon­o­ńc­zuk, Robert Pszczel, Witold Rod­kie­wicz, Maria San­ni­kova-Franck, Konrad Schul­ler, Jacek Taro­ciń­ski, Iwona Wiś­niewska and Ernest Wyciszkiewicz

Russ­lands Ver­nich­tungs­krieg gegen die Ukraine ist in einer ent­schei­den­den Phase: Das rus­si­sche Militär erzielt Gelän­de­ge­winne, während die west­li­che Unter­stüt­zung der Ukraine sta­gniert. Dazu kommt die große Unsi­cher­heit über die künf­tige Politik der USA. In dieser kri­ti­schen Phase braucht es Ent­schlos­sen­heit und poli­ti­sche Führung. Gerade weil es bisher erheb­li­che Dif­fe­ren­zen zwi­schen War­schau und Berlin gab, sollten beide Länder künftig stärker zusam­men­ar­bei­ten. Das wäre ein starkes Signal für die anderen EU-Länder.

Unser LibMod-Stra­­te­­gie­­pa­­pier „Her­aus­for­de­rung Russ­land“ wurde von einer pol­­­nisch-deu­­t­­­schen Exper­ten­gruppe gemein­sam mit dem War­schauer Centre for Eastern Studies (OSW) ver­fasst. Es skiz­ziert Eck­punkte für eine künf­tige Russ­land­po­li­tik: Eine Politik der Abschre­ckung und Ein­däm­mung, wirk­same Sank­tio­nen gegen die rus­si­sche Kriegs­wirt­schaft und ein gemein­sa­mes Vor­ge­hen gegen die hybride Krieg­füh­rung des Kremls. Dring­lich ist auch eine Ver­stän­di­gung über den ange­streb­ten Ausgang des Krieges und die Essen­ti­als für eine Ver­hand­lungs­lö­sung. Statt einen Regime­wech­sel in Russ­land zu fürch­ten, sollte der Westen darauf vor­be­rei­tet sein. Nur die rus­si­sche Bevöl­ke­rung kann ihr Land ver­än­dern, aber die Politik des Westens kann Rah­men­be­dingun­gen für mehr Offen­heit und Plu­ra­lis­mus schaffen.

INHALT

Jeder Abschnitt wurde gemein­sam von einem pol­nisch-deut­schen (bzw. pol­nisch-öster­rei­chi­schen) Autoren­duo verfasst.

von Irene Hahn-Fuhr, Ralf Fücks und Wojciech Konońcuk

Witold Rod­kie­wicz und Ralf Fücks ana­ly­sie­ren die Risiken eines rus­si­schen Sieges

Ernest Wyciszkie­wicz und Konrad Schul­ler argu­men­tie­ren, dass Polen und Deutsch­land keine gemein­sa­men Ant­wor­ten auf die rus­si­sche Aggres­sion finden werden, solange Berlin nicht die Grund­an­nah­men der bis­he­ri­gen deut­schen Russ­land­po­li­tik über­denkt. Sie schla­gen kon­krete Mög­lich­kei­ten vor, wie eine gemein­same Politik in Deutsch­land poli­ti­sche Mehr­hei­ten finden kann.

Gustav Gressel und Jacek Taro­ciń­ski decken die größten Schwä­chen in Polens und Deutsch­lands mili­tä­ri­schen Fähig­kei­ten auf und skiz­zie­ren nötige Schritte zu ihrer Über­win­dung, damit Berlin und War­schau ihre mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung bei der Ver­tei­di­gung der Ukraine hoch­fah­ren können.

Robert Pszczel und Arndt Freytag von Loring­ho­ven ana­ly­sie­ren Russ­lands hybride Kriegs­füh­rung gegen den Westen und geben prak­ti­sche Emp­feh­lun­gen, wie Berlin und War­schau zusam­men­ar­bei­ten könnten, um wirksam gegen diese Aggres­sion vorzugehen.

Iwona Wiś­niewska und Julian Hinz (mit Unter­stüt­zung von Anders Åslund) zeigen, dass Sank­tio­nen tat­säch­lich die beab­sich­tig­ten Ziele errei­chen können, und geben Emp­feh­lun­gen,   wie sie noch wirk­sa­mer gestal­tet werden können.

Maria Domańska und Maria San­ni­kova-Franck unter­su­chen die innen­po­li­ti­schen Ursa­chen der rus­si­schen Aggres­si­ons­po­li­tik. Sie argu­men­tie­ren, dass Russ­land nur nach tief­grei­fen­den innen­po­li­ti­schen Ver­än­de­run­gen dau­er­haft weniger aggres­siv nach außen sein kann. Sie emp­feh­len, dass die west­li­che Politik einen poli­ti­schen Wandel unter­stüt­zen sollte und zeigen auf, wie das gehen könnte.

Ralf Fücks und Wojciech Kon­o­ńc­zuk fassen die wich­tigs­ten Hand­lungs­emp­feh­lun­gen für eine neue Russ­land­po­li­tik zusam­men, ergänzt um Emp­feh­lun­gen für das poli­ti­sche Vor­ge­hen des Westens im Ukrai­ne­krieg, welches die Zukunft Europas maß­geb­lich beein­flus­sen wird.

Autoren und Her­aus­ge­ber

WOZU DIESES PAPER?

Kann die deutsch-pol­ni­sche Zusam­men­ar­beit zur trei­ben­den Kraft für eine neue euro­päi­sche Russ­land­stra­te­gie werden? Ein starkes Tandem aus War­schau und Berlin würde den Westen mit Sicher­heit wesent­lich hand­lungs- und wider­stands­fä­hi­ger machen. Doch bisher sind Politik­ansätze unver­ein­bar. Mit Blick auf die his­to­ri­schen und poli­ti­schen Höhen und Tiefen in den deutsch-pol­ni­schen Bezie­hun­gen ist die Russ­land­po­li­tik eines der wesent­li­chen Themen, bei dem die Mei­nun­gen tra­di­tio­nell aus­ein­an­der gehen.

Doch nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Unter­schiede ist eine zwi­schen Deutsch­land und Polen abge­stimmte Russ­land­stra­te­gie uner­läss­lich. Könnten diese auf ver­schie­dene his­to­ri­sche Erfah­run­gen zurück­ge­hen­den gegen­sätz­li­chen Sicht­wei­sen in einer deutsch pol­ni­schen Russ­land­po­li­tik auf einen gemein­sa­men Nenner gebracht werden, wäre das Fun­da­ment des gemein­sa­men euro­päi­schen Hauses deut­lich gestärkt. Kurz vor Anbruch des vierten Jahres der Groß­in­va­sion Russ­lands kämpft die Ukraine ums Über­le­ben. Wenn Kyjiw noch eine Chance haben soll, den Angriff abzu­weh­ren und den Krieg zu seinen Kon­di­tio­nen zu beenden, ist eine gemein­same Stra­te­gie zweier bedeu­ten­der euro­päi­scher Unter­stüt­zer unerlässlich.

Auch wenn die Kluft zwi­schen der deut­schen und der pol­ni­schen Sicht auf Russ­land nach dem Angriff von 2022 kleiner gewor­den ist, gibt es immer noch ent­schei­dende Dif­fe­ren­zen und sogar eine gewisse Ent­frem­dung: Während Polen von Anfang an ein ent­schie­de­nes Vor­ge­hen des Westens gefor­dert hat, um eine Nie­der­lage des rus­si­schen Regimes in der Ukraine zu errei­chen, ist die deut­sche Politik bis heute wesent­lich weniger ent­schlos­sen. Im Gegen­satz zum pol­ni­schen Stand­punkt hat sich der deut­sche Bun­des­kanz­ler nie end­gül­tig dafür ent­schei­den können, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.

Die „Zei­ten­wende“, die Olaf Scholz unmit­tel­bar nach dem rus­si­schen Ein­marsch im Februar 2022 gefor­dert hatte, ist auf der Hälfte stecken geblie­ben. Die Regie­run­gen in Mittel- und Ost-europa fragen sich deshalb: Wenn wir morgen ange­grif­fen werden, wäre Deutsch­land dann willens und in der Lage, uns wirksam zu helfen?

Geo­po­li­tisch hat Polen an Gewicht gewon­nen, und dank seines reso­lu­ten Umgangs mit Russ­land kann War­schau jetzt neue Sicher­heits­part­ner­schaf­ten in der Mitte und im Norden Europas ein­ge­hen. Gemein­sam mit gleich­ge­sinn­ten Staaten in Skan­di­na­vien und im Bal­ti­kum baut Polen derzeit eine „Koali­tion der Wil­li­gen“ auf. Polen wartet den Ausgang der Bun­des­tags­wahl in Deutsch­land ab, um ein­schät­zen zu können, inwie­weit eine gemein­same Her­an­ge­hens­weise an die Russ­land­frage denkbar ist. Die EU-Prä­si­dent­schaft im ersten Halb­jahr 2025 gibt Polen zu diesem ent­schei­den­den Zeit­punkt für die Ukraine und Europa zusätz­li­chen Rückhalt.

In einer Zeit, da die Zukunft Europas ange­sichts der rus­si­schen Aggres­sion auf dem Spiel steht, sind gemein­same Anstren­gun­gen Deutsch­lands und Polens für eine neue euro­päi­sche Russ­land­po­li­tik umso wich­ti­ger. Gerade weil die Achse Paris-Berlin als Motor der westeuro­päischen Inte­gra­tion an Zug­kraft ver­lo­ren hat und damit auch die unter­schied­li­chen Inter­es­sen in einer seit 2004 um Mittel- und Ost­eu­ropa gewach­se­nen Union nicht mehr zusammen­bringen kann.

Wenn Polen und Deutsch­land trotz ihrer tief ver­wur­zel­ten Unter­schiede zu einer gemein­sa­men Russ­land­po­li­tik finden können, wäre dies ein großer Schritt für die euro­päi­sche Einig­keit. Wegen des unter­schwel­li­gen Ant­ago­nis­mus zwi­schen beiden Ländern wäre eine gemein­same pol­nisch-deut­sche Russ­land­po­li­tik auch für die übrigen Mit­glieds­staa­ten umso über­zeu­gen­der. Dabei muss der gemein­same Nenner nicht auf halbem Weg zwi­schen den unter­schied­li­chen Stand­punk­ten gefun­den werden. Für einen Neu­an­fang braucht es poli­ti­schen Willen, der auf der Erkennt­nis beruht, dass es gemein­same Inter­es­sen gibt, für die beide Seiten ein­ste­hen müssen.

Dazu soll unser Paper einen Beitrag leisten.

EINLEITUNG

WAS AUF DEM SPIEL STEHT

Der Ausgang des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieges wird die künf­tige Welt­ord­nung, ins­be­son­dere den wei­te­ren Weg Europas, bestim­men und damit viel­leicht auf Jahr­zehnte hinaus fest­le­gen, in welchen Umstän­den die Men­schen hier leben. Daher ist es in Europas urei­gens­tem Inter­esse, dass der Krieg zuguns­ten der Ukraine endet. Dass bedeu­tet, dass die Ukraine erstens ihre Unab­hän­gig­keit bewahrt, also wei­ter­hin selbst­be­stimmte Ent­schei­dun­gen nach innen und außen, etwa über einen NATO- und EU-Bei­tritt, treffen kann, und zwei­tens die Kon­trolle über Ter­ri­to­rien inner­halb ihrer inter­na­tio­nal aner­kann­ten Grenzen zurückerlangt.

Diese Ziele könnte man als „maxi­ma­lis­tisch“ abtun. Doch auf dem Spiel stehen hier nicht weniger als die Grund­prin­zi­pien des Völ­ker­rechts und der euro­päi­schen Frie­dens­ord­nung. In der Tat sind diese Ziele nur durch Unter­stüt­zung für einen mili­tä­ri­schen Sieg der Ukraine, oder zumin­dest eines Status quo, der Kyjiw eine güns­tige Ver­hand­lungs­po­si­tion sichert, zu errei­chen. Mit dem Groß­an­griff Russ­lands auf die Ukraine im Februar 2022 begann ein neues Kapitel der euro­päi­schen und sogar der Welt­ge­schichte. Darin gip­fel­ten die revi­sio­nis­ti­schen Absich­ten der Rus­si­schen Föde­ra­tion, deren Ziele bereits im Dezem­ber 2021 ein­deu­tig in den an die USA und die NATO vor­ge­leg­ten rus­si­schen Ver­trags­ent­wür­fen dar­ge­legt waren. Eine  Zustim­mung des Westens zu diesen Bedin­gun­gen würde wie nach der Kon­fe­renz von Jalta eine neue Unsi­cher­heits­ord­nung in Europa schaf­fen und den Kon­ti­nent in Ein­fluss­sphä­ren auf­tei­len, wobei die Ukraine und andere soge­nannte post­so­wje­ti­sche Staaten wieder ganz dem Kreml unter­ste­hen würden. Die Länder Mittel- und Ost­eu­ro­pas würden zu einer Puf­fer­zone im Schat­ten der mili­tä­ri­schen Über­macht Moskaus werden.

Solange der Kreml glaubt, dass ein Sieg möglich ist, sollten wir uns nicht der Illu­sion hin­ge­ben, dass ein ver­han­del­tes Kriegs­ende ohne die fak­ti­sche Unter­wer­fung der Ukraine akzep­tiert werden würde. Und solange der Westen nicht bereit ist, durch Taten zu zeigen, dass poli­ti­scher Konsens besteht, dem rus­si­schen Revi­sio­nis­mus ein Ende zu berei­ten, hat der Kreml auch alle Anreize, den Krieg so lange fort­zu­füh­ren, wie die per­so­nel­len und mate­ri­el­len Res­sour­cen aus­rei­chen. Der im Westen oft dis­ku­tierte Kom­pro­miss­vor­schlag nach dem Prinzip „Frieden für ter­ri­to­riale Zuge­ständ­nisse“ basiert auf einem grund­le­gend fal­schen Ver­ständ­nis der rus­si­schen Haupt­kriegs­ziele, nämlich Kyjiw durch Beschnei­dung seiner außen- und sicher­heits­po­li­ti­schen Rechte die Sou­ve­rä­ni­tät abzu­spre­chen (Neu­tra­li­sie­rung und Ent­mi­li­ta­ri­sie­rung) und ein for­ma­les Recht zur Ein­mi­schung in die ukrai­ni­sche Innen­po­li­tik („Ent­na­zi­fi­zie­rung“) zu erlangen.

Das wollen der rus­si­sche Macht­ha­ber Wla­di­mir Putin und sein Gefolge unbe­dingt errei­chen, weil sie einen Sieg in der Ukraine als Vor­aus­set­zung für ihr poli­ti­sches Über­le­ben betrach­ten. Sie denken, dass die Kon­trolle über Kyjiw absolut not­wen­dig ist, um die Sicher­heit ihres Regimes zu garan­tie­ren und Russ­land wieder als Groß­macht zu eta­blie­ren. Sie glauben, nicht ohne Grund, dass eine stabile und funk­tio­nie­rende Demo­kra­tie in der Ukraine ihr auto­kra­ti­sches System unter­gra­ben würde.

Immer wieder stellt Putin das Exis­tenz­recht der Ukraine als unab­hän­gi­ger Staat in Frage und behaup­tet, Russen und Ukrai­ner seien ein und das­selbe Volk. Dieser impe­ria­lis­ti­schen Logik zufolge handelt es sich also bei der hem­mungs­lo­sen Bru­ta­li­tät der rus­si­schen Kriegs­füh­rung in der Ukraine um eine Straf­maß­nahme gegen eine abtrün­nige Kolonie und gegen alle Ukrai­ner, die sich weigern, Teil der „rus­si­schen Welt“ zu sein.

Wenn man schließ­lich bedenkt, wie oft der Kreml bereits in der Ver­gan­gen­heit völ­ker­recht­li­che Abkom­men miss­ach­tet hat (etwa das Buda pester Memo­ran­dum von 1994, den Freund­schafts­ver­trag mit der Ukraine von 1997, den INF-Vertrag, das Che­mie­waf­fen­über­ein­kom­men), dann kann weder die Regie­rung in Kyjiw noch in anderen west­li­chen Haupt­städ­ten darauf ver­trauen, dass Moskau ein Abkom­men nicht wieder ver­let­zen wird, sobald es darin keinen Vorteil mehr sieht.

Daher steht im rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieg extrem viel auf dem Spiel. Ein Sieg Russ­lands hätte weit­rei­chende Folgen:

  • Er würde das Ende der ukrai­ni­schen Sou­ve­rä­ni­tät und der ukrai­ni­schen Demo­kra­tie bedeu­ten. Er würde außer­dem bedeu­ten, dass Mil­lio­nen Ukrai­ner unter rus­si­scher Besat­zung staat­li­chen Terror, zwangs­weise Entukrai­ni­sie­rung und Rus­si­fi­zie­rung erlei­den würden.
    .
  • In der ukrai­ni­schen Bevöl­ke­rung könnte ein Sieg Russ­lands eine Abkehr vom Westen zur Folge haben. Während viele sich weiter für die ukrai­ni­sche Demo­kra­tie und Unab­hän­gig­keit enga­gie­ren werden, wird es einige geben, für die der Westen die Ukraine ver­ra­ten hat. Diese anti-west­li­chen Res­sen­ti­ments würde Moskau für seine Zwecke ausnutzen.
    .
  • Eine Been­di­gung des Krieges zu Putins Bedin­gun­gen würde demo­kra­ti­sche Akteure in der gesam­ten Region ent­mu­ti­gen, die hart daran gear­bei­tet haben, durch eine Hin­wen­dung zum Westen die Unab­hän­gig­keit ihrer Länder zu stärken. Sie hätten umso mehr Angst, dass Russ­land unge­straft mili­tä­ri­schen Zwang anwen­det, sobald sie die Tole­ranz­schwel­len der Kreml-Politik übertreten.
    .
  • In der gesam­ten Region würde ein Ver­sa­gen des Westens all­ge­mein als Bestä­ti­gung der Kreml-Pro­pa­ganda gewer­tet werden, die behaup­tet, libe­rale demo­kra­ti­sche Systeme können es in puncto Sicher­heit für Bürger und Ver­bün­dete nicht mit auto­ri­tä­ren Regimen aufnehmen.
    .
  • Eine Kapi­tu­la­tion Kyjiws käme für den Kreml einem Sieg über den Westen gleich und wäre der Beweis, dass letz­te­rer nicht in der Lage ist, seine über­le­ge­nen Res­sour­cen zu mobi­li­sie­ren und zur Ver­tei­di­gung der eigenen Bevöl­ke­rung und seiner Bünd­nis­part­ner ein­zu­set­zen. Moskau würde sich ermu­tigt fühlen, den Westen zu pro­vo­zie­ren und ähn­li­che For­de­run­gen zu stellen wie im Dezem­ber 2021, als man unter anderem ver­langte, dass keine NATO-Truppen im Ter­ri­to­rium der Staaten der Ost­flanke statio­niert werden dürften. Moskau strebt eine voll­stän­dige Revi­sion der Sicher­heits­ord­nung im wie­der­ver­ei­nig­ten Europa an.
    .
  • Sollte der Ein­marsch in die Ukraine auch nur den gerings­ten Erfolg haben, wird der Kreml mit Sicher­heit seine hybri­den Angriffe auf den Westen weiter ver­stär­ken. Wenn der Kreml zu dem Schluss gelangt, dass wich­tige NATO-Staaten (ins­be­son­dere die USA, Deutsch­land und Frank­reich) nicht bereit sind, Mit­tel­eu­ropa und das Bal­ti­kum im Bünd­nis­fall nach Artikel 5 mili­tä­risch zu ver­tei­di­gen, könnte Russ­land ver­sucht sein, in die Staaten der Ost­flanke ein­zu­mar­schie­ren. Solange Russ­land an der NATO-Ost­flanke ver­hält­nis­mä­ßig über­le­gen ist, könnte sich Moskau trotz seiner mili­tä­ri­schen Unter­le­gen­heit gegen­über dem Westen zu solch einem ris­kan­ten Schritt ent­schlie­ßen. Ein Angriff an der Ost­flanke würde den Westen in ein poli­ti­sches Dilemma stürzen, da er ent­we­der einen neuen Status quo, bei dem Artikel 5 keine Bünd­nis­ga­ran­tie mehr bietet, akzep­tie­ren oder in einen direk­ten mili­tä­ri­schen Kon­flikt mit Russ­land treten müsste, bei dem tak­ti­sche Atom­waf­fen und nukleare Mit­tel­stre­cken­sys­teme zum Einsatz kommen könnten.
    .
  • Ins­ge­samt würde Moskau eine „mul­ti­po­lare“ Welt­ord­nung anstre­ben, in der Groß­mächte das Recht hätten, ihre Nach­barn durch Anwen­dung von Zwang zu „dis­zi­pli­nie­ren“, Grenzen zu ver­schie­ben und Ein­fluss­sphä­ren zu eta­blie­ren, indem sie anderen Staaten ihren Willen auf­zwin­gen und sie in ihrer Sou­ve­rä­ni­tät beschneiden.
    .
  • Global gesehen würde dies Russ­land, China und andere auto­ri­täre Staaten wie den Iran ermu­ti­gen, den Westen an allen Fronten her­aus­zu­for­dern und ihre hege­mo­niale Agenda aggres­siv vor­an­zu­trei­ben. Zwei­fels­ohne würde dann auch die chi­ne­si­sche Führung ihre Ansprü­che an Taiwan, Japan und die Phil­ip­pi­nen, viel­leicht sogar gegen Indien, stärker ein­for­dern. Damit würde sie wie­derum zusätz­lich Druck auf die USA ausüben, trotz der stei­gen­den Bedro­hung durch Russ­land ihr mili­tä­ri­sches Enga­ge­ment in Europa zurück­zu­fah­ren. Im schlimms­ten Fall wäre ein bewaff­ne­ter Kon­flikt zwi­schen China und den USA in Ost­asien ein wei­te­rer Anreiz für Russ­land, sich mit mili­tä­ri­schen Mitteln in Europa durchzusetzen.
    .
  • Ein Erfolg Russ­lands in der Ukraine könnte auch zu einer stär­ke­ren Ver­brei­tung von Atom­waf­fen führen, beson­ders in Asien. Nach einem sicht­li­chen Mangel an Ent­schlos­sen­heit und extre­mer Risi­ko­scheu seitens ihrer west­li­chen Ver­bün­de­ten ange­sichts einer Bedro­hung durch einen mäch­ti­gen Rivalen könnten Länder wie Süd­ko­rea, Japan und even­tu­ell auch andere ihre eigene Sicher­heit wieder mit dem einzig wirk­sa­men Abschre­ckungs­mit­tel, nämlich mit Atom­waf­fen, gewähr­leis­ten wollen.

