Herausforderung Russland
Ein polnisch-deutsches Expertenpapier für eine neue Russlandpolitik
von Maria Domańska, Arndt Freytag von Loringhoven, Ralf Fücks, Gustav Gressel, Irene Hahn-Fuhr, Julian Hinz, Wojciech Konończuk, Robert Pszczel, Witold Rodkiewicz, Maria Sannikova-Franck, Konrad Schuller, Jacek Tarociński, Iwona Wiśniewska and Ernest Wyciszkiewicz
Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine ist in einer entscheidenden Phase: Das russische Militär erzielt Geländegewinne, während die westliche Unterstützung der Ukraine stagniert. Dazu kommt die große Unsicherheit über die künftige Politik der USA. In dieser kritischen Phase braucht es Entschlossenheit und politische Führung. Gerade weil es bisher erhebliche Differenzen zwischen Warschau und Berlin gab, sollten beide Länder künftig stärker zusammenarbeiten. Das wäre ein starkes Signal für die anderen EU-Länder.
INHALT
Jeder Abschnitt wurde gemeinsam von einem polnisch-deutschen (bzw. polnisch-österreichischen) Autorenduo verfasst.
von Irene Hahn-Fuhr, Ralf Fücks und Wojciech Konońcuk
Witold Rodkiewicz und Ralf Fücks analysieren die Risiken eines russischen Sieges
Ernest Wyciszkiewicz und Konrad Schuller argumentieren, dass Polen und Deutschland keine gemeinsamen Antworten auf die russische Aggression finden werden, solange Berlin nicht die Grundannahmen der bisherigen deutschen Russlandpolitik überdenkt. Sie schlagen konkrete Möglichkeiten vor, wie eine gemeinsame Politik in Deutschland politische Mehrheiten finden kann.
Gustav Gressel und Jacek Tarociński decken die größten Schwächen in Polens und Deutschlands militärischen Fähigkeiten auf und skizzieren nötige Schritte zu ihrer Überwindung, damit Berlin und Warschau ihre militärische Unterstützung bei der Verteidigung der Ukraine hochfahren können.
Robert Pszczel und Arndt Freytag von Loringhoven analysieren Russlands hybride Kriegsführung gegen den Westen und geben praktische Empfehlungen, wie Berlin und Warschau zusammenarbeiten könnten, um wirksam gegen diese Aggression vorzugehen.
Iwona Wiśniewska und Julian Hinz (mit Unterstützung von Anders Åslund) zeigen, dass Sanktionen tatsächlich die beabsichtigten Ziele erreichen können, und geben Empfehlungen, wie sie noch wirksamer gestaltet werden können.
Maria Domańska und Maria Sannikova-Franck untersuchen die innenpolitischen Ursachen der russischen Aggressionspolitik. Sie argumentieren, dass Russland nur nach tiefgreifenden innenpolitischen Veränderungen dauerhaft weniger aggressiv nach außen sein kann. Sie empfehlen, dass die westliche Politik einen politischen Wandel unterstützen sollte und zeigen auf, wie das gehen könnte.
Ralf Fücks und Wojciech Konończuk fassen die wichtigsten Handlungsempfehlungen für eine neue Russlandpolitik zusammen, ergänzt um Empfehlungen für das politische Vorgehen des Westens im Ukrainekrieg, welches die Zukunft Europas maßgeblich beeinflussen wird.
WOZU DIESES PAPER?
Kann die deutsch-polnische Zusammenarbeit zur treibenden Kraft für eine neue europäische Russlandstrategie werden? Ein starkes Tandem aus Warschau und Berlin würde den Westen mit Sicherheit wesentlich handlungs- und widerstandsfähiger machen. Doch bisher sind Politikansätze unvereinbar. Mit Blick auf die historischen und politischen Höhen und Tiefen in den deutsch-polnischen Beziehungen ist die Russlandpolitik eines der wesentlichen Themen, bei dem die Meinungen traditionell auseinander gehen.
Doch nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Unterschiede ist eine zwischen Deutschland und Polen abgestimmte Russlandstrategie unerlässlich. Könnten diese auf verschiedene historische Erfahrungen zurückgehenden gegensätzlichen Sichtweisen in einer deutsch polnischen Russlandpolitik auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, wäre das Fundament des gemeinsamen europäischen Hauses deutlich gestärkt. Kurz vor Anbruch des vierten Jahres der Großinvasion Russlands kämpft die Ukraine ums Überleben. Wenn Kyjiw noch eine Chance haben soll, den Angriff abzuwehren und den Krieg zu seinen Konditionen zu beenden, ist eine gemeinsame Strategie zweier bedeutender europäischer Unterstützer unerlässlich.
Auch wenn die Kluft zwischen der deutschen und der polnischen Sicht auf Russland nach dem Angriff von 2022 kleiner geworden ist, gibt es immer noch entscheidende Differenzen und sogar eine gewisse Entfremdung: Während Polen von Anfang an ein entschiedenes Vorgehen des Westens gefordert hat, um eine Niederlage des russischen Regimes in der Ukraine zu erreichen, ist die deutsche Politik bis heute wesentlich weniger entschlossen. Im Gegensatz zum polnischen Standpunkt hat sich der deutsche Bundeskanzler nie endgültig dafür entscheiden können, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen.
Die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz unmittelbar nach dem russischen Einmarsch im Februar 2022 gefordert hatte, ist auf der Hälfte stecken geblieben. Die Regierungen in Mittel- und Ost-europa fragen sich deshalb: Wenn wir morgen angegriffen werden, wäre Deutschland dann willens und in der Lage, uns wirksam zu helfen?
Geopolitisch hat Polen an Gewicht gewonnen, und dank seines resoluten Umgangs mit Russland kann Warschau jetzt neue Sicherheitspartnerschaften in der Mitte und im Norden Europas eingehen. Gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten in Skandinavien und im Baltikum baut Polen derzeit eine „Koalition der Willigen“ auf. Polen wartet den Ausgang der Bundestagswahl in Deutschland ab, um einschätzen zu können, inwieweit eine gemeinsame Herangehensweise an die Russlandfrage denkbar ist. Die EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2025 gibt Polen zu diesem entscheidenden Zeitpunkt für die Ukraine und Europa zusätzlichen Rückhalt.
In einer Zeit, da die Zukunft Europas angesichts der russischen Aggression auf dem Spiel steht, sind gemeinsame Anstrengungen Deutschlands und Polens für eine neue europäische Russlandpolitik umso wichtiger. Gerade weil die Achse Paris-Berlin als Motor der westeuropäischen Integration an Zugkraft verloren hat und damit auch die unterschiedlichen Interessen in einer seit 2004 um Mittel- und Osteuropa gewachsenen Union nicht mehr zusammenbringen kann.
Wenn Polen und Deutschland trotz ihrer tief verwurzelten Unterschiede zu einer gemeinsamen Russlandpolitik finden können, wäre dies ein großer Schritt für die europäische Einigkeit. Wegen des unterschwelligen Antagonismus zwischen beiden Ländern wäre eine gemeinsame polnisch-deutsche Russlandpolitik auch für die übrigen Mitgliedsstaaten umso überzeugender. Dabei muss der gemeinsame Nenner nicht auf halbem Weg zwischen den unterschiedlichen Standpunkten gefunden werden. Für einen Neuanfang braucht es politischen Willen, der auf der Erkenntnis beruht, dass es gemeinsame Interessen gibt, für die beide Seiten einstehen müssen.
Dazu soll unser Paper einen Beitrag leisten.
EINLEITUNG
WAS AUF DEM SPIEL STEHT
Der Ausgang des russisch-ukrainischen Krieges wird die künftige Weltordnung, insbesondere den weiteren Weg Europas, bestimmen und damit vielleicht auf Jahrzehnte hinaus festlegen, in welchen Umständen die Menschen hier leben. Daher ist es in Europas ureigenstem Interesse, dass der Krieg zugunsten der Ukraine endet. Dass bedeutet, dass die Ukraine erstens ihre Unabhängigkeit bewahrt, also weiterhin selbstbestimmte Entscheidungen nach innen und außen, etwa über einen NATO- und EU-Beitritt, treffen kann, und zweitens die Kontrolle über Territorien innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen zurückerlangt.