Ein Sieg Russ­lands in der Ukraine wird den Frieden in Europa nicht sichern, sondern statt­des­sen die Gefahr eines viel wei­ter­rei­chen­den Krieges erhöhen. Mit einer geschla­ge­nen Ukraine würde sich auch das Trup­pen­ver­hält­nis zu Unguns­ten des Westens ändern.

Außer­halb Europas wäre eine „mul­ti­po­lare“ Welt­ord­nung mit Groß­mäch­ten extrem kon­flikt­an­fäl­lig. Weder Russ­land noch China noch andere nicht-west­li­che Mächte sind willens oder in der Lage, welt­weite Sta­bi­li­tät zu gewähr­leis­ten. Wenn es Russ­land gelingt, sich die Ukraine zum Vasal­len zu machen, werden andere Mächte das zum Zeichen nehmen, dass das Völ­ker­recht dem Faust­recht gewi­chen ist. Sie werden dem Bei­spiel folgen. Außer­dem würde eine sieg­rei­che Allianz der auto­ri­tä­ren Mächte die Unter­wan­de­rung der demo­kra­ti­schen poli­ti­schen Systeme des Westens umso schnel­ler vorantreiben.

Aus all diesen Gründen wäre es ein Fehler von his­to­ri­schem Ausmaß, wenn der Westen die Ukraine zu einer Eini­gung unter rus­si­schen Bedin­gun­gen drängen würde.

.
Der Westen an einem his­to­ri­schen Scheideweg

Für die Been­di­gung dieses Krieges gibt es nur zwei Sze­na­rien, die rea­lis­tisch und für den Westen wün­schens­wert wären. Man könnte sie „Deutsch­land, Novem­ber 1918“ und „Russ­land, Februar 1917“ nennen. Im Sze­na­rio Novem­ber 1918 würden die ukrai­ni­schen Streit­kräfte der rus­si­schen Armee derart zuset­zen, dass die Ober­kom­man­deure ein­se­hen würden, dass der Krieg ver­lo­ren ist, auch wenn rus­si­sche Truppen noch im Besitz ukrai­ni­scher Gebiete sind. Im Sze­na­rio Februar 1917 würden die kriegs­be­ding­ten sozia­len und wirt­schaft­li­chen Nöte zu einer Spal­tung der herr­schen­den Elite und einer Rebel­lion der Streit­kräfte führen, die das Putin-Regime zu Fall bringen würden. Die Vor­aus­set­zung für beide Sze­na­rien ist, dass die Ukraine mili­tä­risch in die Offen­sive gehen und rus­si­sche Sie­ges­hoff­nun­gen zer­schla­gen kann.

Von beiden Sze­na­rien sind wir im Moment weit ent­fernt. Die Unter­stüt­zung des Westens für die Ukraine wird beson­ders in Washing­ton und Berlin von zwei Ängsten beein­träch­tigt: erstens, dass Putin ange­sichts einer bevor­ste­hen­den Nie­der­lage Atom­waf­fen ein­set­zen und den Krieg auf das Ter­ri­to­rium der NATO aus­wei­ten könnte, und zwei­tens, dass der Zusam­men­bruch des Regimes in Russ­land zum Chaos in einem Staat führen könnte, in dem tau­sende nukleare Spreng­köpfe sta­tio­niert sind.

Doch die Antwort auf diese Angst vor Eska­la­tion darf nicht die Befrie­dung des Putin-Regimes auf Kosten der ukrai­ni­schen und euro­päi­schen Sicher­heit sein. Das würde das Risiko für einen direk­ten Zusam­men­stoß zwi­schen Russ­land und der NATO zu einem spä­te­ren Zeit­punkt nur erhöhen. Statt­des­sen muss der Westen den Dro­hun­gen des Kremls eine glaub­wür­dige Abschre­ckungs­po­li­tik ent­ge­gen­set­zen, die keinen Zweifel daran lässt, dass die NATO bereit ist, sich selbst und die regel­ba­sierte inter­na­tio­nale Ordnung zu ver­tei­di­gen. Schwä­che sta­chelt Putin an; Stärke schreckt ihn ab.

Mit Blick auf die weitere Ent­wick­lung in Russ­land sollte der Westen eine Stär­kung des Putin-Regimes mehr fürch­ten als ein Schei­tern. Das aktu­elle Regime ist kein Sta­bi­li­täts­fak­tor, weder nach innen noch nach außen; ganz im Gegen­teil. Der Westen sollte viel­mehr die­je­ni­gen Kräfte in Russ­land stärken, die Putins Kriege als Bedro­hung für die Zukunft des Landes betrach­ten. Ein Macht­wech­sel in Moskau wird höchst­wahr­schein­lich die Stimmen in Russ­land ver­stär­ken, die sich gegen die aggres­sive Außen­po­li­tik des aktu­el­len Regimes aus­spre­chen und eine Eini­gung mit dem Westen anstre­ben.     

Der Krieg kommt nun in die ent­schei­dende Phase. Trotz der Wider­stands­fä­hig­keit der Ukraine und ihrer beein­dru­cken­den tech­no­lo­gi­schen Fort­schritte liegt sein Ausgang haupt­säch­lich in den Händen des Westens. Noch ist es nicht zu spät, das Blatt zuguns­ten der Ukraine zu wenden. Wir brau­chen drin­gend Klar­heit über unsere stra­te­gi­schen Ziele für den Ausgang des Krieges. Das gilt umso mehr mit Blick auf das Come­back von Donald Trump als Prä­si­dent der USA. Falls Amerika über­haupt noch in Betracht ziehen sollte,  weiter an der Seite der Ukraine zu stehen, dann nur, wenn Europa ent­schlos­sen handelt. Sollte Trump aller­dings die Unter­stüt­zung der USA zurück­zie­hen, sind die euro­päi­schen Demo­kra­tien umso dring­li­cher gefordert.

Selbst wenn die Befrei­ung aller rus­sisch besetz­ten Gebiete und der Mil­lio­nen dort leben­den Ukrai­ner kurz­fris­tig nicht zu errei­chen ist, darf die voll­stän­dige poli­ti­sche Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine, und damit auch ihr Recht auf einen Bei­tritt zur Euro­päi­schen Union und zur NATO, nicht zum Spiel­ball der Kreml-Diplo­ma­tie werden. Das ist das Min­deste, was der Westen der Ukraine und sich selbst schul­det. Washing­ton, aber auch euro­päi­sche Regie­run­gen dürfen nicht der Ver­su­chung nach­ge­ben, den ver­meint­lich leich­te­ren und kos­ten­güns­ti­ge­ren Weg einer Befrie­dung Russ­lands auf Kosten der Ukraine zu gehen. Wenn man betrach­tet, was alles auf dem Spiel steht und welche lang­fris­ti­gen Ziele der Kreml ver­folgt, dann ist eine voll­um­fäng­li­che Unter­stüt­zung der Ukraine nicht nur die beste, sondern auch die kos­ten­güns­tigste Option für den Westen. 

Kapitel 1

FINDEN WIR EINEN GEMEINSAMEN NENNER? DIE POLNISCHE UND DEUTSCHE RUSSLANDPOLITIK DAMALS UND HEUTE

Viele Jahre lang ging es Deutsch­land in den Bezie­hun­gen zu Russ­land vor allem darum, wie Moskau in den Aufbau eines euro­päi­schen Sicher­heits­sys­tems ein­be­zo­gen werden kann, das beiden Seiten zum Vorteil gereicht. Die Begrün­dung war, dass eine engere Bindung zu einer Anglei­chung der Inter­es­sen führen werde. Durch sein Gewicht inner­halb der Union konnte Deutsch­land zu großen Teilen die Posi­tion der EU bestim­men. Sym­bo­lisch dafür steht die „Moder­ni­sie­rungs­part­ner­schaft“ mit Russ­land, die erst­mals 2008 vom dama­li­gen deut­schen Außen­minister Frank-Walter Stein­meier erwähnt wurde. 

Mehrere auf­ein­an­der­fol­gende pol­ni­sche Regie­run­gen warnen schon lange vor so einem „Russia first“-Ansatz. Die von Polen und Schwe­den vor­ge­schla­gene Öst­li­che Part­ner­schaft sollte hier ein Gegen­ge­wicht schaf­fen und Arme­nien, Aser­bai­dschan, Belarus, Geor­gien, Moldau und der Ukraine dazu ver­hel­fen, hand­lungs- und ent­schei­dungs­fä­hige Nach­barn statt Staaten zwi­schen den Mächten zu sein. Dieser Balan­ce­akt funk­tio­nierte nur teilweise.

War­schau argu­men­tierte, dass Moskau nie   seine tota­li­täre Ver­gan­gen­heit auf­ge­ar­bei­tet habe, dass Mili­ta­ris­mus und Revan­chis­mus in Russ­land auf dem Vor­marsch seien, Kor­rup­tion zu einem System gehöre, das immer mehr in den Tota­li­ta­ris­mus abrut­sche und dabei nach außen aggres­si­ver und nach innen repres­si­ver werde. Nach der Anne­xion der Krim for­derte Polen ein tief­grei­fen­des Umden­ken in der Russ­land­po­li­tik. Was folgte war jedoch nur eine Revo­lu­tion der Worte und kos­me­ti­sche Kurs­än­de­run­gen. Am deut­lichs­ten wird dies am Bau der Nord Stream 2 Pipe­line, deren Abkom­men 2015, nur ein Jahr nach der rus­si­schen Aggres­sion, unter­zeich­net wurde.

.
Vier irrige Annah­men, die zu feh­ler­haf­ter Politik führten

In den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­zehn­ten hat das Lager der „Russia first“-Befürworter seine Politik an einer Reihe irr­tüm­li­cher Annah­men aus­ge­rich­tet, die zu poli­ti­schen Fehl­ent­schei­dun­gen führten. Diese Annah­men müssen ver­wor­fen und ersetzt werden.

1) Die erste feh­ler­hafte Prä­misse war, dass eine stabile Sicher­heits­ord­nung nur mit und niemals ohne oder gegen Russ­land möglich sei. Dies führte zu einer Son­der­be­hand­lung und erhöh­ter Auf­merk­sam­keit für Russ­land. Die west­li­che Politik sollte sich viel­mehr darauf kon­zen­trie­ren, eine dau­er­hafte Sicher­heits­ord­nung auf­zu­bauen, ohne die selbst­auf­er­legte Vor­aus­set­zung einer Nor­ma­li­sie­rung der Bezie­hun­gen zu Russ­land. Der Ein­marsch in die Ukraine stellt einen tief­grei­fen­den Umbruch der Sicher­heits­lage dar. Russ­land wird jah­re­lang eine Bedro­hung bleiben. Daher sollte der Westen eine neue Sicher­heits­po­li­tik nicht nur ohne, sondern gegen Russ­land ver­fol­gen. Selbst­ver­ständ­lich sollte dazu auch eine lang­fris­tige Per­spek­tive für ein ver­hand­lungs­ba­sier­tes Ende des rus­si­schen Krieges in der Ukraine gehören, und zwar aus einer Posi­tion der Stärke und Abschre­ckung und im Ein­klang mit dem Völ­ker­recht. Denn Russ­land hat sich selbst aus der Gemein­schaft der­je­ni­gen Natio­nen aus­ge­schlos­sen, die das Völ­ker­recht achten.

2) Die zweite Annahme war, dass Russ­land im Grunde wie der Westen sei und in etwa das­selbe wolle. Aber Russ­land ist nicht wie der Westen.  Es hat eine andere Sicht auf inter­na­tio­nale Bezie­hun­gen und ist nicht bereit, daran etwas zu ändern. Die rus­si­schen Eliten glauben tat­säch­lich, sich im Krieg mit dem Westen zu befin­den. Die rus­si­sche Gesell­schaft basiert schon seit Langem auf dieser Vor­stel­lung. Und sie wird auch nicht mit Putin ver­schwin­den. Ein Vier­tel­jahr­hun­dert seiner Herr­schaft, auf­ge­pfropft auf ein zaris­ti­sches und sowje­ti­sches Erbe, hat das Regime ver­fes­tigt. Eine Demo­kra­ti­sie­rung oder Entim­pe­ria­li­sie­rung ist unwahr­schein­lich.(1)

3) Die dritte Annahme war, dass Russ­land ein Recht auf eine legi­time Inter­es­sensphäre in seiner Nach­bar­schaft habe, auch auf Kosten des Völ­ker­rechts. Diese Annahme drückte sich unter anderem in der Wei­ge­rung der NATO aus, der Ukraine und Geor­gien nach dem Gipfel 2008 in Buka­rest eine ernst­hafte Bei­tritts­per­spek­tive zu bieten, oder auch in der schwa­chen Reak­tion auf den dar­auf­fol­gen­den Krieg zwi­schen Russ­land und Geor­gien und in der ein­ge­schränk­ten Unter­stüt­zung für die Ukraine seit 2014. All das inter­pre­tierte Moskau als grünes Licht für seine revan­chis­ti­schen Ambi­tio­nen. Russ­land eine pri­vi­le­gierte Inter­es­sensphäre ein­zu­räu­men bedeu­tet fak­tisch, dem Land das Recht auf Plün­de­rung seiner Nach­barn zuzu­ge­ste­hen und ist quasi eine Ein­la­dung, neue Krisen herbeizuführen.

Seine „Sicher­heits­in­ter­es­sen“ setzt Russ­land durch mittels Kor­rup­tion, Zwang oder Ein­bin­dung der Eliten zum Zweck der Unter­wer­fung (wie in Belarus) oder, wenn das nicht hilft, zur Desta­bi­li­sie­rung (Geor­gien) oder gar zur Ver­nich­tung (Ukraine). Dau­er­hafte Insta­bi­li­tät in Nach­bar­län­dern war für Moskau schon oft ein erwünsch­ter Zustand. Dadurch eröff­net sich nicht nur eine Reihe von Mög­lich­kei­ten für feind­li­che Ein­mi­schung, sondern Russ­land kann sich so auch als sta­bi­li­sie­rende Kraft pro­fi­lie­ren. Russ­lands Irri­ta­tion über die Erwei­te­rung von NATO und EU beruht nicht auf geo­po­li­ti­schen Ängsten, sondern auf soge­nann­ten Sicher­heits­in­ter­es­sen, ins­be­son­dere was das Fort­be­stehen des klep­to­kra­ti­schen Kreml-Regimes angeht. Die Auf­nahme der Ukraine (und anderer Staaten der öst­li­chen Part­ner­schaft) in die EU und NATO würde Moskau einige wich­tige Spiel­züge ver­bauen. Ein Ziel der Ein­däm­mung Russ­lands sollte sein, in den Nach­bar­län­dern stabile poli­ti­sche Systeme, leis­tungs­fä­hige Volks­wirt­schaf­ten, ein­satz­be­reite Streit­kräfte und starke Zivi­li­ge­sell­schaf­ten zu fördern.

4) Die vierte Annahme war, dass unzu­rei­chende Kom­mu­ni­ka­tion der Grund für Span­nun­gen sei und dass mehr Ver­flech­tung, etwa durch Handel und Pipe­lines, helfen könnten. Sie fand Aus­druck in dem Slogan „Wandel durch Handel“, wonach gegen­sei­tige Abhän­gig­keit zu Ver­än­de­run­gen führen werden. In Wirk­lich­keit führte das aber nur zu mehr Span­nung. Dieser Ansatz wurde nach dem 24. Februar 2022 teil­weise auf­ge­ge­ben, als Gip­fel­tref­fen, Minis­ter­be­su­che und gemein­same Insti­tu­tio­nen aus­ge­setzt wurden. Aus­tausch um des Aus­tauschs willen hat sich als nutzlos erwiesen.

Der Glaube an die posi­tive Wirkung gegen­seitiger Abhän­gig­keit muss auf­ge­ge­ben werden, denn für einen auto­ri­tä­ren Staat mit imperialis­tischen Ambi­tio­nen ist Abhän­gig­keit ein Macht­mit­tel und eine „Waffe“, die demo­kra­ti­sche Partner angreif­bar macht. Jah­re­lang waren Täu­schung, Falsch­in­for­ma­tio­nen, Kor­rup­tion, Unsi­cher­heit und seit Neu­es­tem Angst die größten Export­gü­ter Russ­lands in die EU. Diese „Exporte“ wurden von einer Infra­struk­tur aus Öl, Gas und finan­zi­el­len und per­sön­li­chen Bezie­hun­gen gestützt. Heute sind diese Kanäle nicht mehr so weit offen, aber Russ­land zeigt nun auch sein wahres Gesicht und mischt sich unver­hoh­len in interne Ange­le­gen­hei­ten anderer Staaten ein. Der Westen muss daher den Preis solcher feind­li­cher Aktio­nen durch eine Aus­wei­tung seiner Sank­tio­nen erhöhen.

.
Gesucht: Eine grund­le­gend neue Haltung

Die Rund­erneue­rung der Russ­land­po­li­tik ist eine große Her­aus­for­de­rung, weil sie eine grund­le­gende Ände­rung von Ein­stel­lun­gen erfor­dert, die tief in der deut­schen Politik und in der Bevöl­ke­rung ver­wur­zelt sind.

In den nächs­ten Monaten werden drei Ent­wick­lun­gen ent­schei­dend sein. Erstens der mög­li­che Rück­gang der ame­ri­ka­ni­schen Unter­stüt­zung für die Ukraine und die NATO-Partner. Zwei­tens die Bemü­hun­gen Polens und anderer NATO-Mit­glie­der um die Schaf­fung einer euro­päischen Struk­tur, die das ent­ste­hende Vakuum teil­weise füllen kann. Und drit­tens die Frage, welchen Weg die deut­sche Politik nach der Bun­des­tags­wahl im Februar ein­schla­gen wird.

Viele erwar­ten, dass die neue US-Regie­rung nicht bereit sein wird, so viel Geld wie ihr Vor­gän­ger für die Ver­tei­di­gung der Ukraine und Europas aus­zu­ge­ben. Aller­dings ist noch unklar, wie groß die Ein­schnitte sein werden. Im güns­tigs­ten Fall bleibt eine ange­mes­sene Unter­stüt­zung bestehen, solange die Euro­päer ihre Betei­li­gung erhöhen. Im schlimms­ten Fall klappen die USA ihren nuklea­ren Schutz­schirm über Europa zusam­men. In jedem Fall werden die euro­päi­schen Bünd­nis­part­ner die Lücke füllen müssen.

Polen ist bei diesen Bemü­hun­gen führend. Im Land herrscht ein breiter Konsens, dass die Zeit für ent­schie­de­nes, gesamt­eu­ro­päi­sches Handeln gekom­men und einfach irgend­wie Wei­ter­ma­chen keine Option ist. War­schau wird seinen Ver­tei­di­gungs­etat von 4,3 Prozent im Jahr 2024 auf ganze 4,7 Prozent in 2025 erhöhen und ver­sucht, eine Gruppe von Ländern zusam­men­zu­brin­gen, die mit gutem Bei­spiel vorangehen.

.
Eine Koali­tion der Willigen

Der Kern dieser „Koali­tion der Wil­li­gen“ scheint sich aus den skan­di­na­vi­schen und bal­ti­schen Ländern und Polen her­aus­zu­bil­den, jedoch bisher ohne Deutsch­land. In der Gemein­sa­men Erklä­rung nach dem Gip­fel­tref­fen in Har­p­sund Ende Novem­ber 2024 ist das Ziel for­mu­liert, „zusam­men­zu­ar­bei­ten, um Russ­lands aggres­sive und äußerst kon­fron­ta­tive Maß­nah­men ein­zu­schrän­ken, anzu­fech­ten und zu kontern, sowie sicher­zu­stel­len, dass Russ­land für das Ver­bre­chen der Aggres­sion inter­na­tio­nal voll zur Ver­ant­wor­tung gezogen wird.“(2)

Die Länder entlang der NATO-Ost­flanke sind aus­schlag­ge­bend für die Sicher­heit des Konti­nents. Sie ver­pflich­ten sich zu umfas­sen­den Inves­ti­tio­nen für diese Aufgabe und dulden keine selbst­ge­fäl­li­gen Tritt­brett­fah­rer aus dem Westen. Hier wird von Deutsch­land erwar­tet, dass es sich mit seiner Wirt­schafts­kraft an der Schaf­fung einer dau­er­haf­ten und sta­bi­len Sicher­heits­um­ge­bung betei­ligt, anstatt ad-hoc Tele­fon­di­plo­ma­tie zu führen. 

Die deut­sche Ukrai­ne­hilfe war bisher zwar in abso­lu­ten Zahlen groß­zü­gig, aber gemes­sen an der Stärke seiner Wirt­schaft doch eher beschei­den. Laut dem Ukraine Support Tracker des Kiel Insti­tuts für Welt­wirt­schaft liegt Deutsch­land mit 0,4 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts auf Platz 14, während Däne­mark und Estland mit je 1,9 Prozent anteils­mä­ßig den größten Beitrag leisten.(3) Das könnte sich aller­dings ändern. Nach den Wahlen im Februar 2025 muss die neue Bun­des­re­gie­rung ent­schei­den, ob sie sich der Füh­rungs­gruppe anschlie­ßen will. Während in der SPD einige noch hoffen, dass Frieden mit Russ­land ohne große Mili­tär­aus­ga­ben möglich ist, sind die Christ­de­mo­kra­ten ent­schlos­sen, die Bun­des­wehr zu stärken und der Ukraine zu helfen. Und sie liegen in den Umfra­gen vorn. Auch die Grünen stehen fest an der Seite der Ukraine.

Zwei Argu­mente sind von ent­schei­den­der Bedeu­tung, um deut­sche Wähler von pro-ukrai­ni­schen Posi­tio­nen zu überzeugen:

1) Wenn die Ukraine nicht besser ver­tei­digt und unter­stützt wird, könnte das am Ende weit teurer zu stehen kommen, als die Kosten einer recht­zei­ti­gen Ein­däm­mung Russ­lands. Eine unmit­tel­bare Folge eines rus­si­schen Sieges wäre, dass der Mate­ri­al­ver­schleiß an der Front nach­lässt und die enorme Rüs­tungs­pro­duk­tion sich im Land ansam­melt. Das könnte zu einer Bedro­hung für euro­päi­sche Bünd­nis­part­ner werden. Schlimms­ten­falls steht dann eine kampf­erprobte rus­si­sche Armee an den Ost­gren­zen Polens, Rumä­ni­ens, Ungarns und der Slo­wa­kei. Die Ver­tei­di­gung gegen so eine Bedro­hung wird ein Viel­fa­ches der aktu­el­len Mili­tär­aus­ga­ben kosten, während die weitere Betei­li­gung der USA an der NATO unge­wiss ist. Das könnte einige euro­päi­sche Alli­ier­ten dazu ver­lei­ten, das sin­kende Schiff zu ver­las­sen und Russ­land oder den USA sepa­rate Abkom­men anzu­bie­ten. All das wäre zu Deutsch­lands Nachteil. 

2) Auch ohne die USA und wich­tige Ver­bün­dete wie Frank­reich und Groß­bri­tan­nien können die ent­schlos­sens­ten Länder Russ­land noch die Stirn bieten. Zusam­men hat diese poten­zi­elle Gruppe ein Brut­to­in­lands­pro­dukt von 4,7 Bil­lio­nen Euro, also mehr als doppelt so viel wie Russ­land (2,2 Bil­lio­nen). Wenn Deutsch­land sich anschlie­ßen würde, läge diese Zahl bei 8,8 Bil­lio­nen. Die Gesamt­bevölkerung des Zusam­men­schlus­ses wäre 205,6 Mil­lio­nen, ver­gli­chen mit Russ­lands 143,8 Millionen.

.
Wei­ma­rer Dreieck 2.0?

Natür­lich lassen sich Brut­to­in­lands­pro­dukt und Bevöl­ke­rungs­zah­len nicht auto­ma­tisch in mili­tä­ri­sche Schlag­kraft umrech­nen. Dieses Poten­zial in ein Abschre­ckungs­mit­tel umzu­wan­deln, erfor­dert Zeit und poli­ti­schen Willen. Mög­li­cher­weise mehr Zeit, als Russ­land gewäh­ren wird. Daher ist es undenk­bar, eine solche Gruppe ohne die Hilfe der USA auf die Beine zu stellen. Ohne nukleare Absi­che­rung seitens der USA und ohne ame­ri­ka­ni­sche Boden­trup­pen, wenigs­tens für ein paar Jahre, werden solche Ansätze schei­tern. Das darf aber keine Ausrede dafür sein, es nicht einmal zu ver­su­chen. Ein stär­ke­res Europa kann für die USA nütz­lich werden. Viel­leicht wird im Wett­be­werb mit China einmal ein Partner gebraucht. Doch der Partner muss eine Stütze sein, keine Belastung.

Wenn Deutsch­land sich ent­schließt, seine Kräfte mit Polen zu bündeln, dann tun sich die bevöl­ke­rungs­reichste Nation der Gruppe und die ent­schlos­senste zusam­men. Auch dabei gibt es gute und schlechte Nach­rich­ten. Die schlechte Nach­richt ist, dass in Deutsch­land immer noch Spuren seiner pater­na­lis­ti­schen Haltung gegen­über den öst­li­chen Nach­barn vor­han­den sind. Die gute Nach­richt ist, dass sich die Bezie­hun­gen ver­bes­sern können, wenn im Februar ein an Abschre­ckung und Ein­däm­mung gewöhn­ter Trans­at­lan­ti­ker der alten Schule an die Macht kommt.

Wenn Deutsch­land und Polen gemein­same Sache machen, kann das einen Domi­no­ef­fekt aus­lö­sen. Auch Frank­reich wird wohl kein neues Macht­zen­trum ent­ste­hen lassen, ohne sich zu betei­li­gen. Das könnte Paris moti­vie­ren, das Wei­ma­rer Dreieck aus Polen, Deutsch­land und Frank­reich, mit mehr Sub­stanz aus­zu­stat­ten. Wenn auch noch Groß­bri­tan­nien bei­tritt, wären in diesem neuen euro­päi­schen Klub sogar zwei Atom­mächte vertreten.

Kapitel 2

VERTEIDIGUNG: VON GRUND AUF NEU DENKEN

Die in den letzten zwei­ein­halb Jahren vom Westen geleis­te­ten Mili­tär­hil­fen haben das Über­le­ben und die Ver­tei­di­gungs­li­nien der Ukraine knapp gesi­chert, reich­ten aber nicht aus, um Russ­land zurück­zu­schla­gen. Die Gründe dafür sind viel­fäl­tig: Angst vor Eska­la­tion, haus­hal­te­ri­sche und innenpoli­ti­sche Zwänge sowie Wunsch­den­ken. Die Folgen sind deut­lich sicht­bar. Nachdem die Ukraine mehr als zwei Jahre unter­ver­sorgt wurde, in der Hoff­nung, der Kon­flikt möge mit irgend­ei­ner Eini­gung enden, hat sie sehr viel qua­li­fi­zier­tes und erfah­re­nes mili­tä­ri­sches Per­so­nal ver­lo­ren. Ihre Streitkräfte sind nun so geschwächt, dass es schwie­ri­ger denn je ist, sie wieder in die Lage zu bringen, offen­siv Druck auf Moskau aus­zu­üben. Es sieht auch nicht so aus, als würde das bald passieren.

Wenn Russ­land den Krieg in der Ukraine gewinnen sollte, könnte es seine völ­ker­mör­de­ri­schen Absich­ten zur Ver­nich­tung der ukrai­ni­schen Nation und Kultur umset­zen: Große Teile des Sicher­heits­ap­pa­rats (nicht nur die Armee, sondern auch der FSB, die Natio­nal­garde und Poli­zei­ein­hei­ten) würden die Rus­si­fi­zie­rung der Bevöl­ke­rung in den besetz­ten Gebie­ten erzwin­gen. Dorthin gelockte rus­si­sche Siedler werden ihre Sicher­heit, ihren Besitz und sozia­len Auf­stieg Putins neuem Impe­rium ver­dan­ken und es mit allen Mitteln zu erhal­ten suchen. Ein Kriegs­ende, das nicht auf eine stra­te­gi­sche Nie­der­lage Russ­lands folgt, wird das aktu­elle revi­sio­nis­ti­sche und impe­ria­lis­ti­sche Regime in Moskau nur stärken. Das gilt auch für einen „ein­ge­fro­re­nen“ Status quo, bei dem große Teile der Ukraine besetzt bleiben.

Polen ist der Ansicht, dass nur die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung über ihr Schick­sal ent­schei­den kann und dass die Ukraine nicht nur um ihre Unab­hän­gig­keit kämpft, sondern auch um die Mög­lich­keit einer Auf­nahme in west­li­che Insti­tu­tio­nen – NATO und die EU. Die Rolle des Westens sollte dabei sein, die Ukraine nicht nur in ihrer Selbst­ver­tei­di­gung zu unter­stüt­zen, sondern auch den Inte­gra­ti­ons­pro­zess zu fördern. Nur ein NATO-Bei­tritt kann glaub­wür­dige Sicher­heits­ga­ran­tien und Schutz vor einer erneu­ten rus­si­schen Inva­sion bieten. War­schau sieht Moskau gleich­zei­tig als exis­ten­zi­elle Bedro­hung, was in Polen die größte Reform und Moder­ni­sie­rung von Streit­kräf­ten in Europa seit Ende des Kalten Krieges ange­sto­ßen hat.

Anders als Ver­bün­dete in West­eu­ropa hat Polen seine Armee nicht kom­plett zu einer Ein­greif­truppe für welt­weite Kri­sen­herde umstruk­tu­riert. Sie verfügt über mehr Panzer- und mecha­ni­sierte Bri­ga­den als ihre west­li­chen Partner (2021 waren es 12). Aller­dings stammte der Groß­teil der Aus­rüs­tung aus sowje­ti­schem Alt­be­stand, teil­weise noch aus den 1960er Jahren. Viele Ver­bände waren auch unter­be­setzt. Russ­lands Wie­der­ein­marsch in die Ukraine 2022 war für Polen der Aus­lö­ser, fast seine gesamte ver­al­tete Aus­rüs­tung an die Ukraine abzu­ge­ben und so schnell wie möglich große Mengen moder­ner Waffen anzu­schaf­fen – haupt­säch­lich aus den USA und aus Süd­ko­rea. Als weitere Reak­tion erar­bei­tete der pol­ni­sche Gene­ral­stab einen Plan zur Moder­ni­sie­rung der Streit­kräfte bis 2035, der aktuell über­ar­bei­tet und bis 2039 ver­län­gert wird (die Ein­zel­hei­ten des Plans sind noch unter Verschluss).

Das stra­te­gi­sche Ziel Polens ist, eine Armee auf­zu­bauen, die einem bewaff­ne­ten Kon­flikt mit Russ­land gewach­sen wäre. Doch dieser Prozess wird noch min­des­tens zehn Jahre dauern und wird noch Hürden nehmen müssen. Im Moment besteht in der pol­ni­schen Gesell­schaft und über das gesamte poli­ti­sche Spek­trum hinweg Konsens, dass in den nächs­ten Jahren mehr als vier Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts in die Ver­tei­di­gung fließen müssen. Es ist jedoch nicht sicher, ob das lang­fris­tig so bleibt und ob sich Frauen und Männer auch in Zukunft so zahl­reich frei­wil­lig für das Militär melden. Der frei­wil­lige Grund­wehr­dienst ist nicht nur eine äußerst wich­tige Ergän­zung der aktiven Streit­kräfte (2024 werden 44.450 Rekru­ten erwar­tet), sondern stockt auch die Reserve auf. Eine weitere Her­aus­for­de­rung ist die relativ schwa­che Rüs­tungs­in­dus­trie, wodurch die Kapa­zi­tä­ten für Muni­ti­ons­pro­duk­tion, Aus­rüs­tungs­war­tung und ‑instand­hal­tung und Ausbau der Streit­kräfte begrenzt sind. Mit diesen Ein­schrän­kun­gen fer­tig­zu­wer­den ist eine lang­wie­rige und schwie­rige Aufgabe.

Deutsch­land ver­folgt wie die meisten Länder West­eu­ro­pas eine Politik des „Germany first“, wobei der Wie­der­auf­bau der Bun­des­wehr und die Ver­tei­di­gung im Rahmen der NATO stärker im Fokus stehen als die Bedürf­nisse der Ukraine. Dabei gäbe es tat­säch­lich Raum für weit­rei­chen­dere deutsch-pol­ni­sche Zusam­men­ar­beit in der NATO zur Stär­kung der Ver­tei­di­gung im Bal­ti­kum und im Norden der Ost­flanke. Das beträfe vor allem die beiden bestehen­den gemein­sa­men Kom­man­dos Mul­ti­na­tio­na­les Korps Nordost (Land- und Luft­streit­kräfte) und Com­man­der Task Force Baltic (Marine) sowie unter­stellte Ver­bände der Enhan­ced Forward Pre­sence – die deut­sche Batt­le­group in Litauen. Gemein­same Übungen der beiden Armeen könnten bila­te­rale Ver­bin­dun­gen weiter stärken und die Ver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tät gegen­über Russ­land verbessern.

Nach über 30 Jahren der Umori­en­tie­rung als Expe­di­ti­ons­korps lässt der Zustand der Bundeswehr einiges zu wün­schen übrig (siehe unten). Die nächste Bun­des­re­gie­rung wird die Bun­des­wehr neu auf­stel­len müssen, um die Ziele der NATO-Ver­tei­di­gungs­pla­nung, nämlich die Abschre­ckung Russ­lands und Durch­füh­rung gemein­sa­mer Ope­ra­tio­nen im Bal­ti­kum, zu errei­chen. Dafür gibt es bereits solide Pläne, denen jedoch zwei große Pro­bleme im Wege stehen. Eins ist die Finan­zie­rung. Erfor­der­lich wäre ein Etat von etwa 80 Mil­li­ar­den Euro pro Jahr. Das zweite ist Per­so­nal. Die Bun­des­wehr hat Schwie­rig­kei­ten, Sol­da­ten zu rekru­tie­ren. Eine Debatte über die Wie­der­ein­füh­rung der Wehr­pflicht verlief 2024 im Sand, könnte aber nach der Bun­des­tags­wahl 2025 wieder aufleben.

Damit Deutsch­land ein mili­tä­ri­sches Zentrum werden und Ver­tei­di­gungs­ein­sätze an der Ost­flanke ermög­li­chen kann, muss Berlin in den Augen War­schaus ein ver­trau­ens­wür­di­ger und zuver­läs­si­ger Partner und Ver­bün­de­ter werden. Und das hängt groß­teils von Deutsch­lands prak­ti­scher Unter­stüt­zung für die Ukraine ab. Bei diesem Test ist Deutsch­land gna­den­los durch­ge­fal­len. Nicht nur weil die mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung im Ver­gleich zur Wirt­schafts­kraft des Landes gering war. Sondern auch, weil dies als poli­tisch klug ver­kauft wurde – siehe Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz‘ geflü­gel­tes Wort „Beson­nen­heit“. Deutsch­land wei­gerte sich anfangs, seine leis­tungs­fä­hi­gen gepan­zer­ten Gefechts­fahr­zeuge der Ukt­raine zur Ver­fü­gung zu stellen, weil Scholz fürch­tete, dass Deutsch­lands „anti-mili­ta­ris­ti­sche“ Tra­di­tion Schaden nehmen könnte, wenn deut­sche Panzer durch Europa rollen.(4) Abge­se­hen davon, dass bereits das ehe­ma­lige West­deutsch­land ein gut bewaff­ne­tes NATO-Mit­glied war, stellt dieser bedin­gungs­lose Pazi­fis­mus auch Deutsch­lands Bekennt­nis zur Ver­tei­di­gung Europas in Frage. Wenn es darum gehen würde, die NATO zu ver­tei­di­gen, würden auch überall deut­sche Panzer rollen.