Diese Ziele könnte man als „maximalistisch“ abtun. Doch auf dem Spiel stehen hier nicht weniger als die Grundprinzipien des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung. In der Tat sind diese Ziele nur durch Unterstützung für einen militärischen Sieg der Ukraine, oder zumindest eines Status quo, der Kyjiw eine günstige Verhandlungsposition sichert, zu erreichen. Mit dem Großangriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 begann ein neues Kapitel der europäischen und sogar der Weltgeschichte. Darin gipfelten die revisionistischen Absichten der Russischen Föderation, deren Ziele bereits im Dezember 2021 eindeutig in den an die USA und die NATO vorgelegten russischen Vertragsentwürfen dargelegt waren. Eine Zustimmung des Westens zu diesen Bedingungen würde wie nach der Konferenz von Jalta eine neue Unsicherheitsordnung in Europa schaffen und den Kontinent in Einflusssphären aufteilen, wobei die Ukraine und andere sogenannte postsowjetische Staaten wieder ganz dem Kreml unterstehen würden. Die Länder Mittel- und Osteuropas würden zu einer Pufferzone im Schatten der militärischen Übermacht Moskaus werden.
Solange der Kreml glaubt, dass ein Sieg möglich ist, sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass ein verhandeltes Kriegsende ohne die faktische Unterwerfung der Ukraine akzeptiert werden würde. Und solange der Westen nicht bereit ist, durch Taten zu zeigen, dass politischer Konsens besteht, dem russischen Revisionismus ein Ende zu bereiten, hat der Kreml auch alle Anreize, den Krieg so lange fortzuführen, wie die personellen und materiellen Ressourcen ausreichen. Der im Westen oft diskutierte Kompromissvorschlag nach dem Prinzip „Frieden für territoriale Zugeständnisse“ basiert auf einem grundlegend falschen Verständnis der russischen Hauptkriegsziele, nämlich Kyjiw durch Beschneidung seiner außen- und sicherheitspolitischen Rechte die Souveränität abzusprechen (Neutralisierung und Entmilitarisierung) und ein formales Recht zur Einmischung in die ukrainische Innenpolitik („Entnazifizierung“) zu erlangen.
Das wollen der russische Machthaber Wladimir Putin und sein Gefolge unbedingt erreichen, weil sie einen Sieg in der Ukraine als Voraussetzung für ihr politisches Überleben betrachten. Sie denken, dass die Kontrolle über Kyjiw absolut notwendig ist, um die Sicherheit ihres Regimes zu garantieren und Russland wieder als Großmacht zu etablieren. Sie glauben, nicht ohne Grund, dass eine stabile und funktionierende Demokratie in der Ukraine ihr autokratisches System untergraben würde.
Immer wieder stellt Putin das Existenzrecht der Ukraine als unabhängiger Staat in Frage und behauptet, Russen und Ukrainer seien ein und dasselbe Volk. Dieser imperialistischen Logik zufolge handelt es sich also bei der hemmungslosen Brutalität der russischen Kriegsführung in der Ukraine um eine Strafmaßnahme gegen eine abtrünnige Kolonie und gegen alle Ukrainer, die sich weigern, Teil der „russischen Welt“ zu sein.
Wenn man schließlich bedenkt, wie oft der Kreml bereits in der Vergangenheit völkerrechtliche Abkommen missachtet hat (etwa das Buda pester Memorandum von 1994, den Freundschaftsvertrag mit der Ukraine von 1997, den INF-Vertrag, das Chemiewaffenübereinkommen), dann kann weder die Regierung in Kyjiw noch in anderen westlichen Hauptstädten darauf vertrauen, dass Moskau ein Abkommen nicht wieder verletzen wird, sobald es darin keinen Vorteil mehr sieht.
Daher steht im russisch-ukrainischen Krieg extrem viel auf dem Spiel. Ein Sieg Russlands hätte weitreichende Folgen:
- Er würde das Ende der ukrainischen Souveränität und der ukrainischen Demokratie bedeuten. Er würde außerdem bedeuten, dass Millionen Ukrainer unter russischer Besatzung staatlichen Terror, zwangsweise Entukrainisierung und Russifizierung erleiden würden.
. - In der ukrainischen Bevölkerung könnte ein Sieg Russlands eine Abkehr vom Westen zur Folge haben. Während viele sich weiter für die ukrainische Demokratie und Unabhängigkeit engagieren werden, wird es einige geben, für die der Westen die Ukraine verraten hat. Diese anti-westlichen Ressentiments würde Moskau für seine Zwecke ausnutzen.
. - Eine Beendigung des Krieges zu Putins Bedingungen würde demokratische Akteure in der gesamten Region entmutigen, die hart daran gearbeitet haben, durch eine Hinwendung zum Westen die Unabhängigkeit ihrer Länder zu stärken. Sie hätten umso mehr Angst, dass Russland ungestraft militärischen Zwang anwendet, sobald sie die Toleranzschwellen der Kreml-Politik übertreten.
. - In der gesamten Region würde ein Versagen des Westens allgemein als Bestätigung der Kreml-Propaganda gewertet werden, die behauptet, liberale demokratische Systeme können es in puncto Sicherheit für Bürger und Verbündete nicht mit autoritären Regimen aufnehmen.
. - Eine Kapitulation Kyjiws käme für den Kreml einem Sieg über den Westen gleich und wäre der Beweis, dass letzterer nicht in der Lage ist, seine überlegenen Ressourcen zu mobilisieren und zur Verteidigung der eigenen Bevölkerung und seiner Bündnispartner einzusetzen. Moskau würde sich ermutigt fühlen, den Westen zu provozieren und ähnliche Forderungen zu stellen wie im Dezember 2021, als man unter anderem verlangte, dass keine NATO-Truppen im Territorium der Staaten der Ostflanke stationiert werden dürften. Moskau strebt eine vollständige Revision der Sicherheitsordnung im wiedervereinigten Europa an.
. - Sollte der Einmarsch in die Ukraine auch nur den geringsten Erfolg haben, wird der Kreml mit Sicherheit seine hybriden Angriffe auf den Westen weiter verstärken. Wenn der Kreml zu dem Schluss gelangt, dass wichtige NATO-Staaten (insbesondere die USA, Deutschland und Frankreich) nicht bereit sind, Mitteleuropa und das Baltikum im Bündnisfall nach Artikel 5 militärisch zu verteidigen, könnte Russland versucht sein, in die Staaten der Ostflanke einzumarschieren. Solange Russland an der NATO-Ostflanke verhältnismäßig überlegen ist, könnte sich Moskau trotz seiner militärischen Unterlegenheit gegenüber dem Westen zu solch einem riskanten Schritt entschließen. Ein Angriff an der Ostflanke würde den Westen in ein politisches Dilemma stürzen, da er entweder einen neuen Status quo, bei dem Artikel 5 keine Bündnisgarantie mehr bietet, akzeptieren oder in einen direkten militärischen Konflikt mit Russland treten müsste, bei dem taktische Atomwaffen und nukleare Mittelstreckensysteme zum Einsatz kommen könnten.
. - Insgesamt würde Moskau eine „multipolare“ Weltordnung anstreben, in der Großmächte das Recht hätten, ihre Nachbarn durch Anwendung von Zwang zu „disziplinieren“, Grenzen zu verschieben und Einflusssphären zu etablieren, indem sie anderen Staaten ihren Willen aufzwingen und sie in ihrer Souveränität beschneiden.
. - Global gesehen würde dies Russland, China und andere autoritäre Staaten wie den Iran ermutigen, den Westen an allen Fronten herauszufordern und ihre hegemoniale Agenda aggressiv voranzutreiben. Zweifelsohne würde dann auch die chinesische Führung ihre Ansprüche an Taiwan, Japan und die Philippinen, vielleicht sogar gegen Indien, stärker einfordern. Damit würde sie wiederum zusätzlich Druck auf die USA ausüben, trotz der steigenden Bedrohung durch Russland ihr militärisches Engagement in Europa zurückzufahren. Im schlimmsten Fall wäre ein bewaffneter Konflikt zwischen China und den USA in Ostasien ein weiterer Anreiz für Russland, sich mit militärischen Mitteln in Europa durchzusetzen.