Eine Eini­gung mit Russ­land über Kyjiws Kopf hinweg würde bei Deutsch­lands Nach­barn schmerzliche Erin­ne­run­gen wecken. Jahr­hun­der­te­lang hat Berlin, oft in Zusam­men­ar­beit mit anderen Mächten, die Sou­ve­rä­ni­tät seiner öst­li­chen Nach­barn miss­ach­tet und sie als Bau­ern­op­fer im Spiel der Groß­macht­po­li­tik benutzt. So etwa bei den Tei­lun­gen Polens, im Vertrag von Rapallo oder im Molotow Rib­ben­trop-Pakt. Um zu ver­hin­dern, dass sich diese Geschichte wie­der­holt, sollte Berlin die Länder entlang der Ost­flanke, ins­be­son­dere Polen und die Ukraine, als gleich­wer­tige Partner behan­deln. Ein solches Umden­ken könnte die Türen öffnen für kon­struk­tive Zusam­men­ar­beit bei der mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung der Ukraine und Abschre­ckung Russlands.

.
Was getan werden muss

Eine dau­er­hafte mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung für die Ukraine, ein Ausbau der eigenen Rüstungs­industrie und die zeit­glei­che Wie­der­her­stel­lung der Fähig­keit, einen umfas­sen­den Krieg zu führen, sind uner­läss­lich. Dabei geht es nicht nur um eine Liste von Rüs­tungs­gü­tern. Ver­tei­di­gung muss als Ganzes von Grund auf neu gedacht und konzipiert werden. Die mög­li­chen Fall­stri­cke gehen weit über ein­zelne Teile der Aus­rüs­tung hinaus. Es geht um die Über­le­bens­fä­hig­keit, Nach­hal­tig­keit und Ska­lier­bar­keit der Streit­kräfte insgesamt.

  1. Über­le­bens­fä­hig­keit: Einem mög­li­chen Bewe­gungs­krieg gegen Russ­land würden die euro­päi­schen Streit­kräfte trotz ihrer hohen pro­fes­sio­nel­len Stan­dards nur etwa eine Woche lang stand­hal­ten. So lange würden rus­si­sche Drohnen brau­chen, um so viele Fahr­zeuge zu zer­stö­ren, dass weitere Manöver unmög­lich wären. Der Mangel an elek­tro­ni­schen Kampf­füh­rungs­sys­te­men (EloKa-Systeme), Flie­ger­ab­wehr­sys­te­men und Drohnen wird ange­sichts Russ­lands Kapa­zi­tä­ten bei der Droh­nen­her­stel­lung und Erfah­run­gen im Krieg in der Ukraine zu nicht aus­zu­glei­chen­den Ver­lus­ten von Per­so­nal und Aus­rüs­tung führen. Außer­dem beruht unsere Mate­ri­al­er­hal­tung und Ein­satz­ver­sor­gung nur auf einer Hand­voll ziviler Unter­neh­men, die Gerät instand halten. Im Kriegs­fall wären auch sie Ziele von Raketen- und Drohnenangriffen.
    .
  2. Nach­hal­tig­keit: Der Bun­des­wehr fehlen nicht nur die Muni­ti­ons­re­ser­ven, um einen Krieg durch­zu­hal­ten. Der aktu­elle Bestand an Artil­le­rie­mu­ni­tion würde nur für einige Tage reichen und kann wegen eines Mangels an siche­ren Lage­r­or­ten auch nicht erhöht werden. Zudem fehlt es an Per­so­nal und Mate­rial. Die Ukraine hat bisher mehr als 3.000 gepan­zerte Kampf­fahr­zeuge aller Art im Krieg ver­lo­ren. Allein diese Ver­luste aus­zu­glei­chen, wird für den Westen all­mäh­lich zum Problem. Und selbst wenn genü­gend Mate­rial ver­füg­bar wäre, fehlt es Europa an per­so­nel­len Reser­ven, um etwaige Ver­luste, beson­ders bei Offi­zie­ren und Fach­leu­ten, abzu­fan­gen. Während eine zwangs­weise Mobil­ma­chung zwar auf dem Papier jede Menge Sol­da­ten gene­rie­ren würde, wären nicht genü­gend Offi­ziere da, um sie aus­zu­bil­den und ins Feld zu führen.
    .
  3. Ska­lier­bar­keit: Der Mangel an Per­so­nal und Mate­rial hätte auch Aus­wir­kun­gen auf die Bemü­hun­gen anderer west­eu­ro­päi­scher Armeen, ihre Kapa­zi­tä­ten aus­zu­bauen. Zu Beginn der rus­si­schen Inva­sion bestand die ukrai­ni­sche Armee aus 29 gefechts­bereiten Bri­ga­den (20 bei den Land­streit­kräf­ten, sieben luft­be­weg­li­che Bri­ga­den und zwei Mari­ne­infan­te­rie-Bri­ga­den). Weitere 31 Bri­ga­den waren gerade erst im Rahmen der Ter­ri­to­ri­al­ver­tei­di­gung auf dem Papier ent­stan­den, waren aber noch kaum auf­ge­stellt. Jetzt, im dritten Kriegs­jahr, sind die ukrai­ni­schen Streit­kräfte auf mehr als 150 Bri­ga­den in allen Waf­fen­gat­tun­gen ange­wach­sen. Trotz aller moder­ner Technik spielt die Trup­pen­dichte, ins­be­son­dere die Ver­füg­bar­keit von Infan­te­rie, die wich­tigste Rolle bei der Ver­tei­di­gung. Dank der gerin­gen Truppen­dichte der rus­si­schen Armee glück­ten die ukrai­ni­schen Offen­si­ven in Kursk (2024) und Charkiw (2022), wohin­ge­gen die Som­mer­of­fen­sive 2023 an der grö­ße­ren Dichte der rus­si­schen Truppen vor Ort schei­terte. Würde die NATO als Ganzes ange­grif­fen, wäre der Ope­ra­ti­ons­raum noch viel größer. Außer­dem wären die rück­wär­ti­gen Ver­bände und die zu schüt­zende kri­ti­sche Infra­struk­tur eben­falls um einiges größer.

Kapitel 3

RUSSLANDS HYBRIDER KRIEG GEGEN DEN WESTEN
UND WAS DAGEGEN ZU TUN IST

I. Russ­lands hybri­der Krieg 

Seit über einem Jahr­zehnt führt Russ­land bereits einen hybri­den Krieg gegen den Westen. Putins stra­te­gi­sches Ziel ist, eine Neu­auf­lage des rus­si­schen Impe­ri­ums (oder wenigs­tens eine rus­si­sche Ein­fluss­sphäre) zu schaf­fen. Zu diesem Zweck schwächt er den Westen, wo immer er kann. Die Ziele und Ele­mente dieses hybri­den Krieges sind gut bekannt: Es geht darum, west­li­che Gesell­schaf­ten zu pola­ri­sie­ren und  das Ver­trauen in die Demo­kra­tie und ihre Insti­tu­tio­nen zu unter­mi­nie­ren, Popu­lis­ten, Extre­mis­ten und Sepa­ra­tis­ten zum Auf­stieg zu ver­hel­fen, die Unter­stüt­zung für die Ukraine durch Angst vor Eska­la­tion und Appelle an tief­sit­zende pazi­fis­ti­sche Über­zeu­gun­gen zu unter­gra­ben und zugleich die Legi­ti­mi­tät des Putin-Regimes zu stärken und ihm Zugang zu west­li­chen Märkten ver­schaf­fen. Die Angst vor Eska­la­tion tut bereits ihr Werk, wie man an den zurück­hal­ten­den Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukraine erken­nen kann (s. Kapitel 2). Kern der hybri­den Taktik des Kremls ist es, mög­lichst unter dem Radar zu bleiben, um eine offene mili­tä­ri­sche Kon­fron­ta­tion mit der NATO zu ver­mei­den; denn die fürch­tet Putins Regime. So kann Moskau die Ent­schlos­sen­heit und den Zusam­men­halt des Westens auf die Probe stellen und Schwach­stel­len ausnutzen.

Seit Beginn der Groß­in­va­sion der Ukraine 2022 hat Russ­lands hybri­der Krieg noch aggres­si­vere Ausmaße ange­nom­men. Dieser hat viele Facet­ten, dar­un­ter ein unein­ge­schränk­ter Infor­ma­ti­ons­krieg gegen unsere Länder, massive Ein­mi­schung in Wahlen, etwa in Rumä­nien, Cyber­an­griffe gegen Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker, öffent­li­che Ein­rich­tun­gen und die Infra­struk­tur. Auch Spio­nage nimmt stetig zu. Es kommt zu Sabo­ta­ge­ak­ten und Ver­ein­nah­mung von Eliten. Die Liste der  Russ­land zuge­schrie­be­nen Angriffe wird schnell länger und reicht von Brand­stif­tung und Sach­be­schä­di­gung über Cyber- und phy­si­sche Angriffe auf Eisen­bah­nen und die Rüs­tungs­in­dus­trie bis zu ver­such­ten Morden. Das Regime hat für seine hybride Kriegs­füh­rung eigene Struk­tu­ren ent­wi­ckelt, etwa die Haupt­ver­wal­tung Tief­see­for­schung (GUGI) oder Medi­en­un­ter­neh­men wie die Social Design Agency (SDA).

Moskau wird dabei immer dreis­ter und unverfro­re­ner. Glaub­haf­ten Berich­ten zufolge haben rus­si­sche Sabo­ta­ge­ver­su­che das Leben vieler Men­schen in Europa gefähr­det – etwa mut­maß­li­che Angriffe auf die fin­ni­sche Was­ser­ver­sor­gung oder der Versuch, Spreng­stoff an Bord eines deut­schen Fracht­flug­zeugs zu ver­brin­gen. Im Novem­ber 2024 gab es Hin­weise, dass Russ­land mit Hilfe Chinas Unter­see­ka­bel zwi­schen Schwe­den und Estland sowie zwi­schen Deutsch­land und Finn­land durch­trennt habe. All diese Vor­fälle ergän­zen nur eine bereits seit langem wach­sende Kette von Cyber­an­grif­fen, Stö­run­gen des GPS-Systems und anderen hybri­den Maß­nah­men, die Angst und Unsi­cher­heit schüren sollen. Die Lage ist inzwischen so ernst, dass die fin­ni­sche Regie­rung offen über einen NATO-Bünd­nis­fall nach Artikel 5 des Ver­trags von Washing­ton spricht (laut NATO-Doktrin ist der Bünd­nis­fall auch bei hybri­den Angrif­fen aus­län­di­scher Aggres­so­ren vor­ge­se­hen). (5)

Auch Polen und Deutsch­land sind wich­tige Ziele in Russ­lands Kreuz­zug gegen den Westen. Als wich­tige Mit­glie­der von EU und NATO haben sie in Russ­land-Themen großen Ein­fluss auf die westliche Politik, etwa in der Frage nach mili­tä­ri­scher Unter­stüt­zung der Ukraine oder bei Sank­tio­nen. Deutsch­land ist das wich­tigste Logis­tik-Dreh­kreuz der NATO (hier befin­den sich wich­tige US-Mili­tär­stütz­punkte), während Polen eine ähn­li­che Rolle für die NATO-Ost­flanke und bei Waf­fen­lie­fe­run­gen für die Ukraine spielt. Russ­land lässt nichts unver­sucht, um sowohl Polen als auch Deutsch­land von innen heraus zu mani­pu­lie­ren. Dabei gibt es Gemein­sam­kei­ten, wie etwa Ver­su­che, die Soli­da­ri­tät und Unter­stüt­zung für die Ukraine zu schwä­chen und inter­na­tio­nale Orga­ni­sa­tio­nen, beson­ders die NATO und die EU, zu ver­un­glimp­fen. Aber es gibt auch wich­tige Unter­schiede, z.B. in Deutsch­land ein Anknüp­fen an die Frie­dens­be­we­gung und ein Aus­nut­zen tief ver­wur­zel­ter anti­ame­ri­ka­ni­scher Res­sen­ti­ments in bestimm­ten sozia­len Schich­ten. Beides exis­tiert so in Polen nicht. Und doch wurde bisher trotz aller Unter­schiede zwichen Polen und Deutsch­land das Ausmaß von Putins hybri­dem Krieg in beiden Ländern stark unterschätzt. 

Ein Bei­spiel: Beide Länder waren im Visier der Ope­ra­tion Dop­pel­gän­ger, die unter anderem vom FBI und dem Counter Dis­in­for­ma­tion Network (CDN) der EU auf­ge­klärt wurde. Diese Kam­pa­gne wurde von der SDA durch­ge­führt, einem Kreml-gesteu­er­ten Medi­en­un­ter­neh­men. Dem FBI zufolge war das offen­sicht­li­che Ziel „Span­nun­gen zur Eskalation zu bringen ... um die Inter­es­sen der Rus­si­schen Föde­ra­tion zu fördern“ und mit Hilfe von fal­schen Bei­trä­gen, Influen­cern sowie geziel­ten Posts und Kom­men­ta­ren in den sozia­len Medien „tat­säch­lich exis­tie­rende Kon­flikte zu beein­flus­sen und neue Kon­flikte künst­lich zu erzeugen“.

Polen ist seit Jahr­zehn­ten ein wich­ti­ges Ziel rus­si­scher Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gnen und hybrider Angriffe. Auf­grund ihres tie­fe­ren Ver­ständ­nis­ses der rus­si­schen Politik und Geschichte ist die pol­ni­sche Gesell­schaft gegen Mani­pu­la­ti­ons­ver­su­che aus Russ­land besser gewapp­net als Deutsch­land. Doch auch wenn es schwie­rig ist, in Polen eine pro-rus­si­sche Stim­mung zu erzeu­gen, ist das Land nicht immun gegen Cyber­an­griffe und andere hybride Ope­ra­tio­nen. Sie haben zuletzt so stark zuge­nom­men, dass Brand­stif­tung, Spio­nage und Stö­run­gen von wich­ti­gen Ver­kehrs­adern mitt­ler­weile offen Russ­land zuge­schrie­ben werden. Im Oktober 2024 ver­fügte das pol­ni­sche Außen­mi­nis­te­rium unter Beru­fung auf Sabo­ta­ge­tä­tig­kei­ten die Schlie­ßung des rus­si­schen Kon­su­lats in Poznań.(6) In den letzten Jahren wurden auch Migra­ti­ons­ströme immer häu­fi­ger als Waffe ein­ge­setzt. Moskau übt dabei in Zusam­men­ar­beit mit Minsk Druck auf die Ost­grenze Polens (und damit der EU) aus, indem ille­gale Migran­ten an die Grenze gebracht werden. Bezeich­nen­der­weise haben 90 Prozent dieser Men­schen ein rus­si­sches Visum. 

Der Fall Pawel Rubzow, ein rus­si­scher Agent, der sich als spa­ni­scher Jour­na­list aus­ge­ge­ben hatte, in Polen ver­haf­tet wurde und durch einen Gefan­ge­nen­aus­tausch im August 2024 zurück nach Russ­land kam, hat die Schwä­chen der demo­kra­ti­schen Offen­heit und Geset­zes­lage in Polen offen­bart. Dadurch konnte das Putin-Regime zahl­rei­che Influen­cer rekru­tie­ren und gelangte an geheime Informationen.

Vor dem Hin­ter­grund der tur­bu­len­ten Geschichte zwi­schen Polen und der Ukraine ver­sucht Moskau unent­wegt, Dif­fe­ren­zen zwi­schen War­schau und Kyjiw gegen­ein­an­der aus­zu­spie­len und Polens Ent­schlos­sen­heit, der Ukraine zu helfen, zu unter­gra­ben. Die große ukrai­ni­sche Dia­spora in Polen (dar­un­ter viele rus­sisch­spra­chige Geflüch­tete, die rus­si­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­platt­for­men nutzen) macht es umso schwie­ri­ger, bös­ar­tige rus­si­sche Ein­fluss­nahme zu ent­tar­nen. So wurden zahl­rei­che in Polen lebende Ukrai­ner von Moskau für ver­schie­denste Des­in­for­ma­ti­ons- und Sabo­ta­ge­kam­pa­gnen angeheuert.

Die von Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz aus­ge­ru­fene „Zei­ten­wende“ hat Deutsch­land der pol­ni­schen Sicht auf Russ­land näher­ge­bracht. Deutsch­land hat das Pipe­line-Projekt Nord Stream ein­ge­stellt und ist zum zweit­größ­ten mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zer der Ukraine auf­ge­stie­gen. Doch einige Unter­schiede in der Betrach­tung Russ­lands bleiben bestehen. Anders als in Polen haben viele Men­schen in Deutsch­land Angst vor einer Eska­la­tion des Krieges. Beson­ders in Ost­deutsch­land glauben viele Men­schen nicht, dass ihre Sicher­heit durch Russ­land unmit­tel­bar bedroht ist. Es gibt zahl­rei­che Befür­wor­ter von Frie­dens­ver­hand­lun­gen und eines Endes der deut­schen Mili­tär­hil­fen für Kyjiw. Obwohl Berichte über rus­si­sche Falsch­mel­dun­gen, Mani­pu­la­tion von Debat­ten und Sabo­ta­ge­akte in den letzten Monaten zuge­nom­men haben, hat sich die Erkennt­nis, dass man zu einem Top-Ziel von Russ­lands hybri­dem Krieg in Europa gewor­den ist, noch nicht in der deut­schen Gesell­schaft durchgesetzt.

Russ­land mani­pu­liert seit Jahren den öffent­li­chen Diskurs in Deutsch­land und hat während der Flücht­lings­krise, der Corona-Pan­de­mie und des Ukrai­ne­kriegs sys­te­ma­tisch Miss­trauen gesät. Außer­dem hat Moskau aktiv anti-west­li­che und pro-rus­si­sche Par­teien wie die AfD und das Bündnis Sahra Wagen­knecht geför­dert und in den sozia­len Medien einen regel­rech­ten digi­ta­len Tsunami ent­fes­selt. Rus­si­sche Geheim­dienste haben am hell­lich­ten Tag in Berlin einen Men­schen ermor­det und werden ver­däch­tigt, Anschläge gegen mili­tä­ri­sche Ein­rich­tun­gen und den Chef des Rüs­tungs­kon­zerns Rhein­me­tall geplant zu haben. Und doch zeigen Umfrage- und Wahl­er­geb­nisse trotz Moskaus unbe­streit­ba­rer Schuld am Krieg gegen die Ukraine wach­sende pro-rus­si­sche Ten­den­zen in Deutschland.

.

II. Was getan werden muss?

Wir müssen das volle Ausmaß von Russ­lands hybri­dem Krieg begrei­fen und dürfen diese Taten nicht mehr unge­straft hin­neh­men. Russ­land bedroht den Kern unserer Demo­kra­tie. Es mani­pu­liert unsere Mei­nun­gen, unsere Debat­ten, unsere Wahlen; doch wir behan­deln dies immer noch wie ein Rand­phä­no­men. So darf es nicht wei­ter­ge­hen. Hybride Kriegs­füh­rung muss zu einer Prio­ri­tät der natio­na­len Sicher­heit werden.

Unsere Regie­run­gen sollten dieser Her­aus­for­de­rung wesent­lich mehr Auf­merk­sam­keit und Res­sour­cen widmen. Wir müssen eine Reihe      von defen­si­ven und offen­si­ven Maß­nah­men ent­wi­ckeln, die den Waffen des Angrei­fers eben­bür­tig sind. Außer­dem brau­chen wir wirk­same Mecha­nis­men, um natio­nal und inter­na­tio­nal die best­mög­li­chen Gegen­maß­nah­men ergrei­fen zu können.