. - Ein Erfolg Russlands in der Ukraine könnte auch zu einer stärkeren Verbreitung von Atomwaffen führen, besonders in Asien. Nach einem sichtlichen Mangel an Entschlossenheit und extremer Risikoscheu seitens ihrer westlichen Verbündeten angesichts einer Bedrohung durch einen mächtigen Rivalen könnten Länder wie Südkorea, Japan und eventuell auch andere ihre eigene Sicherheit wieder mit dem einzig wirksamen Abschreckungsmittel, nämlich mit Atomwaffen, gewährleisten wollen.
Ein Sieg Russlands in der Ukraine wird den Frieden in Europa nicht sichern, sondern stattdessen die Gefahr eines viel weiterreichenden Krieges erhöhen. Mit einer geschlagenen Ukraine würde sich auch das Truppenverhältnis zu Ungunsten des Westens ändern.
Außerhalb Europas wäre eine „multipolare“ Weltordnung mit Großmächten extrem konfliktanfällig. Weder Russland noch China noch andere nicht-westliche Mächte sind willens oder in der Lage, weltweite Stabilität zu gewährleisten. Wenn es Russland gelingt, sich die Ukraine zum Vasallen zu machen, werden andere Mächte das zum Zeichen nehmen, dass das Völkerrecht dem Faustrecht gewichen ist. Sie werden dem Beispiel folgen. Außerdem würde eine siegreiche Allianz der autoritären Mächte die Unterwanderung der demokratischen politischen Systeme des Westens umso schneller vorantreiben.
Aus all diesen Gründen wäre es ein Fehler von historischem Ausmaß, wenn der Westen die Ukraine zu einer Einigung unter russischen Bedingungen drängen würde.
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Der Westen an einem historischen Scheideweg
Für die Beendigung dieses Krieges gibt es nur zwei Szenarien, die realistisch und für den Westen wünschenswert wären. Man könnte sie „Deutschland, November 1918“ und „Russland, Februar 1917“ nennen. Im Szenario November 1918 würden die ukrainischen Streitkräfte der russischen Armee derart zusetzen, dass die Oberkommandeure einsehen würden, dass der Krieg verloren ist, auch wenn russische Truppen noch im Besitz ukrainischer Gebiete sind. Im Szenario Februar 1917 würden die kriegsbedingten sozialen und wirtschaftlichen Nöte zu einer Spaltung der herrschenden Elite und einer Rebellion der Streitkräfte führen, die das Putin-Regime zu Fall bringen würden. Die Voraussetzung für beide Szenarien ist, dass die Ukraine militärisch in die Offensive gehen und russische Siegeshoffnungen zerschlagen kann.
Von beiden Szenarien sind wir im Moment weit entfernt. Die Unterstützung des Westens für die Ukraine wird besonders in Washington und Berlin von zwei Ängsten beeinträchtigt: erstens, dass Putin angesichts einer bevorstehenden Niederlage Atomwaffen einsetzen und den Krieg auf das Territorium der NATO ausweiten könnte, und zweitens, dass der Zusammenbruch des Regimes in Russland zum Chaos in einem Staat führen könnte, in dem tausende nukleare Sprengköpfe stationiert sind.
Doch die Antwort auf diese Angst vor Eskalation darf nicht die Befriedung des Putin-Regimes auf Kosten der ukrainischen und europäischen Sicherheit sein. Das würde das Risiko für einen direkten Zusammenstoß zwischen Russland und der NATO zu einem späteren Zeitpunkt nur erhöhen. Stattdessen muss der Westen den Drohungen des Kremls eine glaubwürdige Abschreckungspolitik entgegensetzen, die keinen Zweifel daran lässt, dass die NATO bereit ist, sich selbst und die regelbasierte internationale Ordnung zu verteidigen. Schwäche stachelt Putin an; Stärke schreckt ihn ab.
Mit Blick auf die weitere Entwicklung in Russland sollte der Westen eine Stärkung des Putin-Regimes mehr fürchten als ein Scheitern. Das aktuelle Regime ist kein Stabilitätsfaktor, weder nach innen noch nach außen; ganz im Gegenteil. Der Westen sollte vielmehr diejenigen Kräfte in Russland stärken, die Putins Kriege als Bedrohung für die Zukunft des Landes betrachten. Ein Machtwechsel in Moskau wird höchstwahrscheinlich die Stimmen in Russland verstärken, die sich gegen die aggressive Außenpolitik des aktuellen Regimes aussprechen und eine Einigung mit dem Westen anstreben.
Der Krieg kommt nun in die entscheidende Phase. Trotz der Widerstandsfähigkeit der Ukraine und ihrer beeindruckenden technologischen Fortschritte liegt sein Ausgang hauptsächlich in den Händen des Westens. Noch ist es nicht zu spät, das Blatt zugunsten der Ukraine zu wenden. Wir brauchen dringend Klarheit über unsere strategischen Ziele für den Ausgang des Krieges. Das gilt umso mehr mit Blick auf das Comeback von Donald Trump als Präsident der USA. Falls Amerika überhaupt noch in Betracht ziehen sollte, weiter an der Seite der Ukraine zu stehen, dann nur, wenn Europa entschlossen handelt. Sollte Trump allerdings die Unterstützung der USA zurückziehen, sind die europäischen Demokratien umso dringlicher gefordert.
Selbst wenn die Befreiung aller russisch besetzten Gebiete und der Millionen dort lebenden Ukrainer kurzfristig nicht zu erreichen ist, darf die vollständige politische Souveränität der Ukraine, und damit auch ihr Recht auf einen Beitritt zur Europäischen Union und zur NATO, nicht zum Spielball der Kreml-Diplomatie werden. Das ist das Mindeste, was der Westen der Ukraine und sich selbst schuldet. Washington, aber auch europäische Regierungen dürfen nicht der Versuchung nachgeben, den vermeintlich leichteren und kostengünstigeren Weg einer Befriedung Russlands auf Kosten der Ukraine zu gehen. Wenn man betrachtet, was alles auf dem Spiel steht und welche langfristigen Ziele der Kreml verfolgt, dann ist eine vollumfängliche Unterstützung der Ukraine nicht nur die beste, sondern auch die kostengünstigste Option für den Westen.
Kapitel 1
FINDEN WIR EINEN GEMEINSAMEN NENNER? DIE POLNISCHE UND DEUTSCHE RUSSLANDPOLITIK DAMALS UND HEUTE
Viele Jahre lang ging es Deutschland in den Beziehungen zu Russland vor allem darum, wie Moskau in den Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems einbezogen werden kann, das beiden Seiten zum Vorteil gereicht. Die Begründung war, dass eine engere Bindung zu einer Angleichung der Interessen führen werde. Durch sein Gewicht innerhalb der Union konnte Deutschland zu großen Teilen die Position der EU bestimmen. Symbolisch dafür steht die „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland, die erstmals 2008 vom damaligen deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier erwähnt wurde.
Mehrere aufeinanderfolgende polnische Regierungen warnen schon lange vor so einem „Russia first“-Ansatz. Die von Polen und Schweden vorgeschlagene Östliche Partnerschaft sollte hier ein Gegengewicht schaffen und Armenien, Aserbaidschan, Belarus, Georgien, Moldau und der Ukraine dazu verhelfen, handlungs- und entscheidungsfähige Nachbarn statt Staaten zwischen den Mächten zu sein. Dieser Balanceakt funktionierte nur teilweise.
Warschau argumentierte, dass Moskau nie seine totalitäre Vergangenheit aufgearbeitet habe, dass Militarismus und Revanchismus in Russland auf dem Vormarsch seien, Korruption zu einem System gehöre, das immer mehr in den Totalitarismus abrutsche und dabei nach außen aggressiver und nach innen repressiver werde. Nach der Annexion der Krim forderte Polen ein tiefgreifendes Umdenken in der Russlandpolitik. Was folgte war jedoch nur eine Revolution der Worte und kosmetische Kursänderungen. Am deutlichsten wird dies am Bau der Nord Stream 2 Pipeline, deren Abkommen 2015, nur ein Jahr nach der russischen Aggression, unterzeichnet wurde.
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Vier irrige Annahmen, die zu fehlerhafter Politik führten
In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat das Lager der „Russia first“-Befürworter seine Politik an einer Reihe irrtümlicher Annahmen ausgerichtet, die zu politischen Fehlentscheidungen führten. Diese Annahmen müssen verworfen und ersetzt werden.
1) Die erste fehlerhafte Prämisse war, dass eine stabile Sicherheitsordnung nur mit und niemals ohne oder gegen Russland möglich sei. Dies führte zu einer Sonderbehandlung und erhöhter Aufmerksamkeit für Russland. Die westliche Politik sollte sich vielmehr darauf konzentrieren, eine dauerhafte Sicherheitsordnung aufzubauen, ohne die selbstauferlegte Voraussetzung einer Normalisierung der Beziehungen zu Russland. Der Einmarsch in die Ukraine stellt einen tiefgreifenden Umbruch der Sicherheitslage dar. Russland wird jahrelang eine Bedrohung bleiben. Daher sollte der Westen eine neue Sicherheitspolitik nicht nur ohne, sondern gegen Russland verfolgen. Selbstverständlich sollte dazu auch eine langfristige Perspektive für ein verhandlungsbasiertes Ende des russischen Krieges in der Ukraine gehören, und zwar aus einer Position der Stärke und Abschreckung und im Einklang mit dem Völkerrecht. Denn Russland hat sich selbst aus der Gemeinschaft derjenigen Nationen ausgeschlossen, die das Völkerrecht achten.
2) Die zweite Annahme war, dass Russland im Grunde wie der Westen sei und in etwa dasselbe wolle. Aber Russland ist nicht wie der Westen. Es hat eine andere Sicht auf internationale Beziehungen und ist nicht bereit, daran etwas zu ändern. Die russischen Eliten glauben tatsächlich, sich im Krieg mit dem Westen zu befinden. Die russische Gesellschaft basiert schon seit Langem auf dieser Vorstellung. Und sie wird auch nicht mit Putin verschwinden. Ein Vierteljahrhundert seiner Herrschaft, aufgepfropft auf ein zaristisches und sowjetisches Erbe, hat das Regime verfestigt. Eine Demokratisierung oder Entimperialisierung ist unwahrscheinlich.(1)
3) Die dritte Annahme war, dass Russland ein Recht auf eine legitime Interessensphäre in seiner Nachbarschaft habe, auch auf Kosten des Völkerrechts. Diese Annahme drückte sich unter anderem in der Weigerung der NATO aus, der Ukraine und Georgien nach dem Gipfel 2008 in Bukarest eine ernsthafte Beitrittsperspektive zu bieten, oder auch in der schwachen Reaktion auf den darauffolgenden Krieg zwischen Russland und Georgien und in der eingeschränkten Unterstützung für die Ukraine seit 2014. All das interpretierte Moskau als grünes Licht für seine revanchistischen Ambitionen. Russland eine privilegierte Interessensphäre einzuräumen bedeutet faktisch, dem Land das Recht auf Plünderung seiner Nachbarn zuzugestehen und ist quasi eine Einladung, neue Krisen herbeizuführen.
Seine „Sicherheitsinteressen“ setzt Russland durch mittels Korruption, Zwang oder Einbindung der Eliten zum Zweck der Unterwerfung (wie in Belarus) oder, wenn das nicht hilft, zur Destabilisierung (Georgien) oder gar zur Vernichtung (Ukraine). Dauerhafte Instabilität in Nachbarländern war für Moskau schon oft ein erwünschter Zustand. Dadurch eröffnet sich nicht nur eine Reihe von Möglichkeiten für feindliche Einmischung, sondern Russland kann sich so auch als stabilisierende Kraft profilieren. Russlands Irritation über die Erweiterung von NATO und EU beruht nicht auf geopolitischen Ängsten, sondern auf sogenannten Sicherheitsinteressen, insbesondere was das Fortbestehen des kleptokratischen Kreml-Regimes angeht. Die Aufnahme der Ukraine (und anderer Staaten der östlichen Partnerschaft) in die EU und NATO würde Moskau einige wichtige Spielzüge verbauen. Ein Ziel der Eindämmung Russlands sollte sein, in den Nachbarländern stabile politische Systeme, leistungsfähige Volkswirtschaften, einsatzbereite Streitkräfte und starke Ziviligesellschaften zu fördern.
4) Die vierte Annahme war, dass unzureichende Kommunikation der Grund für Spannungen sei und dass mehr Verflechtung, etwa durch Handel und Pipelines, helfen könnten. Sie fand Ausdruck in dem Slogan „Wandel durch Handel“, wonach gegenseitige Abhängigkeit zu Veränderungen führen werden. In Wirklichkeit führte das aber nur zu mehr Spannung. Dieser Ansatz wurde nach dem 24. Februar 2022 teilweise aufgegeben, als Gipfeltreffen, Ministerbesuche und gemeinsame Institutionen ausgesetzt wurden. Austausch um des Austauschs willen hat sich als nutzlos erwiesen.
Der Glaube an die positive Wirkung gegenseitiger Abhängigkeit muss aufgegeben werden, denn für einen autoritären Staat mit imperialistischen Ambitionen ist Abhängigkeit ein Machtmittel und eine „Waffe“, die demokratische Partner angreifbar macht. Jahrelang waren Täuschung, Falschinformationen, Korruption, Unsicherheit und seit Neuestem Angst die größten Exportgüter Russlands in die EU. Diese „Exporte“ wurden von einer Infrastruktur aus Öl, Gas und finanziellen und persönlichen Beziehungen gestützt. Heute sind diese Kanäle nicht mehr so weit offen, aber Russland zeigt nun auch sein wahres Gesicht und mischt sich unverhohlen in interne Angelegenheiten anderer Staaten ein. Der Westen muss daher den Preis solcher feindlicher Aktionen durch eine Ausweitung seiner Sanktionen erhöhen.
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Gesucht: Eine grundlegend neue Haltung
Die Runderneuerung der Russlandpolitik ist eine große Herausforderung, weil sie eine grundlegende Änderung von Einstellungen erfordert, die tief in der deutschen Politik und in der Bevölkerung verwurzelt sind.
In den nächsten Monaten werden drei Entwicklungen entscheidend sein. Erstens der mögliche Rückgang der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine und die NATO-Partner. Zweitens die Bemühungen Polens und anderer NATO-Mitglieder um die Schaffung einer europäischen Struktur, die das entstehende Vakuum teilweise füllen kann. Und drittens die Frage, welchen Weg die deutsche Politik nach der Bundestagswahl im Februar einschlagen wird.
Viele erwarten, dass die neue US-Regierung nicht bereit sein wird, so viel Geld wie ihr Vorgänger für die Verteidigung der Ukraine und Europas auszugeben. Allerdings ist noch unklar, wie groß die Einschnitte sein werden. Im günstigsten Fall bleibt eine angemessene Unterstützung bestehen, solange die Europäer ihre Beteiligung erhöhen. Im schlimmsten Fall klappen die USA ihren nuklearen Schutzschirm über Europa zusammen. In jedem Fall werden die europäischen Bündnispartner die Lücke füllen müssen.
Polen ist bei diesen Bemühungen führend. Im Land herrscht ein breiter Konsens, dass die Zeit für entschiedenes, gesamteuropäisches Handeln gekommen und einfach irgendwie Weitermachen keine Option ist. Warschau wird seinen Verteidigungsetat von 4,3 Prozent im Jahr 2024 auf ganze 4,7 Prozent in 2025 erhöhen und versucht, eine Gruppe von Ländern zusammenzubringen, die mit gutem Beispiel vorangehen.