Attri­bu­tion, also die Zuschrei­bung von Ver­ant­wor­tung für einen Angriff, sollte viel häu­fi­ger und mit weniger Zögern statt­fin­den. Fälle, in denen eine rus­si­sche Ein­mi­schung ein­deu­tig nach­weis­bar ist, sollten pro­ak­tiv ver­öf­fent­licht werden. Das geschieht bereits in den USA und seit Kurzem auch in Rumä­nien. Wenn Russ­land nicht als feind­li­cher Ver­bre­cher­staat beim Namen genannt wird, wenn die Angst vor Eska­la­tion über­wiegt, wenn die Logik der Kreml-Gangs­ter nicht ver­stan­den und mit Gegen­maß­nah­men gezö­gert wird, ver­stärkt sich in Moskau das Gefühl der Straf­frei­heit und es wird zu wei­te­ren hybri­den Angrif­fen kommen.

Kurz­fris­tige Maß­nah­men sollten eine Strate­gie beinhal­ten, die digi­tale Platt­for­men stärker in die Ver­ant­wor­tung nimmt, um rus­si­sche Fake-News zu ent­fer­nen. Dazu müssen natio­nale und euro­päi­sche Gesetze stärker ange­wandt und Des­in­for­ma­tion und Pro­pa­ganda aktiv ent­tarnt bezie­hungs­weise davor gewarnt werden. Gleich­zei­tig ist es not­wen­dig, kri­ti­sche Infra­struk­tur (Energie, IT, Rüs­tungs­an­la­gen) besser zu schüt­zen. Dazu gehört auch eine Droh­nen­ab­wehr und das Setzen klarer Grenzen gegen­über Russ­land (etwa die Andro­hung von Ver­gel­tungs­schlä­gen gegen rus­si­sche Anlagen im Falle eines Cyber­an­griffs). Regie­run­gen sind gut beraten sich auf einige Kam­pa­gnen aus der Ver­gan­gen­heit zu besin­nen und über die reale und aktu­elle Bedro­hung auf­zu­klä­ren, die von Russ­land ausgeht (etwa mit Hilfe von Pla­ka­ten oder Fernseh- und Video­spots). Regie­rung, Nach­rich­ten­dienste und Polizei sollten die Risiken der Mani­pu­la­tion und Ein­mi­schung in die anste­hen­den Wahlen aktiv kommunizieren.

Eine neue Her­an­ge­hens­weise sollte die Schwä­chen des Putin-Regimes unmit­tel­bar in den Blick nehmen und beson­ders die Kor­rup­tion seiner Mit­glie­der ent­tar­nen (was Alexej Nawalny sich zur Aufgabe gemacht hatte). Außer­dem sollten Gesetze gegen Spio­nage ver­schärft bzw. über­haupt erlas­sen und Sank­tio­nen gegen Ein­zel­per­so­nen und Unter­neh­men aus­ge­wei­tet werden. Das Ver­sa­gen des rus­si­schen Staats (die zuneh­mende Kri­mi­na­li­tät und soziale Ver­elen­dung auf­grund des Krieges) sollte publik gemacht werden. Der Druck auf zwei­felnde Partner Russ­lands muss erhöht werden, indem man ihnen offen erklärt, welche Nach­teile eine Annä­he­rung an den Kreml hat, und indem Bemü­hun­gen um Kon­takt­auf­nahme mit der rus­si­schen Gesell­schaft gestärkt werden, etwa durch den Euro­päi­schen Demo­kra­tie­fonds und För­de­rung unab­hän­gi­ger Medien.

Lang­fris­tig müssen struk­tu­relle Pro­jekte und poli­ti­sche Initia­ti­ven ange­sto­ßen werden, etwa für den Aufbau einer resi­li­en­te­ren Gesell­schaft durch Gesetze gegen die Ver­ein­nah­mung von Eliten (Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung, Schaf­fung eines Trans­pa­renz­re­gis­ters zu aus­län­di­scher Ein­fluss­nahme, die Ent­wick­lung und Umset­zung von Maß­nah­men gegen Des­in­for­ma­tion auf digi­ta­len Platt­for­men), Pro­jekte zur För­de­rung der Medi­en­kom­pe­tenz, Inves­ti­tio­nen in die Zivil­gesellschaft und ver­stärkte Zusam­men­ar­beit mit Unter­neh­men zur Abwehr hybri­der Angriffe.

Polen und Deutsch­land sollten eine gemein­same Arbeits­gruppe schaf­fen, die hybride Maß­nah­men Russ­lands ana­ly­siert und kon­krete Gegen­maß­nah­men ent­wi­ckelt. Sie sollten Russ­lands aktu­el­les Handeln sorg­fäl­tig beob­ach­ten (etwa Sabo­tage und Mani­pu­la­tio­nen im digi­ta­len Raum, auch durch künst­li­che Intel­li­genz) und Lehren aus dem Kalten Krieg anwen­den, ins­be­son­dere aus erfolg­rei­chen Aktio­nen gegen typi­sche feind­li­che sowje­ti­sche Akti­vi­tä­ten, die sich in moder­ni­sier­ter Form unter dem Putin-Regime wie­der­ho­len (wie Pro­pa­ganda-Abwehr und Maß­nah­men gegen Ver­su­che Moskaus, west­li­che Insti­tu­tio­nen zu infil­trie­ren). Hand­lungs­vor­schläge sollten auf eine Stär­kung der Abwehr von Spio­nage und hybri­den Maß­nah­men Russ­lands abzie­len. Beide Länder sollten beim Aufbau eines euro­päi­schen Konsens zu wirk­sa­men Rei­se­be­schrän­kun­gen für Ver­tre­ter Russ­lands im Schen­gen-Raum mit­wir­ken. Mit Blick auf die kom­ple­xen Formen der gegen­sei­ti­gen wirt­schaft­li­chen Abhän­gig­keit zwi­schen Deutsch­land und Polen besteht sowohl die Not­wen­dig­keit als auch die Mög­lich­keit, mit Part­nern aus der Pri­vat­wirt­schaft gemein­sam Resi­li­enz-Pro­gramme durch­zu­füh­ren (gute Bei­spiele dafür sind Skan­di­na­vien und Tschechien).

Das Wei­ma­rer Dreieck aus Polen, Deutsch­land und Frank­reich könnte genutzt werden, um zwei bis drei kon­krete Initia­ti­ven zu erar­bei­ten, bei denen sich alle drei Länder einig sind (etwa ein Früh­warn- und Reak­ti­ons­sys­tem für Infor­ma­ti­ons­ma­ni­pu­la­tion, Bün­de­lung von Res­sour­cen gegen Cyber­an­griffe, Auf­de­ckung von rus­si­schen Sabo­ta­ge­netz­wer­ken). Mit Blick auf die umfang­rei­che Nutzung von Tele­gram für die Planung, Rekru­tie­rung und Durch­füh­rung von hybri­den Aktio­nen wäre der Prozess gegen den Gründer der Chat-App Pawel Durow in Paris mög­li­cher­weise eine gute Gele­gen­heit für eine tri­la­te­rale Koope­ra­tion. Andere mög­li­che Berei­che sind die Ent­wick­lung einer Politik zu KI und Demo­kra­tie in der EU, die die Medi­en­kom­pe­tenz steigert.

Nach Mög­lich­keit sollten sich Berlin und War­schau gemein­sam für eine Arbeits­tei­lung bei den jewei­li­gen Maß­nah­men ein­set­zen. Die NATO, EU und G7 könnten die Feder­füh­rung bei der Ent­wick­lung einer stär­ke­ren Politik und bes­se­rer Stan­dards über­neh­men und sich auf Gegen­maßnahmen einigen, von denen sie jeweils die­je­ni­gen umset­zen, die in ihren Zustän­dig­keits­be­reich fallen (die NATO etwa im Bereich mili­tä­ri­sche Sicher­heit, die EU in Sachen Gesetz­ge­bung und Finan­zie­rung von Resi­li­en­z­pro­jek­ten), während Ein­zel­staa­ten Aspekte der Umset­zung über­neh­men, die in ihr Mandat fallen (etwa der Telegram-Prozess).

.
III. Der Preis von Untätigkeit

Bis­he­rige Erfah­run­gen und Kennt­nisse deuten auf einen engen Zusam­men­hang zwi­schen schwa­chen (oder völlig feh­len­den) Reak­tio­nen auf Moskaus hybride Maß­nah­men hin. Doch wird das Problem nicht ver­schwin­den, nur weil es wenig beach­tet und ledig­lich verbal und pro forma darauf reagiert wird. Im Gegen­teil, es wird sich ver­schlim­mern. Gute Ana­ly­sen sind hilf­reich, aber unzu­rei­chend. In einigen Berei­chen, wie bei der Sicher­heit mili­tä­ri­scher Anlagen (NATO-Stütz­punkte), befin­det sich der Kreml noch in der Auf­klä­rungs­phase. Im Bereich der kri­ti­schen Infra­struk­tur (Unter­see­ka­bel) ist er bereits zu Sabo­tage über­ge­gan­gen. Wir dürfen die rus­si­sche Seite nicht in dem Glauben lassen, dass immer dreis­tere Angriffe tole­riert werden. Wenn wir den nötigen poli­ti­schen Willen auf­brin­gen, haben wir die Mittel und die Fähig­kei­ten, Moskau abzu­schre­cken. Deutsch­land und Polen sollten hier die Führung übernehmen.

Kapitel 4

WAS SANKTIONEN BEWIRKEN KÖNNEN

Die Sank­tio­nen des Westens und die stei­gen­den Kosten für den Krieg rütteln bereits am Fun­da­ment der rus­si­schen Wirt­schaft. Die Maß­nah­men sollen Russ­land über ver­schie­dene Kanäle treffen und jeweils zu unter­schied­li­chen Zeit­punk­ten wirksam werden. Finanz­sank­tio­nen wie etwa der (teil­weise) Aus­schluss Russ­lands aus dem inter­na­tio­na­len Zah­lungs­ver­kehr haben kurz­fristig oft unmit­tel­bare und teil­weise schwer­wiegende Aus­wir­kun­gen. Das war etwa anfangs bei den dras­ti­schen Kurs­re­ak­tio­nen des Rubels zu beob­ach­ten. Bei Han­dels­sank­tio­nen, beson­ders im Tech­no­lo­gie­sek­tor und bei Gütern des Pri­mär­be­darfs, also End­pro­duk­ten, die aus lager­fä­hi­gen Kom­po­nen­ten her­ge­stellt werden, lassen die wirt­schaft­li­chen Folgen abge­se­hen von direk­ten Aus­wir­kun­gen auf Import und Export länger auf sich warten.

Da Russ­land eine relativ große Volks­wirt­schaft ist, würde Studien zufolge selbst das extremste hypo­the­ti­sche Sze­na­rio, ein welt­wei­tes Total­embargo, das Land mit­tel­fris­tig nur etwa 20 Pro­zent­punkte seines Brut­to­in­lands­pro­dukts kosten. Länder wie der Iran oder Nord­ko­rea zeigen, dass nicht einmal schärfste Sank­tio­nen eine Wirt­schaft in die Knie zwingen. Selbst die Wirt­schaft der Ukraine, wo der Krieg tat­säch­lich tobt, ist nicht zusam­men­ge­bro­chen. Daher war die Erwar­tung eines schnel­len Zusam­men­bruchs der rus­si­schen Wirt­schaft auf­grund der Sank­tio­nen von Anfang an unrea­lis­tisch und auch nie das Ziel.

Statt­des­sen sollen die Sank­tio­nen Russ­land die Finan­zie­rung des Krieges erschwe­ren. Wir sollten also nicht fragen, ob die rus­si­sche Wirt­schaft zusam­men­ge­bro­chen ist, sondern wie die Lage heute ohne die Sank­tio­nen wäre. Daran gemes­sen haben die Sank­tio­nen für den Kreml die Kosten des Krieges tat­säch­lich nach oben getrie­ben, wenn auch mit Einschränkungen.

.
Analyse des Status quo: Was funk­tio­niert – und was nicht?

Während die Wirt­schafts­da­ten Russ­lands ein Wachs­tum sug­ge­rie­ren (das Brut­to­in­lands­pro­dukt stieg 2023 um 3,6 Prozent und für 2024 ist ein ähn­li­cher Anstieg vor­her­ge­sagt), sollte man bei diesen Zahlen genau hin­schauen. Das berich­tete Wachs­tum ist haupt­säch­lich auf Staats­aus­ga­ben im Zusam­men­hang mit dem Krieg zurück­zu­füh­ren und hatte kaum posi­tive Effekte auf das Leben der rus­si­schen Bürger. Eine gestei­gerte Rüs­tungs­pro­duk­tion führt nicht auto­ma­tisch zu mehr Lebens­qua­li­tät. Nie­man­dem in Russ­land geht es besser, nur weil noch eine neue Rakete an die Front geschickt wird. Das Wachs­tum sagt also wenig über den wahren Zustand der Wirt­schaft und den Lebens­stan­dard in Russ­land aus. Und selbst dann sehen nicht alle Zahlen rosig aus: Die Sta­tis­tik­be­hörde Rosstat berich­tete Anfang Novem­ber 2024 von 8,5 Prozent jähr­li­cher Infla­tion; der Zins­satz der Zen­tral­bank lag bei 21 Prozent.(7) 

Erwar­tet wird, dass die Gesamt­aus­ga­ben für den Krieg – Ver­tei­di­gung und innere Sicher­heit (Natio­nal­garde, FSB und andere) zusam­men­ge­nom­men, etwa 40 Prozent des Haus­halts oder 10 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts betra­gen. Für 2025 ist eine weitere Erhö­hung des Etats geplant. Die starke Kon­zen­tra­tion des Kremls auf den Krieg ver­schlingt somit die finan­zi­el­len, pro­duk­ti­ven und per­so­nel­len Res­sour­cen und schwächt die zivile Pro­duk­tion. In den Wachs­tumsbran­chen pro­du­zie­ren staat­li­che Unter­neh­men Güter für die öffent­li­che Hand zu will­kür­lich fest­ge­leg­ten Preisen, was eine ver­steckte Infla­tion zur Folge haben dürfte. Daher kann man nicht von realem Wachs­tum spre­chen – ähnlich wie zu Sowjet­zei­ten, als ver­steckte Infla­tion im Nach­hinein jähr­lich drei Prozent des Bruttoinlands­produkts ausmachte.

In der Folge kann der von den Sank­tio­nen schwer getrof­fene und vom Staat finan­zi­ell aus­ge­blu­tete nicht­mi­li­tä­ri­sche Sektor die stei­gende Nach­frage im eigenen Land nicht mehr decken. Nach dem Exodus vieler west­li­cher Inves­to­ren ist der rus­si­sche Markt nun voll von teuren, oft min­der­wer­ti­gen Impor­ten. Außer­dem umgeht Russ­land die Sank­tio­nen durch soge­nannte Par­al­lel­im­porte über Nach­bar­län­der wie Belarus, die Türkei und Kasach­stan. Bei diesem auch als „eura­si­scher Kreis­ver­kehr“ bezeich­ne­ten Vor­gehen werden sank­tio­nierte Güter über Zwi­schen­händ­ler umge­lei­tet, bevor sie nach Russ­land gelan­gen. So können benö­tigte Güter zwar weiter impor­tiert werden, wenn auch zu einem bis zu 40 Prozent höheren Preis als vorher. Auch sind die Volumen ins­ge­samt wesent­lich gerin­ger als das der direk­ten Importe vor Beginn der Sanktionen. 

Die gestie­ge­nen Kosten sind eine große Belas­tung für die Wirt­schaft. Alles in allem ist nun China mit 40 Prozent aller Importe im ersten Halb­jahr 2024 Russ­lands wich­tigs­ter Lie­fe­rant. China liefert aller­dings vor allem Endpro­dukte und keine Kom­po­nen­ten für die rus­si­sche Pro­duk­tion. Auch bei den von west­li­chen Märkten aus­geschlos­se­nen rus­si­schen Roh­materialexporten gibt es große Her­aus­for­de­run­gen. Der Bergbau, eine der wich­tigs­ten Bran­chen in der rus­si­schen Wirt­schaft, ist seit 2023 rück­läu­fig. Obwohl viele Expor­teure neue Abneh­mer außer­halb des Westens gefun­den haben, ist ihre Ren­ta­bi­li­tät auf­grund der höheren Kosten für Logis­tik und grenz­über­schrei­ten­den Zah­lungs­ver­kehr stark gesun­ken. Auch die Preise leiden unter der ver­schlech­ter­ten rus­si­schen Verhandlungsposition.

Lang­fris­tig werden sich die nega­ti­ven Folgen der Abkopp­lung Russ­lands von west­li­cher Tech­no­lo­gie durch die Han­dels­be­schrän­kun­gen noch ver­schär­fen. In den letzten 30 Jahren waren west­li­che Länder, beson­ders die EU-Staaten, die wich­tigste Bezugs­quelle für High-Tech-Pro­dukte in Russ­land. Länder, die selbst keine Sank­tio­nen ver­hängt haben, ver­fü­gen aktuell ent­we­der nicht über diese Tech­no­lo­gien oder wollen sie nicht teilen, da sie Kon­kur­renz aus Russ­land oder west­li­che Sekun­där­sank­tio­nen fürch­ten. Das gilt beson­ders für China. Der Ausfall west­li­cher Tech­no­lo­gie­lie­fe­ran­ten ist ein beson­de­res Problem für die Erschlie­ßung neuer, oft schwer zugäng­li­cher rus­si­scher Ölre­ser­ven und für die Auf­recht­erhal­tung der großen, zur Finan­zie­rung des Krieges erfor­der­li­chen Fördermengen.

Stei­gen­der Druck seitens der USA behin­dert außer­dem zuneh­mend die Ent­wick­lung des rus­si­schen Flüs­sig­gas­sek­tors. Dabei sollte das LNG eigent­lich der von Pipe­line-Stopps (Nord Stream, Ukraine) betrof­fe­nen Branche mehr Fle­xi­bi­li­tät ver­schaf­fen und Russ­lands Posi­tion am Welt­markt stärken.

Die stei­gen­den Inves­ti­tio­nen in die rus­si­sche Wirt­schaft, die 2024 etwa 10 Prozent über dem Vor­jah­res­zeit­raum liegen, fließen haupt­säch­lich in die Rüs­tungs­in­dus­trie und in den Ersatz west­li­cher Pro­duk­ti­ons­werk­zeuge. Dieser tech­ni­sche Rück­schritt in Ver­bin­dung mit Russ­lands demo­gra­phi­scher Krise ist bereits jetzt ein großer Hemm­schuh. In der Folge werden die Pro­duk­ti­onskosten steigen und das Wirt­schafts­wachs­tum auf der Strecke bleiben. Dies lässt sich bereits seit dem zweiten Quartal 2024 beob­ach­ten. Bis 2025 soll das Wachs­tum auf unter 1,5 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts fallen. Ange­sichts solcher Pro­duk­ti­ons­be­schrän­kun­gen werden die umfang­rei­chen Staats­aus­ga­ben wohl eher die Infla­tion ankur­beln als das Wachstum.

Die Finanz­sank­tio­nen haben sich eben­falls als recht wirksam erwie­sen. Bereits seit 2014 hat Russ­land keinen Zugang mehr zu inter­na­tio­na­lem Kapital. Die Durch­set­zung finan­zi­el­ler Sank­tio­nen ist leich­ter als bei Han­dels­be­schrän­kun­gen, nicht zuletzt auf­grund von Com­pli­ance-Anfor­de­run­gen an Kre­dit­in­sti­tute wie das Know-Your-Cus­to­mer-Prinzip. Die Wirk­sam­keit dieser Sank­tio­nen steigt noch wegen der Furcht von Banken in China, der Türkei und den Golf­staa­ten, durch Sekun­där­sank­tio­nen vom ame­ri­ka­ni­schen Finanz­markt aus­ge­schlos­sen zu werden, wenn sie mit rus­si­schen Kunden arbei­ten. Für rus­si­sche Unter­neh­men wurde es im ersten Halb­jahr 2024 zuneh­mend schwe­rer, inter­na­tio­na­len Zah­lungsverkehr abzu­wi­ckeln und aus­län­di­sche Devisen zu beschaf­fen, was wie­derum ihre Import­mög­lich­kei­ten ein­schränkt. In der zweiten Jah­res­hälfte ver­schärf­ten sich auch die Pro­bleme mit Exportzah­lun­gen. Der geringe Zufluss an Devisen schwächt den Rubel und stei­gert den Inflationsdruck.