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Eine Koalition der Willigen
Der Kern dieser „Koalition der Willigen“ scheint sich aus den skandinavischen und baltischen Ländern und Polen herauszubilden, jedoch bisher ohne Deutschland. In der Gemeinsamen Erklärung nach dem Gipfeltreffen in Harpsund Ende November 2024 ist das Ziel formuliert, „zusammenzuarbeiten, um Russlands aggressive und äußerst konfrontative Maßnahmen einzuschränken, anzufechten und zu kontern, sowie sicherzustellen, dass Russland für das Verbrechen der Aggression international voll zur Verantwortung gezogen wird.“(2)
Die Länder entlang der NATO-Ostflanke sind ausschlaggebend für die Sicherheit des Kontinents. Sie verpflichten sich zu umfassenden Investitionen für diese Aufgabe und dulden keine selbstgefälligen Trittbrettfahrer aus dem Westen. Hier wird von Deutschland erwartet, dass es sich mit seiner Wirtschaftskraft an der Schaffung einer dauerhaften und stabilen Sicherheitsumgebung beteiligt, anstatt ad-hoc Telefondiplomatie zu führen.
Die deutsche Ukrainehilfe war bisher zwar in absoluten Zahlen großzügig, aber gemessen an der Stärke seiner Wirtschaft doch eher bescheiden. Laut dem Ukraine Support Tracker des Kiel Instituts für Weltwirtschaft liegt Deutschland mit 0,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf Platz 14, während Dänemark und Estland mit je 1,9 Prozent anteilsmäßig den größten Beitrag leisten.(3) Das könnte sich allerdings ändern. Nach den Wahlen im Februar 2025 muss die neue Bundesregierung entscheiden, ob sie sich der Führungsgruppe anschließen will. Während in der SPD einige noch hoffen, dass Frieden mit Russland ohne große Militärausgaben möglich ist, sind die Christdemokraten entschlossen, die Bundeswehr zu stärken und der Ukraine zu helfen. Und sie liegen in den Umfragen vorn. Auch die Grünen stehen fest an der Seite der Ukraine.
Zwei Argumente sind von entscheidender Bedeutung, um deutsche Wähler von pro-ukrainischen Positionen zu überzeugen:
1) Wenn die Ukraine nicht besser verteidigt und unterstützt wird, könnte das am Ende weit teurer zu stehen kommen, als die Kosten einer rechtzeitigen Eindämmung Russlands. Eine unmittelbare Folge eines russischen Sieges wäre, dass der Materialverschleiß an der Front nachlässt und die enorme Rüstungsproduktion sich im Land ansammelt. Das könnte zu einer Bedrohung für europäische Bündnispartner werden. Schlimmstenfalls steht dann eine kampferprobte russische Armee an den Ostgrenzen Polens, Rumäniens, Ungarns und der Slowakei. Die Verteidigung gegen so eine Bedrohung wird ein Vielfaches der aktuellen Militärausgaben kosten, während die weitere Beteiligung der USA an der NATO ungewiss ist. Das könnte einige europäische Alliierten dazu verleiten, das sinkende Schiff zu verlassen und Russland oder den USA separate Abkommen anzubieten. All das wäre zu Deutschlands Nachteil.
2) Auch ohne die USA und wichtige Verbündete wie Frankreich und Großbritannien können die entschlossensten Länder Russland noch die Stirn bieten. Zusammen hat diese potenzielle Gruppe ein Bruttoinlandsprodukt von 4,7 Billionen Euro, also mehr als doppelt so viel wie Russland (2,2 Billionen). Wenn Deutschland sich anschließen würde, läge diese Zahl bei 8,8 Billionen. Die Gesamtbevölkerung des Zusammenschlusses wäre 205,6 Millionen, verglichen mit Russlands 143,8 Millionen.
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Weimarer Dreieck 2.0?
Natürlich lassen sich Bruttoinlandsprodukt und Bevölkerungszahlen nicht automatisch in militärische Schlagkraft umrechnen. Dieses Potenzial in ein Abschreckungsmittel umzuwandeln, erfordert Zeit und politischen Willen. Möglicherweise mehr Zeit, als Russland gewähren wird. Daher ist es undenkbar, eine solche Gruppe ohne die Hilfe der USA auf die Beine zu stellen. Ohne nukleare Absicherung seitens der USA und ohne amerikanische Bodentruppen, wenigstens für ein paar Jahre, werden solche Ansätze scheitern. Das darf aber keine Ausrede dafür sein, es nicht einmal zu versuchen. Ein stärkeres Europa kann für die USA nützlich werden. Vielleicht wird im Wettbewerb mit China einmal ein Partner gebraucht. Doch der Partner muss eine Stütze sein, keine Belastung.
Wenn Deutschland sich entschließt, seine Kräfte mit Polen zu bündeln, dann tun sich die bevölkerungsreichste Nation der Gruppe und die entschlossenste zusammen. Auch dabei gibt es gute und schlechte Nachrichten. Die schlechte Nachricht ist, dass in Deutschland immer noch Spuren seiner paternalistischen Haltung gegenüber den östlichen Nachbarn vorhanden sind. Die gute Nachricht ist, dass sich die Beziehungen verbessern können, wenn im Februar ein an Abschreckung und Eindämmung gewöhnter Transatlantiker der alten Schule an die Macht kommt.
Wenn Deutschland und Polen gemeinsame Sache machen, kann das einen Dominoeffekt auslösen. Auch Frankreich wird wohl kein neues Machtzentrum entstehen lassen, ohne sich zu beteiligen. Das könnte Paris motivieren, das Weimarer Dreieck aus Polen, Deutschland und Frankreich, mit mehr Substanz auszustatten. Wenn auch noch Großbritannien beitritt, wären in diesem neuen europäischen Klub sogar zwei Atommächte vertreten.
Kapitel 2
VERTEIDIGUNG: VON GRUND AUF NEU DENKEN
Die in den letzten zweieinhalb Jahren vom Westen geleisteten Militärhilfen haben das Überleben und die Verteidigungslinien der Ukraine knapp gesichert, reichten aber nicht aus, um Russland zurückzuschlagen. Die Gründe dafür sind vielfältig: Angst vor Eskalation, haushalterische und innenpolitische Zwänge sowie Wunschdenken. Die Folgen sind deutlich sichtbar. Nachdem die Ukraine mehr als zwei Jahre unterversorgt wurde, in der Hoffnung, der Konflikt möge mit irgendeiner Einigung enden, hat sie sehr viel qualifiziertes und erfahrenes militärisches Personal verloren. Ihre Streitkräfte sind nun so geschwächt, dass es schwieriger denn je ist, sie wieder in die Lage zu bringen, offensiv Druck auf Moskau auszuüben. Es sieht auch nicht so aus, als würde das bald passieren.
Wenn Russland den Krieg in der Ukraine gewinnen sollte, könnte es seine völkermörderischen Absichten zur Vernichtung der ukrainischen Nation und Kultur umsetzen: Große Teile des Sicherheitsapparats (nicht nur die Armee, sondern auch der FSB, die Nationalgarde und Polizeieinheiten) würden die Russifizierung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten erzwingen. Dorthin gelockte russische Siedler werden ihre Sicherheit, ihren Besitz und sozialen Aufstieg Putins neuem Imperium verdanken und es mit allen Mitteln zu erhalten suchen. Ein Kriegsende, das nicht auf eine strategische Niederlage Russlands folgt, wird das aktuelle revisionistische und imperialistische Regime in Moskau nur stärken. Das gilt auch für einen „eingefrorenen“ Status quo, bei dem große Teile der Ukraine besetzt bleiben.