.
„Russland könnten Ende 2025 die Reser­ven ausgehen“

Da auch die Reser­ven der Regie­rung zur Neige gehen, bekom­men Unter­neh­men und Bevöl­ke­rung die Kriegs­kos­ten zuneh­mend zu spüren. Russ­lands Liqui­di­täts­re­ser­ven im Natio­na­len Ver­mö­gens­fonds waren im Novem­ber 2024 auf 56 Mil­li­ar­den Dollar oder 2,8 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts geschrumpft, und Russ­land hat außer­dem ein anhal­ten­des Haus­halts­de­fi­zit von 2 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts zu finan­zie­ren. Somit könnten die Reser­ven Ende 2025 auf­ge­braucht sein. Der Kreml wird seine Steu­er­ein­nah­men nicht weiter erhöhen können und daher die Staats­aus­ga­ben weiter ein­schrän­ken müssen. Wla­di­mir Putin spe­ku­liert darauf, dass die Unter­stüt­zung des Westens für die Ukraine eher nach­lässt als ihm das Geld zur Finan­zie­rung des Krieges ausgeht. Das sollten wir nicht zulassen

.
Schwach­stel­len der Sanktionen

Derzeit stellen Energie-Exporte eine stetige Ein­kom­mens­quelle für die Kriegs­fi­nan­zie­rung dar. Russ­land ver­dient noch immer am Export von Öl (auf­grund von Aus­nah­me­re­ge­lun­gen) und Gas (auf­grund feh­len­der Beschrän­kun­gen) in die Euro­päi­sche Union. Seit Mitte 2023 wird rus­si­sches Öl, oft mit Unter­stüt­zung west­li­cher Unter­neh­men, sogar über dem gede­ckel­ten Preis von 60 Dollar pro Barrel gehan­delt. Schät­zun­gen zufolge wurden bis Mitte 2024 etwa 35 Prozent der Ölex­porte im See­ver­kehr von Tankern transpor­tiert, die Ländern inner­halb der Ölpreis­de­ckel-Koali­tion gehören oder von ihnen ver­si­chert wurden, während der Rest mit der soge­nann­ten Schat­ten­flotte ver­schifft wurde. Diese Flotte stellt eine extreme Bedro­hung für die Sicher­heit des See­ver­kehrs und die Umwelt dar, da viele der Tanker veraltet sind und mit uner­fah­re­ner Besat­zung fahren.

Die Wirkung der Han­dels­sank­tio­nen wird durch die Umge­hung über Dritt­staa­ten stark unter­lau­fen. Das macht sich ins­be­son­dere bei Gütern und Tech­no­lo­gien für den Rüs­tungs­sek­tor bemerk­bar. Paralell zum Rück­gang der EU-Exporte nach Russ­land gab es 2023 einen deut­li­chen Anstieg bei den Expor­ten in Nach­bar­län­der der Rus­si­schen Föde­ra­tion, beson­ders in die Türkei, nach Belarus, Kasach­stan und Kir­gi­si­stan. Gleich­zei­tig gab es einen merk­li­chen Auf­schwung bei Lie­fe­run­gen aus diesen soge­nann­ten Ver­bin­dungs­län­dern nach Russ­land, woraus zu schlie­ßen ist, dass auf diesem Wege Sank­tio­nen umgan­gen wurden. Diese Trends zeich­ne­ten sich beson­ders deut­lich im deut­schen und pol­ni­schen Außen­han­del ab.

.
Stär­kung der Sanktionen

Die Wirk­sam­keit der aktu­el­len Sank­tio­nen lässt sich durch vier klare Ansätze steigern.

1) Auch wenn die finan­zi­el­len Sank­tio­nen bereits sehr effek­tiv waren, könnte eine größere Strin­genz bei allen betei­lig­ten Ländern ihre Wirkung noch stei­gern. Die USA sind hier führend, aber auch die Euro­päi­sche Union sollte sie aktiv aus­wei­ten und durch­set­zen und Sekun­där­sank­tio­nen gegen Akteure aus Dritt­län­dern ver­hän­gen, die sich an Sank­ti­ons­ver­mei­dung betei­li­gen. Eine weitere Ver­schär­fung der Finanz­sank­tio­nen durch Brüssel, etwa durch Aus­schluss von mehr rus­si­schen Insti­tu­tio­nen (dar­un­ter die Gaz­prom­bank) vom EU-Finanz­markt, durch den zwangs­wei­sen Abzug euro­päi­scher Banken aus Russ­land und die Andro­hung von Sekun­där­sank­tio­nen an Dritt­län­der, die Russ­land unter­stüt­zen, hätte nega­tive Aus­wir­kun­gen auf Russ­lands finan­zi­elle Sta­bi­li­tät. Polen und Deutsch­land könnten sich gegen Zah­lun­gen für rus­si­sche Ener­gie­ex­porte stark machen, was für den rus­si­schen Staats­haus­halt ein emp­find­li­cher Schlag wäre.

2) Die Han­dels­be­schrän­kun­gen können weiter ange­zo­gen werden. His­to­risch gesehen war Europa stets Russ­lands wich­tigs­ter Han­dels­part­ner: im Export (Öl und Gas), aber auch im Import von High-Tech-Indus­trie­gü­tern bis hin zu Ver­brau­cher­pro­duk­ten. Daher hat Europas rigo­ro­ses Vor­ge­hen auch den größten Ein­fluss auf die Wirkung der Han­dels­be­schrän­kun­gen.(8) Andere west­li­che Länder, dar­un­ter die USA, hatten zuvor nur schwa­che Han­dels­be­zie­hun­gen mit Russ­land und spielen daher in diesem öko­no­mi­schen Macht­ge­füge eine unter­ge­ord­nete Rolle. Es ist vor allem an den Behör­den, Erken­nungs­me­cha­nis­men für unge­wöhn­li­che Han­dels­mus­ter zu stärken. Lie­fe­run­gen in Nachbar­länder Russ­lands, die in Art, Häu­fig­keit und Menge von der Vor­kriegs­zeit abwei­chen, sollten sys­te­ma­tisch auf­ge­zeigt werden, vor allem bei Dual-Use-Gütern. Wenn diese Maß­nah­men auf EU-Ebene koor­di­niert werden würden, wären Schlupf­lö­cher schwie­ri­ger zu finden.(9)

Auß­der­dem sollte ein voll­stän­di­ges Ende der Öl- und Gas­lie­fe­run­gen aus Russ­land prio­ri­siert werden. Eine inner­eu­ro­päi­sche Las­ten­tei­lung kann die durch einen Stopp rus­si­scher Ener­gie­im­porte erzeug­ten wirt­schaft­li­chen Belas­tun­gen abfan­gen. Das würde die Ein­nah­men des Kremls für die Kriegs­fi­nan­zie­rung emp­find­lich schmä­lern. Es ist außer­dem im gemein­sa­men Inter­esse Deutsch­lands und Polens, die Akti­vi­tä­ten der Schat­ten­flotte in der Ostsee ein­zu­schrän­ken. Das ist zumin­dest in Teilen eines der Ziele des jüngs­ten EU-Sank­ti­ons­pa­kets vom Dezem­ber 2024. Beide Länder könnten sich auch für ein Embargo auf Uran­im­porte aus Russ­land und ein Koope­ra­ti­ons­ver­bot mit Rosatom ein­set­zen. Der staat­li­che Atom­konzern spielt eine wich­tige Rolle in der rus­si­schen Außen­po­li­tik, vor allem gegen­über Ländern im glo­ba­len Süden, und trägt eben­falls zum Staats­haus­halt bei.

3) Euro­päi­sche Kon­zerne müssen stärker in die Ver­ant­wor­tung genom­men werden, die Ein­hal­tung der EU-Sank­tio­nen auch bei Tochter unter­neh­men in Dritt­län­dern zu über­wa­chen. Die Auflage des 14. Sank­ti­ons­pa­kets, sich „nach besten Kräften zu bemühen“, geht nicht weit genug. Die Leit­li­nien der EU-Kom­mis­sion, in denen der Grund­satz der Bemü­hun­gen „nach besten Kräften“ erläu­tert wird, sind recht­lich nicht bindend. Jeder Mit­glieds­staat kann zu Umfang und Umset­zung der Maß­nah­men eine eigene Posi­tion beziehen.

4) Im Hin­blick auf die Errei­chung ihres Haupt­ziels, auf ein Ende des Krieges hin­zu­wir­ken, sollten euro­päi­sche Ent­schei­dungs­trä­ger vor allem Klar­heit über die Bedin­gun­gen für eine Auf­he­bung der Sank­tio­nen schaf­fen. Ange­sichts der aktu­el­len Kreml-Politik sollte sich die west­li­che Koali­tion natür­lich erst einmal darauf kon­zen­trie­ren, die Sank­tio­nen aus­zu­wei­ten und sich von der rus­si­schen Wirt­schaft zu ent­kop­peln. Damit die Maß­nah­men wirksam bleiben, müssen allerdings auch die Bedin­gun­gen für eine Auf­he­bung klar kom­mu­ni­ziert werden. Die Auf­he­bung der Finanz­sank­tio­nen sollte etwa von der Wie­der­her­stel­lung der ter­ri­to­ria­len Unver­sehrt­heit der Ukraine abhän­gig gemacht werden. Han­dels­sank­tio­nen können erst nach der Zahlung von Repara­tionen auf­ge­ho­ben wurden. Diese Klar­heit wirkt sowohl abschre­ckend als auch als Anreiz für Russ­land und legt kon­krete Schritte dar, die Vor­aus­set­zung für eine Nor­ma­li­sie­rung der Bezie­hun­gen und für eine Ver­rin­ge­rung der wirt­schaft­li­chen Iso­la­tion sind. Umge­kehrt sollte der Westen sich nicht auf eine Locke­rung des Sanktions­regimes ein­las­sen, sobald Russ­land auch nur die Kampf­hand­lun­gen ein­stellt, wie von rus­si­scher Seite oft gefor­dert wurde. Denn so könnte der Kreml wirt­schaft­lich und mili­tä­risch wieder auf­rüs­ten, was künftig zu einer noch aggres­si­ve­ren Politik gegen­über seinen west­li­chen Nach­barn führen dürfte.

Kapitel 5

WARUM DAUERHAFTER FRIEDEN IN EUROPA
NUR MIT POLITISCHEM WANDEL IN RUSSLAND MÖGLICH IST

Russ­lands revan­chis­ti­sche Außen­po­li­tik hängt direkt mit dem Cha­rak­ter seines poli­ti­schen Regimes zusam­men. Solange das auto­ri­täre, klep­to­kra­ti­sche und über­zen­tra­li­sierte Regime an der Macht ist, erscheint keine inno­va­tive poli­ti­sche, soziale und wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung möglich. Eine umfas­sende Moder­ni­sie­rung würde eine poli­ti­sche Libe­ra­li­sie­rung erfor­dern, die der Kreml als exis­tenz­be­dro­hend erach­tet. Das über­ge­ord­nete Ziel der herr­schen­den Elite ist der lebens­lange Erhalt ihrer poli­ti­schen Macht – denn nur das sichert ihren mate­ri­el­len Wohl­stand und per­sön­li­che Sicherheit.

Während Wla­di­mir Putins schein­bar sta­bi­ler Herr­schaft wurde Russ­land in einem per­ma­nen­ten Zustand der „Spe­zi­al­ope­ra­tion“ regiert. Der Kreml machte sich mili­tä­ri­sche Kon­flikte (von Tsche­tsche­nien bis zur Ukraine) und Wirt­schafts­kri­sen zu Nutze, um die Art der Kom­mu­ni­ka­tion zwi­schen Regie­rung und Gesell­schaft zu ändern und damit die Grenzen des Hin­nehm­ba­ren in Innen- und Außen­po­li­tik zu ver­schie­ben. Die Mas­sen­pro­teste gegen Putin 2011/​12 haben den Kreml darin bestärkt, jede Demo­kra­tie­be­we­gung in Russ­land und in benach­bar­ten Ländern zu unter­drü­cken. Die sys­te­ma­ti­sche Unter­drü­ckung der Zivil­ge­sell­schaft, der Mei­nungs­frei­heit und jeg­li­cher Form demo­kra­ti­scher Oppo­si­tion war die Vor­aus­set­zung für Russ­lands Groß­in­va­sion der Ukraine und die schnelle Unter­drü­ckung von Pro­tes­ten gegen den Krieg. Das Regime nutzt den Krieg, um seine neo-tota­li­täre Ein­mi­schung in das Pri­vat­le­ben seiner Bürger, wie mas­sen­hafte Zensur, Indok­tri­nie­rung von Kindern und Jugend­li­chen und digi­tale Über­wa­chung, auszuweiten.

Ein bru­ta­ler Krieg wie in der Ukraine mit seinen zer­stö­re­ri­schen Folgen, auch für die rus­si­sche Bevöl­ke­rung, ist nur in einer ato­mi­sier­ten Gesellschaft ohne poli­ti­sche Hand­lungs­fä­hig­keit möglich.

In den mehr als drei Jahr­zehn­ten seines Bestehens als post­so­wje­ti­scher Staat war Russ­land nicht in der Lage, eine post­im­pe­riale natio­nale Iden­ti­tät aus­zu­bil­den. Dazu hätte es einer ernst­haf­ten Aus­ein­an­der­set­zung mit seiner tota­li­tä­ren Ver­gan­gen­heit bedurft. Und das liefe absolut gegen die innen­po­li­ti­schen Ziele des Regimes. Um sein zuneh­mend unter­drü­cken­des Vor­ge­hen zu legi­ti­mie­ren, beför­dert das Regime eine revan­chis­ti­sche, impe­ria­lis­ti­sche Idee, die sich aus der Tra­di­tion der Zaren­zeit und der Sowjet­union ablei­tet. Getrie­ben von einem Min­der­wer­tig­keits­kom­plex und Res­sen­ti­ments gegen den Westen nach der Nie­der­lage im Kalten Krieg wird die Sowjet­ver­gan­gen­heit glo­ri­fi­ziert und die vor­so­wje­ti­sche impe­ria­lis­ti­sche Ver­gan­gen­heit heraufbeschworen.

Dieses Nar­ra­tiv zeich­net das Land als tau­send­jäh­rige Zivi­li­sa­tion, die auf alle Zeiten vom Westen bedroht wird. Russ­land wird als letzte Bastion dar­ge­stellt, die „tra­di­tio­nelle Werte“ gegen die „destruk­tive“ und „deka­dente“ libe­rale Demo­kra­tie ver­tei­digt. Um Russ­lands Groß­macht­stel­lung wie­der­zu­er­lan­gen, fordert die Führung eine geo­gra­phi­sche Puf­fer­zone (Cordon sani­taire). Dadurch soll der Westen auf Abstand gehal­ten und ver­hin­dert werden, dass demo­kra­ti­sche Ideen die rus­si­sche Gesell­schaft kon­ta­mi­nie­ren. Gewalt und Mili­ta­ris­mus werden als inhä­rente Bestand­teile des rus­si­schen Erbes betrach­tet. Mili­tä­ri­sche Inter­ven­tio­nen in Nach­bar­län­dern werden als „prä­ven­tive“ Ver­tei­di­gung gegen den Westen präsentiert.

Das Konzept der „bela­ger­ten Festung“ Russ­land findet in der rus­si­schen Bevöl­ke­rung breiten Anklang. Ihrer Auto­no­mie und poli­ti­schen Hand­lungs­fä­hig­keit beraubt sucht sie Kom­pen­sie­rung in der All­macht des Staates. Das Regime recht­fer­tigt den Krieg gegen die Ukraine und den „kol­lek­ti­ven Westen“ als Neu­auf­lage des Großen Vater­län­di­schen Krieges – ein mäch­ti­ges Nar­ra­tiv, das weite Teile der Bevöl­ke­rung vereint, und ein wirk­sa­mes Mittel, um patrio­ti­sche Unter­stüt­zung für die Regie­rung zu gene­rie­ren und von Repres­sion und Kor­rup­tion abzu­len­ken. Russ­lands Natio­nal­stolz speist sich teil­weise aus der Angst der anderen vor seiner Zerstörungskraft.

Neben diesen Nar­ra­ti­ven sind durch groß­zü­gige Tran­fer­leis­tun­gen, Bezah­lun­gen und Pri­vi­le­gien für aus­ge­wählte Gruppen neue Begüns­tigte des Krieges ent­stan­den. Dazu gehören Ver­tre­ter der Ver­tei­di­gungs­in­dus­trie, des Unter­drü­ckungs­ap­pa­rats sowie Pro­fi­teure der schlei­chen­den Ver­staat­li­chung der Wirt­schaft und der Beschlag­nah­mung von Ver­mö­gen rus­si­scher und aus­län­di­scher Unter­neh­men, aber auch Kriegs­teil­neh­mer und ihre Fami­lien. Letz­tere kommen oft aus bit­ter­ar­men Pro­vin­zen und genie­ßen einen nie für möglich gehal­te­nen sozia­len und finan­zi­el­len Auf­stieg. Damit unter­streicht der Kreml sein Nar­ra­tiv, dass Krieg nicht nur ein Nor­mal­zu­stand, sondern auch ein gewinn­brin­gen­des Geschäft und ein Weg zu Wohl­stand ist.

.
Was getan werden muss

Solange die der­zei­ti­gen Macht­struk­tu­ren in Russ­land bestehen, wird es eine aggres­sive Außen­po­li­tik betrei­ben und eine große Bedro­hung für die euro­päi­sche Sicher­heits­ord­nung bleiben.

Deshalb sollte die Russ­land­po­li­tik des Westens darauf abzie­len, dass a) Wla­di­mir Putin mit seinen impe­ria­lis­ti­schen Absich­ten schei­tert und b) tief­grei­fen­der poli­ti­scher Wandel in Russ­land möglich wird.

Während eine ent­wi­ckelte Demo­kra­tie in nächs­ter Zeit für Russ­land keine rea­lis­ti­sche Per­spek­tive ist, sind Libe­ra­li­sie­rung, Dezen­tra­li­sie­rung und Plu­ra­lis­mus erreich­bar – wenn auch nicht leicht. Ein rea­lis­ti­sches Minimum wäre mehr poli­ti­scher Wett­be­werb inner­halb der Macht­elite und zwi­schen ein­fluss­rei­chen Gruppen. So könnte das Monopol der kleinen herr­schen­den Gruppe auf­ge­weicht werden, die bislang ohne jeg­li­che Kon­trolle Ent­schei­dun­gen mit wesent­li­chen Aus­wir­kun­gen auf die globale Sicher­heits­ord­nung trifft. Die Auf­he­bung repres­si­ver Gesetze, die Frei­las­sung poli­ti­scher Gefan­ge­ner und die Auf­he­bung der Zensur sollten im Kern dieses Pro­zes­ses stehen.