Polen ist der Ansicht, dass nur die ukrainische Bevölkerung über ihr Schicksal entscheiden kann und dass die Ukraine nicht nur um ihre Unabhängigkeit kämpft, sondern auch um die Möglichkeit einer Aufnahme in westliche Institutionen – NATO und die EU. Die Rolle des Westens sollte dabei sein, die Ukraine nicht nur in ihrer Selbstverteidigung zu unterstützen, sondern auch den Integrationsprozess zu fördern. Nur ein NATO-Beitritt kann glaubwürdige Sicherheitsgarantien und Schutz vor einer erneuten russischen Invasion bieten. Warschau sieht Moskau gleichzeitig als existenzielle Bedrohung, was in Polen die größte Reform und Modernisierung von Streitkräften in Europa seit Ende des Kalten Krieges angestoßen hat.
Anders als Verbündete in Westeuropa hat Polen seine Armee nicht komplett zu einer Eingreiftruppe für weltweite Krisenherde umstrukturiert. Sie verfügt über mehr Panzer- und mechanisierte Brigaden als ihre westlichen Partner (2021 waren es 12). Allerdings stammte der Großteil der Ausrüstung aus sowjetischem Altbestand, teilweise noch aus den 1960er Jahren. Viele Verbände waren auch unterbesetzt. Russlands Wiedereinmarsch in die Ukraine 2022 war für Polen der Auslöser, fast seine gesamte veraltete Ausrüstung an die Ukraine abzugeben und so schnell wie möglich große Mengen moderner Waffen anzuschaffen – hauptsächlich aus den USA und aus Südkorea. Als weitere Reaktion erarbeitete der polnische Generalstab einen Plan zur Modernisierung der Streitkräfte bis 2035, der aktuell überarbeitet und bis 2039 verlängert wird (die Einzelheiten des Plans sind noch unter Verschluss).
Das strategische Ziel Polens ist, eine Armee aufzubauen, die einem bewaffneten Konflikt mit Russland gewachsen wäre. Doch dieser Prozess wird noch mindestens zehn Jahre dauern und wird noch Hürden nehmen müssen. Im Moment besteht in der polnischen Gesellschaft und über das gesamte politische Spektrum hinweg Konsens, dass in den nächsten Jahren mehr als vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung fließen müssen. Es ist jedoch nicht sicher, ob das langfristig so bleibt und ob sich Frauen und Männer auch in Zukunft so zahlreich freiwillig für das Militär melden. Der freiwillige Grundwehrdienst ist nicht nur eine äußerst wichtige Ergänzung der aktiven Streitkräfte (2024 werden 44.450 Rekruten erwartet), sondern stockt auch die Reserve auf. Eine weitere Herausforderung ist die relativ schwache Rüstungsindustrie, wodurch die Kapazitäten für Munitionsproduktion, Ausrüstungswartung und ‑instandhaltung und Ausbau der Streitkräfte begrenzt sind. Mit diesen Einschränkungen fertigzuwerden ist eine langwierige und schwierige Aufgabe.
Deutschland verfolgt wie die meisten Länder Westeuropas eine Politik des „Germany first“, wobei der Wiederaufbau der Bundeswehr und die Verteidigung im Rahmen der NATO stärker im Fokus stehen als die Bedürfnisse der Ukraine. Dabei gäbe es tatsächlich Raum für weitreichendere deutsch-polnische Zusammenarbeit in der NATO zur Stärkung der Verteidigung im Baltikum und im Norden der Ostflanke. Das beträfe vor allem die beiden bestehenden gemeinsamen Kommandos Multinationales Korps Nordost (Land- und Luftstreitkräfte) und Commander Task Force Baltic (Marine) sowie unterstellte Verbände der Enhanced Forward Presence – die deutsche Battlegroup in Litauen. Gemeinsame Übungen der beiden Armeen könnten bilaterale Verbindungen weiter stärken und die Verteidigungskapazität gegenüber Russland verbessern.
Nach über 30 Jahren der Umorientierung als Expeditionskorps lässt der Zustand der Bundeswehr einiges zu wünschen übrig (siehe unten). Die nächste Bundesregierung wird die Bundeswehr neu aufstellen müssen, um die Ziele der NATO-Verteidigungsplanung, nämlich die Abschreckung Russlands und Durchführung gemeinsamer Operationen im Baltikum, zu erreichen. Dafür gibt es bereits solide Pläne, denen jedoch zwei große Probleme im Wege stehen. Eins ist die Finanzierung. Erforderlich wäre ein Etat von etwa 80 Milliarden Euro pro Jahr. Das zweite ist Personal. Die Bundeswehr hat Schwierigkeiten, Soldaten zu rekrutieren. Eine Debatte über die Wiedereinführung der Wehrpflicht verlief 2024 im Sand, könnte aber nach der Bundestagswahl 2025 wieder aufleben.
Damit Deutschland ein militärisches Zentrum werden und Verteidigungseinsätze an der Ostflanke ermöglichen kann, muss Berlin in den Augen Warschaus ein vertrauenswürdiger und zuverlässiger Partner und Verbündeter werden. Und das hängt großteils von Deutschlands praktischer Unterstützung für die Ukraine ab. Bei diesem Test ist Deutschland gnadenlos durchgefallen. Nicht nur weil die militärische Unterstützung im Vergleich zur Wirtschaftskraft des Landes gering war. Sondern auch, weil dies als politisch klug verkauft wurde – siehe Bundeskanzler Olaf Scholz‘ geflügeltes Wort „Besonnenheit“. Deutschland weigerte sich anfangs, seine leistungsfähigen gepanzerten Gefechtsfahrzeuge der Uktraine zur Verfügung zu stellen, weil Scholz fürchtete, dass Deutschlands „anti-militaristische“ Tradition Schaden nehmen könnte, wenn deutsche Panzer durch Europa rollen.(4) Abgesehen davon, dass bereits das ehemalige Westdeutschland ein gut bewaffnetes NATO-Mitglied war, stellt dieser bedingungslose Pazifismus auch Deutschlands Bekenntnis zur Verteidigung Europas in Frage. Wenn es darum gehen würde, die NATO zu verteidigen, würden auch überall deutsche Panzer rollen.
Eine Einigung mit Russland über Kyjiws Kopf hinweg würde bei Deutschlands Nachbarn schmerzliche Erinnerungen wecken. Jahrhundertelang hat Berlin, oft in Zusammenarbeit mit anderen Mächten, die Souveränität seiner östlichen Nachbarn missachtet und sie als Bauernopfer im Spiel der Großmachtpolitik benutzt. So etwa bei den Teilungen Polens, im Vertrag von Rapallo oder im Molotow Ribbentrop-Pakt. Um zu verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt, sollte Berlin die Länder entlang der Ostflanke, insbesondere Polen und die Ukraine, als gleichwertige Partner behandeln. Ein solches Umdenken könnte die Türen öffnen für konstruktive Zusammenarbeit bei der militärischen Unterstützung der Ukraine und Abschreckung Russlands.
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Was getan werden muss
Eine dauerhafte militärische Unterstützung für die Ukraine, ein Ausbau der eigenen Rüstungsindustrie und die zeitgleiche Wiederherstellung der Fähigkeit, einen umfassenden Krieg zu führen, sind unerlässlich. Dabei geht es nicht nur um eine Liste von Rüstungsgütern. Verteidigung muss als Ganzes von Grund auf neu gedacht und konzipiert werden. Die möglichen Fallstricke gehen weit über einzelne Teile der Ausrüstung hinaus. Es geht um die Überlebensfähigkeit, Nachhaltigkeit und Skalierbarkeit der Streitkräfte insgesamt.
- Überlebensfähigkeit: Einem möglichen Bewegungskrieg gegen Russland würden die europäischen Streitkräfte trotz ihrer hohen professionellen Standards nur etwa eine Woche lang standhalten. So lange würden russische Drohnen brauchen, um so viele Fahrzeuge zu zerstören, dass weitere Manöver unmöglich wären. Der Mangel an elektronischen Kampfführungssystemen (EloKa-Systeme), Fliegerabwehrsystemen und Drohnen wird angesichts Russlands Kapazitäten bei der Drohnenherstellung und Erfahrungen im Krieg in der Ukraine zu nicht auszugleichenden Verlusten von Personal und Ausrüstung führen. Außerdem beruht unsere Materialerhaltung und Einsatzversorgung nur auf einer Handvoll ziviler Unternehmen, die Gerät instand halten. Im Kriegsfall wären auch sie Ziele von Raketen- und Drohnenangriffen.