Natür­lich kann nur die rus­si­sche Bevöl­ke­rung das Land ver­än­dern, aber die Politik des Westens kann Rah­men­be­din­gun­gen schaf­fen, die für mehr Offen­heit und Plu­ra­lis­mus för­der­lich sind. Eine solche Politik sollte sich auf Fol­gen­des konzentrieren:

.
I. Putins impe­ria­les Projekt in Miss­kre­dit bringen und ihn in den Augen der eigenen Bevöl­ke­rung delegitimieren

Ein Schei­tern von Putins neo­im­pe­ria­lis­ti­schen Vor­ha­ben in der Ukraine würde dem poli­ti­schen Estab­lish­ment in Russ­land und der Bevöl­ke­rung zeigen, dass Krieg eine Gefahr für Russ­lands Zukunft ist. Solange der Mili­ta­ris­mus und die Vor­stel­lung von der Wie­der­be­le­bung eines ver­gan­ge­nen Impe­ri­ums nicht umfas­send kom­pro­mit­tiert sind, werden sich künf­tige Regie­run­gen wahr­schein­lich weiter darauf berufen, um ihre Macht zu sichern. Das würde auf Jahr­zehnte hinaus für Span­nun­gen sorgen und die euro­päi­sche Sicher­heit bedrohen.

Auch hier ist die der­zei­tige unent­schlos­sene Politik des Westens gegen­über Moskau kon­tra­pro­duk­tiv. Solange er noch an einen mili­tä­ri­schen Sieg auf­grund der schein­ba­ren Schwä­che des Westens glauben kann, sind Ver­hand­lun­gen mit Putin ver­früht. Sie würden seine Stel­lung in Russ­land weiter stärken, wodurch er weitere Res­sour­cen für den Krieg mobi­li­sie­ren könnte. Ver­hand­lun­gen zu diesem Zeit­punkt würden anderen aggres­si­ven revan­chis­ti­schen Staaten signa­li­sie­ren, dass das Völ­ker­recht zahnlos und das Recht auf Seiten der Mäch­ti­gen ist, und dass sogar geno­zi­dale Hand­lun­gen unge­sühnt bleiben. Ins­ge­samt würde das den welt­wei­ten Rück­gang von Demo­kra­tie und den Auf­stieg auto­ri­tä­rer Systeme beschleunigen.

Jahr­zehn­te­lang hat der Westen Putins zuneh­mend repres­si­ves Regime in den Augen der rus­si­schen Gesell­schaft und der inter­na­tio­na­len Gemein­schaft legi­ti­miert. Russ­land inves­tierte west­li­ches Geld in seine Armee, seinen Unter­drü­ckungs­ap­pa­rat, seine Pro­pa­gan­da­ma­schi­ne­rie und seine sub­ver­si­ven Ope­ra­tio­nen gegen west­li­che Demo­kra­tien. Gleich­zei­tig zahlte das Regime nur einen gerin­gen oder gar keinen Preis für seine mas­si­ven Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen, die der Voll­in­va­sion von 2022 vorangingen.

Nun ist es im stra­te­gi­schen Inter­esse des Westens, Putins Regime zu dele­gi­ti­mie­ren und seinen poli­ti­schen Nie­der­gang zu beför­dern. Das wäre eine Chance für poli­ti­schen Wandel. Eine reso­lute mili­tä­ri­sche, poli­ti­sche und wirt­schaft­li­che Unter­stüt­zung der Ukraine, die dem Land erlaubt, den Krieg zu seinen Bedin­gun­gen zu beenden, könnte zusam­men mit wirk­sa­me­ren Sank­tio­nen Span­nun­gen inner­halb der herr­schen­den Eliten und damit einen poli­ti­schen Füh­rungs­wech­sel ermög­li­chen – vor allem, wenn die Moral in der Armee schnell schwin­det. Die Angriffe gegen mili­tä­ri­sche Ziele inner­halb Russ­lands und die zuneh­men­den wirt­schaft­li­chen Pro­bleme im Alltag machen es wahr­schein­li­cher, dass Zweifel am Sinn des Krieges und an Putins Zuver­läs­sig­keit als Garant für Sicher­heit und Sta­bi­li­tät aufkommen.

So schwer es auch sein mag, der Westen sollte darauf hin­ar­bei­ten, Russ­lands Nomen­kla­tur zu spalten. Die­je­ni­gen, die öffent­lich gegen den Krieg Posi­tion bezie­hen und sich glaub­wür­dig an die Seite Kyjiws stellen, sollten im Westen Sicher­heit ange­bo­ten bekom­men. Solange sie keine Kriegs­ver­bre­chen began­gen haben, sollten sie von Sank­tio­nen aus­ge­nom­men werden. Der­ar­tige Risse könnten die Vor­stel­lung ent­kräf­ten, dass kein anderes Regime möglich sei.

Ziel des Westens sollte sein, der Nor­ma­li­sie­rung des Krieges in den Augen der rus­si­schen Öffent­lich­keit etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Die Wider­le­gung anti­west­li­cher Nar­ra­tive sollte Teil dieser Stra­te­gie sein. Obwohl die Unter­stüt­zung für den Krieg und das Regime nach wie vor groß ist, sind die Aus­sich­ten nicht so rosig wie der Kreml sie dar­stellt. Die Pro­pa­ganda-Müdig­keit nimmt zu und die wirt­schaft­li­chen Pro­bleme des Landes treten immer mehr ins öffent­li­che Bewusst­sein. Die Bindung an die besetz­ten Gebiete in der Ukraine ist schwach und eher abs­trakt. Doch die größte, von staat­li­cher Pro­pa­ganda geschürte Angst ist, dass eine Nie­der­lage im Krieg den end­gül­ti­gen Unter­gang Russ­lands bedeu­ten würde.

.
II. Plu­ra­lis­mus und poli­ti­sche Alter­na­ti­ven unterstützen

Es gibt noch immer Mil­lio­nen unab­hän­gig denkender Men­schen in Russ­land. Da poli­ti­sche Opposi­tion aber de facto ver­bo­ten ist, haben es viele Akti­vis­ten, Mei­nungs­ma­cher, Jour­na­lis­ten und Künst­ler zuneh­mend schwer, Räume für kri­ti­schen Diskurs und bür­ger­schaft­li­chen Geist offenzuhal­ten. Diese Men­schen ver­die­nen eine verlässliche, lang­fris­tige und stra­te­gi­sche Unter­stützung des Westens. Das ist nicht nur ein huma­ni­tä­res Projekt, sondern ein poli­ti­sches Unter­fan­gen, dass zur euro­päi­schen Sicher­heit beiträgt.

Dabei sind zwei Dimen­sio­nen des Enga­ge­ments solcher Men­schen beson­ders wichtig:

  • Erstens errei­chen einige unab­hän­gige Medien trotz stren­ger Zensur immer noch Rus­sin­nen und Russen. Während Exil­me­dien regime- und kriegs­kri­ti­sche Inhalte offen ver­brei­ten können, müssen in Russ­land ver­blie­bene Medien Inhalte vor­sich­tig auf ein bestimm­tes Publi­kum zuschnei­den. Codierte („Äso­pi­sche“) Sprache und eine Bericht­erstat­tung über die Mühen des rus­si­schen Alltags statt über „große Politik“ sind oft wirk­same Mittel zur Ver­brei­tung kri­ti­scher Botschaften.
  • Zwei­tens ist in einem zuneh­mend tota­li­tä­ren Staat die Über­win­dung gesell­schaft­li­cher Zer­splitterung und Ver­trau­ens­bil­dung inner­halb lokaler Gemein­schaf­ten ein Wert an sich. Kleine Schritte wie äußer­lich unpo­li­ti­sche Initia­ti­ven von Akti­vis­ten können in Zukunft eine wich­tige Wirkung haben, wenn die Repres­sio­nen gelo­ckert werden.

Seit 2022 erlebt Russ­land die größte Welle poli­ti­scher Emi­gra­tion in seiner jün­ge­ren Geschichte. Unter den Hun­der­tau­sen­den im Exil befin­det sich eine relativ kleine, aber aktive Gruppe von Bür­ger­recht­lern, Poli­ti­ke­rin­nen, Jour­na­lis­ten und Wis­sen­schaft­le­rin­nen,  die sich in zivil­ge­sell­schaft­li­chen Initia­ti­ven für unab­hän­gige Medien und poli­tisch engagieren.

Die Unter­stüt­zung für demo­kra­ti­sche Gruppen in Russ­land und im Exil muss klaren poli­ti­schen Kri­te­rien folgen: die Begüns­tig­ten müssen sich gegen Krieg, Auto­ri­ta­ris­mus und Impe­ria­lis­mus ein­set­zen, auch wenn sie bei öffent­li­chen Akti­vi­tä­ten vor­sich­tig sein müssen. West­li­che Geld­ge­ber sollten sich auf Metho­den besin­nen, die gegen die sowje­ti­sche Unter­drü­ckung ein­ge­setzt wurden, etwa die Bekannt­ma­chung von Kriegs­gräuel und staat­li­cher Ver­bre­chen gegen die eigene Bevölkerung.

Die meisten Akti­vis­tin­nen und Akti­vis­ten werden in einer Zeit nach Putin poli­tisch wohl keine ent­schei­dende Rolle spielen. Doch bei der Erar­bei­tung von Kon­zep­ten und Visio­nen für poli­ti­sche Libe­ra­li­sie­rung und Plu­ra­lis­mus in einem künf­ti­gen Russ­land können sie eine große Rolle spielen. So können sie mit der rus­si­schen Bevöl­ke­rung über das „Leben nach Putin“ und „nach dem ver­lo­re­nen Krieg“ und über die Bedin­gun­gen für eine künf­tige Wie­der­an­nä­he­rung an den Westen kommunizieren.

Gute Kon­takte zu mög­li­chen „Agents of Change“ in Russ­land und im Exil tragen zu einem bes­se­ren Ver­ständ­nis der poli­ti­schen Land­schaft und der öffent­li­chen Meinung bei, so dass die west­li­che Her­an­ge­hens­weise ent­spre­chend ange­passt werden kann. Für deren Akti­vi­tä­ten wird aber nur dann mehr Raum ent­ste­hen, wenn das System durch eine mili­tä­ri­sche Nie­der­lage und die Aus­wir­kun­gen der Sank­tio­nen ent­schei­dend geschwächt ist.

.
III. Ver­schie­dene Sze­na­rien und poli­ti­sche Ansätze für ein Russ­land nach Putin in Betracht ziehen

Um poli­tisch ange­mes­sen, ver­hält­nis­mä­ßig und koor­di­niert vor­ge­hen zu können, braucht der Westen eine nüch­terne Analyse von Russ­lands Stärken und Schwä­chen im Inneren sowie der Chancen und Risiken eines poli­ti­schen Wandels.

Ein tur­bu­len­ter Umbruch (etwa als Ergeb­nis einer mili­tä­ri­schen Nie­der­lage Moskaus) wird im Westen gerne als schlimms­ter anzu­neh­men­der Fall betrach­tet, auch wenn das bedeu­ten könnte, dass Moskau einer regel­ba­sier­ten inter­na­tio­na­len Ordnung weniger aggres­siv und feind­lich gegen­über­ste­hen würde. Egal, wer an die Macht kommt: zumin­dest in den ersten Jahren hätte eine neue Führung ohne Putin innen­po­li­tisch weniger Kontrolle.

Ein von der Kreml­pro­pa­ganda weit ver­brei­te­tes Ste­reo­typ ist, dass Russ­lands unend­li­che Weiten nur mit harter Hand regiert werden können und dass seine Bevöl­ke­rung fun­da­men­tal unge­eig­net für Demo­kra­tie sei. Darüber hinaus wird Putin als Boll­werk gegen radi­kale Natio­na­lis­ten und kri­mi­nelle Ver­ei­ni­gun­gen dar­ge­stellt, die im Falle seines Sturzes die Macht an sich reißen würden.

In Wirk­lich­keit aber ist Putin der füh­rende Natio­na­list in Russ­land und ein inter­na­tio­nal gesuch­ter Kriegs­ver­bre­cher. Der Schaden, den eine Fort­füh­rung des aktu­el­len Regimes der glo­ba­len Sicher­heits­ord­nung zufügt, wird weithin unter­schätzt. Auch wird die Tat­sa­che über­se­hen, dass der Puti­nis­mus und die dadurch ent­stan­dene Struk­tur­schwä­che ein beacht­li­ches Risiko für eine Desta­bi­li­sie­rung Russ­lands darstellen.

Wenn Putins per­so­na­li­sierte Dik­ta­tur eines Tages endet, kann das System in der Tat insta­bil und chao­tisch werden. Kon­kur­rie­rende Rivalen kämpfen jedoch eher gegen­ein­an­der als gegen ihre Nach­barn. Es gibt außer­dem gute Gründe zu glauben, dass die neuen Herr­scher nicht weniger an der Erhal­tung des nuklea­ren Arse­nals inter­es­siert sein dürften als die post­so­wje­ti­sche Nomen­kla­tura der 1990er. Zumin­dest um sich inter­na­tio­nal Legi­ti­mi­tät zu sichern.

In diesem Zusam­men­hang wird oft gemut­maßt, dass sepa­ra­tis­ti­sche Bewe­gun­gen zu einem Aus­ein­an­der­bre­chen Russ­lands führen könnten. Während es durch­aus in vielen Regio­nen Moskau-kri­ti­sche Stimmen gibt, haben die aller­dings nur wenig mit sepa­ra­tis­ti­schen Strö­mun­gen zu tun. Außer­dem ist Russ­land wesent­lich besser in der Lage, mit grö­ße­ren Tur­bu­len­zen fertig zu werden, als es die Sowjet­union war. Das Wirt­schafts­mo­dell ist immer noch stark markt­ba­siert, kleine und mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men sind bisher fle­xi­bel genug, um trotz des kor­rup­ten Staats­ka­pi­ta­lis­mus zu über­le­ben, und die einst so robuste Zivil­ge­sell­schaft wird sich sicher auch zurück­mel­den, wenn die Repres­sio­nen nachlassen.

Unab­hän­gig davon, wer nach Putin kommt, sollte eine Nor­ma­li­sie­rung der Bezie­hun­gen nicht nur davon abhän­gig gemacht werden, dass Moskau seine aggres­sive Außen­po­li­tik aufgibt und die Ukraine ent­schä­digt, sondern auch von einer Libe­ra­li­sie­rung der Politik im Inland. Das künf­tige Staats­ober­haupt wird wahr­schein­lich schwä­cher und für Druck emp­fäng­li­cher sein; zumin­dest bis seine Macht kon­so­li­diert ist. Der Kreml wird zu seiner Legi­ti­mie­rung auch auf den Westen schauen. Um demo­kra­ti­sche Gruppen inner­halb Russ­lands zu unter­stüt­zen, sollten west­li­che Regie­run­gen bereit für eine Null-Tole­ranz-Politik bei Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen sein.

.
Per­spek­ti­ven für koor­di­nier­tes deutsch-pol­ni­sches Handeln

Obwohl der rus­si­sche Groß­an­griff auf die Ukraine 2022 in Deutsch­land zu einer weitrei­chen­den Ernüch­te­rung bezüg­lich Russ­land geführt hat, ist die Angst davor, dass ein Regime­wech­sel mit Insta­bi­li­tät und unvor­her­seh­ba­ren Kon­se­quen­zen ein­her­ge­hen könnte noch immer weit verbreitet.

Im Gegen­satz dazu herrscht in Polen weniger Sorge vor mög­li­chem poli­ti­schen Chaos in Russ­land. Denn das Land hat während der Besat­zung durch die Sowjet­union im 20. Jahr­hun­dert und durch Russ­land im 19. Jahr­hun­dert den Staats­ter­ror und die Grau­sam­keit des Kremls erfah­ren. Die Wahr­neh­mung Russ­lands in Polen beruht weit­ge­hend darauf, dass das Land 1918 und 1991 seine Sou­ve­rä­ni­tät wie­der­erlan­gen konnte, weil Moskau zu geschwächt für Inter­ven­tio­nen im Ausland war.

Sowohl Polen als auch Deutsch­land haben  eine lange Tra­di­tion der Demo­kra­tie­för­de­rung in Russ­land durch Zusam­men­ar­beit mit der rus­si­schen Zivil­ge­sell­schaft und der demo­kra­ti­schen Oppo­si­tion. Auf dieser Grund­lage sollte es möglich sein, wirk­same Unter­stüt­zung auch in einem zuneh­mend tota­li­tä­ren Umfeld zu leisten.

Deutsch­land hat tra­di­tio­nell umfang­rei­chere zivil­ge­sell­schaft­li­che Bezie­hun­gen zu Russ­land als die meisten anderen EU-Länder. Seit 2022 hat die Bun­des­re­gie­rung diese Politik auf den Prüf­stand gestellt und kon­zen­triert sich nun auf Bezie­hun­gen mit der unab­hän­gi­gen rus­si­schen Zivilgesellschaft.

Gezielte Instru­mente wie Sti­pen­dien und  huma­ni­täre Visa für Ein­zel­per­so­nen sowie gezielte finan­zi­elle Unter­stüt­zung haben Deutsch­land zu einem wich­ti­gen Zentrum für die rus­si­sche Zivil­ge­sell­schaft, unab­hän­gige Medien und die demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion im Exil gemacht. Das Pro­gramm „Ausbau der Zusam­men­ar­beit mit der Zivil­ge­sell­schaft in den Ländern der Öst­li­chen Part­ner­schaft und Russ­land“ des Aus­wär­ti­gen Amts steht auch pol­ni­schen NGOs offen.

Obwohl Polen vom Krieg wesent­lich stärker betrof­fen ist und zwei Mil­lio­nen ukrai­ni­sche Geflüch­tete und Migran­ten auf­ge­nom­men hat, unter­stützt es weiter rus­si­sche Bürger im poli­ti­schen Exil, haupt­säch­lich mit huma­ni­tä­ren Visa und Hilfen für Diaspora-Netzwerke.

Doch alle Bemü­hun­gen zur Unter­stüt­zung der rus­si­schen demo­kra­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft im In- und Ausland werden durch die andau­ern­den Repres­sio­nen im Land und die Kri­mi­na­li­sie­rung aus­län­di­scher Orga­ni­sa­tio­nen als „uner­wünscht“ erschwert. Hier können regel­mä­ßi­ger Aus­tausch und eine Koor­di­na­tion der Agenda zwi­schen der deut­schen und der pol­ni­schen Regie­rung sowie mit deutsch-pol­ni­schen Exper­ten­grup­pen, rus­si­schen NGOs und unab­hän­gi­gen Medien zu einer kohä­ren­te­ren Politik des Westens gegen­über rus­si­schen demo­kra­ti­schen Gruppen und zu einer lang­fris­ti­gen Stra­te­gie für eine Trans­for­ma­tion Russ­lands beitragen.

SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN

Dieser Bericht zeigt, dass sich die Mei­nun­gen deut­scher und pol­ni­scher Exper­ten mehr ähneln denn je. Und zwar nicht nur in der Lage­ein­schät­zung, sondern auch, und das ist wichtig, in Bezug auf die Emp­feh­lun­gen für eine euro­päi­sche Russ­land­po­li­tik. Obwohl die Regie­run­gen in Deutsch­land und Polen in ihrer Politik bezüg­lich des Krieges in vielen Aspek­ten über­ein­stim­men, auch was die Not­wen­dig­keit einer fort­ge­setz­ten Unter­stüt­zung und das unver­äu­ßer­li­che Recht der Ukraine auf Sou­ve­rä­ni­tät angeht, liegen sie doch in ihren Vor­stel­lun­gen über eine Been­di­gung des Krieges weit auseinander. 

Diese unter­schied­li­chen Ziele führen zu deut­li­chen Dif­fe­ren­zen in Art, Geschwin­dig­keit und Umfang der mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung für die Ukraine. Sie führen auch zu abwei­chen­den Prä­fe­ren­zen bei spe­zi­fi­schen Poli­tik­the­men (etwa Sank­tio­nen oder der Grad der Iso­lie­rung des Putin-Regimes). Außer­dem können sich Berlin und War­schau bisher nicht auf eine gemein­same Lösung des „Russ­land-Pro­blems“ einigen. Eine Annä­he­rung der beiden Nach­barn erfor­dert daher einen umfas­sen­den stra­te­gi­schen Dialog und eine Abkehr Deutsch­lands von seiner pater­na­lis­ti­schen Sicht auf Polen.

Eine der größten Schwä­chen in der west­li­chen Her­an­ge­hens­weise an die rus­si­sche Aggres­sion gegen die Ukraine und den hybri­den Krieg gegen den Westen ist das Fehlen eines gemein­sa­men Ziels und einer koor­di­nier­ten Stra­te­gie. Zugleich ist vor dem Hin­ter­grund von Donald Trumps Rück­kehr ins Weiße Haus und der vola­ti­len poli­ti­schen Situa­tion in Europa die Lage im Westen kom­ple­xer denn je. In dieser kri­ti­schen Situa­tion könnte eine wesent­lich engere Zusam­men­ar­beit zwi­schen Deutsch­land und Polen ein wich­ti­ger Beitrag zur Erar­bei­tung eines euro­päi­schen Sicher­heits­kon­sens sein.

Mit Blick auf die kri­ti­sche Zuspit­zung des Krieges in der Ukraine drängt die Zeit, dass Berlin und War­schau (und der Westen ins­ge­samt) eine gemein­same Posi­tion zu einem gewünsch­ten Ausgang des Krieges finden und Schritte erar­bei­ten, um den zu errei­chen. Selbst wenn die Bun­des­tags­wahl am 23. Februar den lang erwar­te­ten Wandel in der Ukraine­po­li­tik bringen sollte, bedeu­tet das nicht auto­ma­tisch, dass sich die Ein­stel­lun­gen zur Been­di­gung des Krieges in beiden Haupt­städ­ten annä­hern werden.

Ein mili­tä­ri­scher und diplo­ma­ti­scher Sieg Russ­lands hätte nicht nur schlimme Folgen für die euro­päi­sche Sicher­heit und die inter­na­tio­nale Ordnung. Er würde auch im west­li­chen Bündnis massiv für Aufruhr sorgen.

Daher glauben wir, dass Europa vor fünf wich­ti­gen Auf­ga­ben steht.

  1. Eine rea­lis­ti­sche Beur­tei­lung dessen, was in dem andau­ern­den Krieg auf dem Spiel steht: Russ­land kämpft nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen uns. Sein Ziel ist dabei nicht, mehr ukrai­ni­sches Ter­ri­to­rium zu beset­zen, sondern das gesamte Land unter seine Kon­trolle zu bringen und damit die inter­na­tio­nale und beson­ders die euro­päi­sche Sicher­heits­ord­nung neu zu defi­nie­ren. Daraus können wir schluss­fol­gern, dass wir uns an einem Wen­de­punkt in der euro­päi­schen Geschichte nach dem Kalten Krieg befin­den. Form und Inhalt des nächs­ten poli­ti­schen Zeit­al­ters hängen von uns ab.
    .
  2. Russ­land die Hoff­nung auf den Sieg nehmen. Uns muss bewusst sein, dass der Kreml weiter hofft, dass er den Krieg gewin­nen kann, weil der Westen uneinig, unent­schlos­sen und von Eska­la­ti­ons­angst getrie­ben ist. Die Schwä­che des Westens macht Russ­land stark, gibt dem Kreml Optio­nen und ver­län­gert damit den Krieg. Wie in den vor­an­ge­gan­ge­nen Kapi­teln dar­ge­stellt, hat Europa neben gestei­ger­ten Waf­fen­lie­fe­run­gen immer noch die Mög­lich­keit, die Sank­tio­nen gegen Russ­land zu ver­schär­fen. In diesem Zusam­men­hang sollten auch ein­ge­fro­rene rus­si­sche Ver­mö­gen, und nicht nur deren Kapi­tal­erträge, zur Unterstüt­zung der Ukraine ein­ge­setzt werden.
    .
  3. Schnellst­mög­lich das mili­tä­ri­sche Poten­zial Europas soweit aus­bauen, damit der euro­päi­sche Beitrag zur NATO-Ver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tät seinem Wirt­schafts­vo­lu­men ent­spricht. Wen
    n wir uns in Europa weiter das poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Enga­ge­ment der USA sichern wollen, dann müssen wir zeigen, dass wir einen fairen Beitrag zur Bünd­nis­ver­tei­di­gung leisten wollen. Die Lage wird sich eher ver­schär­fen, da die USA vor­aus­sicht­lich ihre Auf­merk­sam­keit in Rich­tung Pazifik ver­schie­ben werden. Abge­se­hen von poli­ti­scher Träg­heit gibt es keinen Grund, weshalb Europa seine Ver­tei­di­gung nicht selbst regeln können sollte. Rea­lis­ti­scher­weise muss man sagen, dass das noch viele Jahre dauern wird. Doch die ersten Schritte sollten unver­züg­lich erfol­gen. Mit einem Ver­tei­di­gungs­etat von mehr als 4 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­dukts und einem par­tei­über­grei­fen­den und gesell­schaft­li­chen Konsens geht Polen hier mit bemer­kens­wer­tem Bei­spiel voran.
    .
  4. Endlich eine gemein­same Stra­te­gie zur Ver­ei­te­lung von Russ­lands neo-impe­ria­lis­ti­schen Ambi­tio­nen finden. Dazu müssen bewährte Rou­ti­nen und bequeme, jedoch über­holte Gewohn­hei­ten auf­ge­ge­ben werden. Russ­lands andau­ernde hybride Über­griffe ener­gisch und ohne Zögern zurück­zu­drän­gen und ihnen ernst­hafte Kon­se­quen­zen folgen zu lassen sollte dabei Prio­ri­tät sein. Dazu gehören auch zusätz­li­che Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben auf natio­na­ler und EU-Ebene. Deutsch­land und Polen sollten gemein­same Anstren­gun­gen unter­neh­men, um den euro­päi­schen Pfeiler der NATO zu stärken und eine lang­fris­tige Stra­te­gie gegen­über Russ­land auf­zu­bauen. Deutsch­land ist nach wie vor ein wirt­schaft­li­ches Schwer­ge­wicht und ein wich­ti­ger Akteur in der EU, während Polen auf­grund seiner Unter­stüt­zung für die Ukraine und der Ver­pflich­tung zur Erhö­hung seiner Ver­tei­di­gungs­ka­pa­zi­tä­ten in den letzten Jahren an poli­ti­scher Glaub­wür­dig­keit gewon­nen hat. Für den Anfang könnten Deutsch­land und Polen das bestehende Format des „Wei­ma­rer Drei­ecks“ nutzen und Frank­reich mit einbinden.
    .
    Eine weitere stra­te­gi­sche Mög­lich­keit ist die Bildung einer euro­päi­schen „Koali­tion der Wil­li­gen“, um die Ukraine zu unter­stüt­zen und die euro­päi­sche Ver­tei­di­gung zu stärken. Eine solche Initia­tive muss die gewach­sene Rolle der Länder Mit­tel­ost­eu­ro­pas, des Bal­ti­kums und Skan­di­na­vi­ens wider­spie­geln. Das Gip­fel­tref­fen der Nordic-Baltic-8-Gruppe Ende Novem­ber war ein Schritt in die rich­tige Rich­tung. Dem sollte die Schaf­fung eines insti­tu­tio­na­li­sier­ten Mecha­nis­mus für die Koor­di­nie­rung der Sicher­heits­po­li­tik und den Schnitt­stel­len­auf­bau zwi­schen rele­van­ten Insti­tu­tio­nen der teil­neh­men­den Länder folgen, der sich mit den ver­schie­de­nen Aspek­ten der rus­si­schen Bedro­hung befasst. Dabei muss Sorge getra­gen werden, dass solche Mecha­nis­men den inter­nen Zusam­men­halt zwi­schen der EU und NATO stärken.
    .
  5. Endlich erken­nen, dass Russ­lands aggres­sive Politik tief in seiner poli­ti­schen Kultur und seinem Regie­rungs­sys­tem ver­an­kert ist, und auf unter­schied­li­che Sze­na­rien und Poli­tik­an­sätze für ein Russ­land nach Putin vor­be­rei­tet sein. Jede Form der künf­ti­gen Inte­gra­tion Russ­lands in die inter­na­tio­nale Ordnung erfor­dert eine tief­grei­fende Ver­än­de­rung seines der­zei­ti­gen Regie­rungs­mo­dells. Das kann lange dauern und muss nicht unbe­dingt Erfolg haben. Mit­tel­fris­tig bleibt Russ­land eine große Bedro­hung und Her­aus­for­de­rung für die euro­päi­sche Sicher­heit. Der Westen sollte auf ver­schie­dene Regime­wech­sel-Sze­na­rien vor­be­rei­tet sein. Der Zusam­men­bruch des Assad-Regimes in Syrien hat wieder gezeigt, wie schnell eine lang­jäh­rige Dik­ta­tur zusam­men­bre­chen kann. Zwar ist eine ent­wi­ckelte Demo­kra­tie zunächst für Russ­land keine rea­lis­ti­sche Per­spek­tive, poli­ti­sche Libe­ra­li­sie­rung, Dezen­tra­li­sie­rung und Plu­ra­lis­mus sind aber erreich­bar. Poli­ti­scher Wandel kann nur von der rus­si­schen Bevöl­ke­rung aus­ge­hen, aber die Politik des Westens kann Rah­men­be­din­gun­gen für mehr Offen­heit und Plu­ra­lis­mus schaf­fen. Ziel dieser Politik sollte sein, Putins impe­ria­les Projekt zu Fall zu bringen, die rus­si­schen Eliten zu spalten sowie poli­ti­sche Alter­na­ti­ven zu stärken.

.
Das End­spiel im Ukrai­ne­krieg: Einige Politikempfehlungen

.
1. Einen gemein­sa­men Ansatz für Ver­hand­lun­gen mit Russ­land finden

Nach unserer Auf­fas­sung sind fol­gende Punkte für Europa und den Westen nicht verhandelbar:

  • Die innere Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine; Russ­land hat kein Recht, sich etwa in die Ver­fas­sung des Landes und seine Regie­rung einzumischen.
    .
  • Die externe Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine bezüg­lich ihres Bei­tritts zu NATO und EU.
    .
  • Die euro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur. Zu den rus­si­schen For­de­run­gen vom Dezem­ber 2021 sollte es kei­ner­lei Ver­hand­lun­gen geben.
    .
  • Der Westen sollte eine schritt­weise Auf­he­bung der Sank­tio­nen an ver­bind­li­che Ver­ein­ba­run­gen knüpfen, die weit über ein Ein­frie­ren des Status quo hin­aus­ge­hen. Diese sollten euro­päi­sche Sicher­heits­fra­gen beinhal­ten, etwa den Abzug rus­si­scher Truppen aus der Ukraine und rus­si­scher Atom­waf­fen aus Belarus und Kali­nin­grad, die Frei­las­sung aller ukrai­ni­schen Gefan­ge­nen und poli­ti­schen Häft­linge in Russ­land und die recht­li­che Belan­gung aller Ver­ant­wort­li­chen für den Angriffs­krieg gegen die Ukraine. Auch finan­zi­elle Ent­schä­di­gun­gen Russ­lands für die umfang­rei­che Zer­stö­rung in der Ukraine dürfen nicht fehlen.

.
2. Siche­rung der Ukraine in ihren fak­ti­schen Grenzen 

Eine der wich­tigs­ten Fragen zur poli­ti­schen Bei­le­gung des Krieges ist, wie man Russ­land davon abhält, die Ukraine erneut anzu­grei­fen. Uns sollte klar sein, dass eine Auf­nahme der Ukraine in die EU stabile und ver­läss­li­che Sicher­heits­ga­ran­tien erfordert.

  • Ange­sichts der Unsi­cher­heit bezüg­lich des künf­ti­gen Enga­ge­ments der Trump-Regie­rung muss Europa bereit sein, die Selbst­ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Ukraine dau­er­haft zu stärken.
    .
  • Um die Situa­tion nach einem mög­li­chen Waf­fen­still­stand zu sta­bi­li­sie­ren, sollten Deutsch­land und Polen darauf vor­be­rei­tet sein, eine robuste euro­päi­sche Frie­dens­truppe in der Ukraine ein­zu­set­zen. Vor­zugs­weise mit Betei­li­gung der USA.
    .
  • Wir schla­gen die Schaf­fung eines EU-Son­der­ver­mö­gens für die Finan­zie­rung der Mili­tär­hil­fen für die Ukraine vor, zusam­men mit Maß­nah­men zur Stär­kung des mili­tä­ri­schen Poten­ti­als von EU-Mit­glied­staa­ten gemäß den NATO-Prio­ri­tä­ten zur Schlie­ßung der Fähig­keits­lü­cken. Nur wenn die Euro­päer ihren Beitrag zur NATO erhöhen, werden die USA sich weiter in Europa einbringen.
    .
  • Auch wenn bisher auf­grund wie­der­hol­ten Wider­stands aus Deutsch­land eine baldige NATO-Mit­glied­schaft der Ukraine vom Tisch ist, sollte für Kyjiw der Weg in das Bündnis offen sein und die NATO eine Ein­la­dung aussprechen.

Autoren und Herausgeber

Dieses Paper ist ein Gemein­schafts­pro­jekt des Zen­trums für die Libe­rale Moderne (LibMod) in Berlin
und des Zen­trums für Ost­stu­dien (Osrodek Studiów Wschod­nich, OSW) in Warschau.
© Zentrum für die Libe­rale Moderne, 2024

.

Das Zentrum für die Libe­rale Moderne steht für die Ver­tei­di­gung und Erneue­rung der libe­ra­len Demo­kra­tie, für den Auf­bruch in die öko­lo­gi­sche Moderne und für eine fun­dierte Ost­eu­ropa-Exper­tise. Wir ver­ste­hen uns als poli­ti­scher Think Tank, Debat­ten­platt­form und Sam­mel­punkt für Frei­geis­ter unter­schied­li­cher Couleur. 

.

Das Zentrum für Ost­stu­dien (OSW) ist ein staat­li­ches Insti­tut in War­schau, das wis­sen­schaft­li­che Ana­ly­sen zu Russ­land, Ost- und Mit­tel­eu­ropa, dem Kau­ka­sus, Zen­tral­asien, dem Balkan, Deutsch­land und anderen Welt­re­gio­nen, ein­schließ­lich China und Israel, anfer­tigt. Darüber hinaus forscht das OSW zu spe­zi­fi­schen Themen wie Ener­gie­po­li­tik der EU, zu Verkehr, Handel und euro­päi­scher Sicherheit.

.

Konzept
Ralf Fücks (LibMod)
Wojciech Kon­o­ńc­zuk (OSW)
Irene Hahn-Fuhr (LibMod)
Maria San­ni­kova-Franck (LibMod)
Maria Domańska (OSW)

Autoren
Anders Åslund (Publi­zist und Wirtschaftswissenschaftler)
Maria Domańska (OSW),
Arndt Freytag von Loring­ho­ven (Bot­schaf­ter i.R.)
Ralf Fücks (LibMod)
Gustav Gressel (Lan­des­ver­tei­di­gungs­aka­de­mie, Wien)
Irene Hahn-Fuhr (LibMod)
Julian Hinz (Kiel Insti­tute für Weltwirtschaft)
Wojciech Kon­o­ńc­zuk (OSW)
Robert Pszczel (OSW)
Witold Rod­kie­wicz (OSW)
Maria San­ni­kova-Franck (LibMod)
Konrad Schul­ler (Frank­fur­ter All­ge­meine Sonntagszeitung)
Jacek Taro­ciń­ski (OSW)
Iwona Wiś­niewska (OSW)
Ernest Wyciszkie­wicz (Miero­szew­ski Zentrum)

Redak­tion: Niko­laus von Twickel (LibMod)

Layout: Zahra Rashid (Blu Dot)

V. i. S. d. P.: Ralf Fücks for Zentrum für die Libe­rale Moderne gGmbH

Deut­sche Über­set­zung: Ariane Stark

Dieses Paper ist online auf russlandverstehen.eu/ ver­öf­fent­licht. Das eng­li­sche Ori­gi­nal steht bei libmod.de/network-russia/ und osw.waw.pl/en.

Ver­öf­fent­licht im Dezem­ber 2024 von

Zentrum Libe­rale Moderne
Rein­hardt­straße 15
10117 Berlin
Deutschland

+49 (0)30 – 13 89 36 33
info@libmod.de
www.libmod.de

 

Dieses Paper wurde im Rahmen des vom Aus­wär­ti­gen Amt unter­stütz­ten Pro­jekts „Neue Russ­land­po­li­tik und Unter­stüt­zung der rus­si­schen Zivil­ge­sell­schaft“ ver­öf­fent­licht. Sein Inhalt gibt die per­sön­li­che Meinung der Autoren wieder.

 

Fuß­no­ten

  1. Mehr dazu in Kapitel 5.
  2. Gip­fel­er­klä­rung: https://www.government.se/articles/2024/11/nordic-baltic-summit-and-new-partnership-with-poland/

  3. Ukraine Support Tracker: https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/

  4. Bob Wood­ward, „Krieg“ Carl Hanser Verlag; 3. Edition (21. 10. 2024), S. 175ff;

  5. https://www.politico.eu/article/finland-defense-minister-antti-hakkanen-nato-eu-critical-networks-undersea-cables-damage-russia-baltic-sea
  6. https://www.gov.pl/web/diplomacy/minister-of-foreign-affairs-decides-to-close-russian-consulate-in-poznan
  7. Andere Zahlen, etwa vom Insti­tut Romir, belegen für diesen Zeit­raum einen Preis­an­stieg bei Pro­duk­ten und Dienst­leis­tun­gen von mehr als 20 Prozent.
  8. Da wirt­schaft­li­che Abhän­gig­kei­ten oft bei­der­sei­tig sind, führten die Sank­tio­nen zu wirt­schaft­li­chen und somit auch zu poli­ti­schen Kosten. Ein Bei­spiel dafür war die deut­sche Abhän­gig­keit von rus­si­schem Öl und Gas, die wesent­lich aus­ge­präg­ter war als in anderen euro­päi­schen Ländern, was die poli­ti­sche Ablö­sung von Russ­land erschwerte.

  9. Maß­nah­men zur Bekämp­fung dieses Vor­ge­hens sollten von allen Mit­glieds­staa­ten fort­lau­fend ver­schärft und unter­ein­an­der abge­stimmt werden. (Im ersten Halb­jahr 2024 ver­hängte Polen Geld­stra­fen gegen mehr als 20 Unter­neh­men. Bun­des­wirt­schafts­mi­nis­ter Robert Habeck kün­digte stren­gere Sank­ti­ons­kon­trol­len bei deut­schen Unter­neh­men an.) Auch wenn rus­si­sche Unter­neh­men immer neue Wege finden werden, an Güter zu gelan­gen, treiben Sank­tio­nen die Preise und Lie­fer­zei­ten in die Höhe.

  10. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/europa/erweiterung-nachbarschaft/nachbarschaftspolitik/zivilgesellschaft-projekte-oestliche-partnerschaft-301008.

Hat Ihnen unser Beitrag gefal­len? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spen­den­tool. Sie unter­stüt­zen damit die publi­zis­ti­sche Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nüt­zig aner­kannt, ent­spre­chend sind Spenden steu­er­lich absetz­bar. Für eine Spen­den­be­schei­ni­gung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­da­ten bitte an finanzen@libmod.de

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen


Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.