. - Nachhaltigkeit: Der Bundeswehr fehlen nicht nur die Munitionsreserven, um einen Krieg durchzuhalten. Der aktuelle Bestand an Artilleriemunition würde nur für einige Tage reichen und kann wegen eines Mangels an sicheren Lagerorten auch nicht erhöht werden. Zudem fehlt es an Personal und Material. Die Ukraine hat bisher mehr als 3.000 gepanzerte Kampffahrzeuge aller Art im Krieg verloren. Allein diese Verluste auszugleichen, wird für den Westen allmählich zum Problem. Und selbst wenn genügend Material verfügbar wäre, fehlt es Europa an personellen Reserven, um etwaige Verluste, besonders bei Offizieren und Fachleuten, abzufangen. Während eine zwangsweise Mobilmachung zwar auf dem Papier jede Menge Soldaten generieren würde, wären nicht genügend Offiziere da, um sie auszubilden und ins Feld zu führen.
. Skalierbarkeit: Der Mangel an Personal und Material hätte auch Auswirkungen auf die Bemühungen anderer westeuropäischer Armeen, ihre Kapazitäten auszubauen. Zu Beginn der russischen Invasion bestand die ukrainische Armee aus 29 gefechtsbereiten Brigaden (20 bei den Landstreitkräften, sieben luftbewegliche Brigaden und zwei Marineinfanterie-Brigaden). Weitere 31 Brigaden waren gerade erst im Rahmen der Territorialverteidigung auf dem Papier entstanden, waren aber noch kaum aufgestellt. Jetzt, im dritten Kriegsjahr, sind die ukrainischen Streitkräfte auf mehr als 150 Brigaden in allen Waffengattungen angewachsen. Trotz aller moderner Technik spielt die Truppendichte, insbesondere die Verfügbarkeit von Infanterie, die wichtigste Rolle bei der Verteidigung. Dank der geringen Truppendichte der russischen Armee glückten die ukrainischen Offensiven in Kursk (2024) und Charkiw (2022), wohingegen die Sommeroffensive 2023 an der größeren Dichte der russischen Truppen vor Ort scheiterte. Würde die NATO als Ganzes angegriffen, wäre der Operationsraum noch viel größer. Außerdem wären die rückwärtigen Verbände und die zu schützende kritische Infrastruktur ebenfalls um einiges größer.
Kapitel 3
RUSSLANDS HYBRIDER KRIEG GEGEN DEN WESTEN
UND WAS DAGEGEN ZU TUN IST
I. Russlands hybrider Krieg
Seit über einem Jahrzehnt führt Russland bereits einen hybriden Krieg gegen den Westen. Putins strategisches Ziel ist, eine Neuauflage des russischen Imperiums (oder wenigstens eine russische Einflusssphäre) zu schaffen. Zu diesem Zweck schwächt er den Westen, wo immer er kann. Die Ziele und Elemente dieses hybriden Krieges sind gut bekannt: Es geht darum, westliche Gesellschaften zu polarisieren und das Vertrauen in die Demokratie und ihre Institutionen zu unterminieren, Populisten, Extremisten und Separatisten zum Aufstieg zu verhelfen, die Unterstützung für die Ukraine durch Angst vor Eskalation und Appelle an tiefsitzende pazifistische Überzeugungen zu untergraben und zugleich die Legitimität des Putin-Regimes zu stärken und ihm Zugang zu westlichen Märkten verschaffen. Die Angst vor Eskalation tut bereits ihr Werk, wie man an den zurückhaltenden Waffenlieferungen an die Ukraine erkennen kann (s. Kapitel 2). Kern der hybriden Taktik des Kremls ist es, möglichst unter dem Radar zu bleiben, um eine offene militärische Konfrontation mit der NATO zu vermeiden; denn die fürchtet Putins Regime. So kann Moskau die Entschlossenheit und den Zusammenhalt des Westens auf die Probe stellen und Schwachstellen ausnutzen.
Seit Beginn der Großinvasion der Ukraine 2022 hat Russlands hybrider Krieg noch aggressivere Ausmaße angenommen. Dieser hat viele Facetten, darunter ein uneingeschränkter Informationskrieg gegen unsere Länder, massive Einmischung in Wahlen, etwa in Rumänien, Cyberangriffe gegen Politikerinnen und Politiker, öffentliche Einrichtungen und die Infrastruktur. Auch Spionage nimmt stetig zu. Es kommt zu Sabotageakten und Vereinnahmung von Eliten. Die Liste der Russland zugeschriebenen Angriffe wird schnell länger und reicht von Brandstiftung und Sachbeschädigung über Cyber- und physische Angriffe auf Eisenbahnen und die Rüstungsindustrie bis zu versuchten Morden. Das Regime hat für seine hybride Kriegsführung eigene Strukturen entwickelt, etwa die Hauptverwaltung Tiefseeforschung (GUGI) oder Medienunternehmen wie die Social Design Agency (SDA).
Moskau wird dabei immer dreister und unverfrorener. Glaubhaften Berichten zufolge haben russische Sabotageversuche das Leben vieler Menschen in Europa gefährdet – etwa mutmaßliche Angriffe auf die finnische Wasserversorgung oder der Versuch, Sprengstoff an Bord eines deutschen Frachtflugzeugs zu verbringen. Im November 2024 gab es Hinweise, dass Russland mit Hilfe Chinas Unterseekabel zwischen Schweden und Estland sowie zwischen Deutschland und Finnland durchtrennt habe. All diese Vorfälle ergänzen nur eine bereits seit langem wachsende Kette von Cyberangriffen, Störungen des GPS-Systems und anderen hybriden Maßnahmen, die Angst und Unsicherheit schüren sollen. Die Lage ist inzwischen so ernst, dass die finnische Regierung offen über einen NATO-Bündnisfall nach Artikel 5 des Vertrags von Washington spricht (laut NATO-Doktrin ist der Bündnisfall auch bei hybriden Angriffen ausländischer Aggressoren vorgesehen). (5)
Auch Polen und Deutschland sind wichtige Ziele in Russlands Kreuzzug gegen den Westen. Als wichtige Mitglieder von EU und NATO haben sie in Russland-Themen großen Einfluss auf die westliche Politik, etwa in der Frage nach militärischer Unterstützung der Ukraine oder bei Sanktionen. Deutschland ist das wichtigste Logistik-Drehkreuz der NATO (hier befinden sich wichtige US-Militärstützpunkte), während Polen eine ähnliche Rolle für die NATO-Ostflanke und bei Waffenlieferungen für die Ukraine spielt. Russland lässt nichts unversucht, um sowohl Polen als auch Deutschland von innen heraus zu manipulieren. Dabei gibt es Gemeinsamkeiten, wie etwa Versuche, die Solidarität und Unterstützung für die Ukraine zu schwächen und internationale Organisationen, besonders die NATO und die EU, zu verunglimpfen. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede, z.B. in Deutschland ein Anknüpfen an die Friedensbewegung und ein Ausnutzen tief verwurzelter antiamerikanischer Ressentiments in bestimmten sozialen Schichten. Beides existiert so in Polen nicht. Und doch wurde bisher trotz aller Unterschiede zwichen Polen und Deutschland das Ausmaß von Putins hybridem Krieg in beiden Ländern stark unterschätzt.
Ein Beispiel: Beide Länder waren im Visier der Operation Doppelgänger, die unter anderem vom FBI und dem Counter Disinformation Network (CDN) der EU aufgeklärt wurde. Diese Kampagne wurde von der SDA durchgeführt, einem Kreml-gesteuerten Medienunternehmen. Dem FBI zufolge war das offensichtliche Ziel „Spannungen zur Eskalation zu bringen ... um die Interessen der Russischen Föderation zu fördern“ und mit Hilfe von falschen Beiträgen, Influencern sowie gezielten Posts und Kommentaren in den sozialen Medien „tatsächlich existierende Konflikte zu beeinflussen und neue Konflikte künstlich zu erzeugen“.
Polen ist seit Jahrzehnten ein wichtiges Ziel russischer Desinformationskampagnen und hybrider Angriffe. Aufgrund ihres tieferen Verständnisses der russischen Politik und Geschichte ist die polnische Gesellschaft gegen Manipulationsversuche aus Russland besser gewappnet als Deutschland. Doch auch wenn es schwierig ist, in Polen eine pro-russische Stimmung zu erzeugen, ist das Land nicht immun gegen Cyberangriffe und andere hybride Operationen. Sie haben zuletzt so stark zugenommen, dass Brandstiftung, Spionage und Störungen von wichtigen Verkehrsadern mittlerweile offen Russland zugeschrieben werden. Im Oktober 2024 verfügte das polnische Außenministerium unter Berufung auf Sabotagetätigkeiten die Schließung des russischen Konsulats in Poznań.(6) In den letzten Jahren wurden auch Migrationsströme immer häufiger als Waffe eingesetzt. Moskau übt dabei in Zusammenarbeit mit Minsk Druck auf die Ostgrenze Polens (und damit der EU) aus, indem illegale Migranten an die Grenze gebracht werden. Bezeichnenderweise haben 90 Prozent dieser Menschen ein russisches Visum.
Der Fall Pawel Rubzow, ein russischer Agent, der sich als spanischer Journalist ausgegeben hatte, in Polen verhaftet wurde und durch einen Gefangenenaustausch im August 2024 zurück nach Russland kam, hat die Schwächen der demokratischen Offenheit und Gesetzeslage in Polen offenbart. Dadurch konnte das Putin-Regime zahlreiche Influencer rekrutieren und gelangte an geheime Informationen.
Vor dem Hintergrund der turbulenten Geschichte zwischen Polen und der Ukraine versucht Moskau unentwegt, Differenzen zwischen Warschau und Kyjiw gegeneinander auszuspielen und Polens Entschlossenheit, der Ukraine zu helfen, zu untergraben. Die große ukrainische Diaspora in Polen (darunter viele russischsprachige Geflüchtete, die russische Kommunikationsplattformen nutzen) macht es umso schwieriger, bösartige russische Einflussnahme zu enttarnen. So wurden zahlreiche in Polen lebende Ukrainer von Moskau für verschiedenste Desinformations- und Sabotagekampagnen angeheuert.
Die von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ hat Deutschland der polnischen Sicht auf Russland nähergebracht. Deutschland hat das Pipeline-Projekt Nord Stream eingestellt und ist zum zweitgrößten militärischen Unterstützer der Ukraine aufgestiegen. Doch einige Unterschiede in der Betrachtung Russlands bleiben bestehen. Anders als in Polen haben viele Menschen in Deutschland Angst vor einer Eskalation des Krieges. Besonders in Ostdeutschland glauben viele Menschen nicht, dass ihre Sicherheit durch Russland unmittelbar bedroht ist. Es gibt zahlreiche Befürworter von Friedensverhandlungen und eines Endes der deutschen Militärhilfen für Kyjiw. Obwohl Berichte über russische Falschmeldungen, Manipulation von Debatten und Sabotageakte in den letzten Monaten zugenommen haben, hat sich die Erkenntnis, dass man zu einem Top-Ziel von Russlands hybridem Krieg in Europa geworden ist, noch nicht in der deutschen Gesellschaft durchgesetzt.
Russland manipuliert seit Jahren den öffentlichen Diskurs in Deutschland und hat während der Flüchtlingskrise, der Corona-Pandemie und des Ukrainekriegs systematisch Misstrauen gesät. Außerdem hat Moskau aktiv anti-westliche und pro-russische Parteien wie die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht gefördert und in den sozialen Medien einen regelrechten digitalen Tsunami entfesselt. Russische Geheimdienste haben am helllichten Tag in Berlin einen Menschen ermordet und werden verdächtigt, Anschläge gegen militärische Einrichtungen und den Chef des Rüstungskonzerns Rheinmetall geplant zu haben. Und doch zeigen Umfrage- und Wahlergebnisse trotz Moskaus unbestreitbarer Schuld am Krieg gegen die Ukraine wachsende pro-russische Tendenzen in Deutschland.
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II. Was getan werden muss?
Wir müssen das volle Ausmaß von Russlands hybridem Krieg begreifen und dürfen diese Taten nicht mehr ungestraft hinnehmen. Russland bedroht den Kern unserer Demokratie. Es manipuliert unsere Meinungen, unsere Debatten, unsere Wahlen; doch wir behandeln dies immer noch wie ein Randphänomen. So darf es nicht weitergehen. Hybride Kriegsführung muss zu einer Priorität der nationalen Sicherheit werden.
Unsere Regierungen sollten dieser Herausforderung wesentlich mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen widmen. Wir müssen eine Reihe von defensiven und offensiven Maßnahmen entwickeln, die den Waffen des Angreifers ebenbürtig sind. Außerdem brauchen wir wirksame Mechanismen, um national und international die bestmöglichen Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.
Attribution, also die Zuschreibung von Verantwortung für einen Angriff, sollte viel häufiger und mit weniger Zögern stattfinden. Fälle, in denen eine russische Einmischung eindeutig nachweisbar ist, sollten proaktiv veröffentlicht werden. Das geschieht bereits in den USA und seit Kurzem auch in Rumänien. Wenn Russland nicht als feindlicher Verbrecherstaat beim Namen genannt wird, wenn die Angst vor Eskalation überwiegt, wenn die Logik der Kreml-Gangster nicht verstanden und mit Gegenmaßnahmen gezögert wird, verstärkt sich in Moskau das Gefühl der Straffreiheit und es wird zu weiteren hybriden Angriffen kommen.
Kurzfristige Maßnahmen sollten eine Strategie beinhalten, die digitale Plattformen stärker in die Verantwortung nimmt, um russische Fake-News zu entfernen. Dazu müssen nationale und europäische Gesetze stärker angewandt und Desinformation und Propaganda aktiv enttarnt beziehungsweise davor gewarnt werden. Gleichzeitig ist es notwendig, kritische Infrastruktur (Energie, IT, Rüstungsanlagen) besser zu schützen. Dazu gehört auch eine Drohnenabwehr und das Setzen klarer Grenzen gegenüber Russland (etwa die Androhung von Vergeltungsschlägen gegen russische Anlagen im Falle eines Cyberangriffs). Regierungen sind gut beraten sich auf einige Kampagnen aus der Vergangenheit zu besinnen und über die reale und aktuelle Bedrohung aufzuklären, die von Russland ausgeht (etwa mit Hilfe von Plakaten oder Fernseh- und Videospots). Regierung, Nachrichtendienste und Polizei sollten die Risiken der Manipulation und Einmischung in die anstehenden Wahlen aktiv kommunizieren.
Eine neue Herangehensweise sollte die Schwächen des Putin-Regimes unmittelbar in den Blick nehmen und besonders die Korruption seiner Mitglieder enttarnen (was Alexej Nawalny sich zur Aufgabe gemacht hatte). Außerdem sollten Gesetze gegen Spionage verschärft bzw. überhaupt erlassen und Sanktionen gegen Einzelpersonen und Unternehmen ausgeweitet werden. Das Versagen des russischen Staats (die zunehmende Kriminalität und soziale Verelendung aufgrund des Krieges) sollte publik gemacht werden. Der Druck auf zweifelnde Partner Russlands muss erhöht werden, indem man ihnen offen erklärt, welche Nachteile eine Annäherung an den Kreml hat, und indem Bemühungen um Kontaktaufnahme mit der russischen Gesellschaft gestärkt werden, etwa durch den Europäischen Demokratiefonds und Förderung unabhängiger Medien.
Langfristig müssen strukturelle Projekte und politische Initiativen angestoßen werden, etwa für den Aufbau einer resilienteren Gesellschaft durch Gesetze gegen die Vereinnahmung von Eliten (Korruptionsbekämpfung, Schaffung eines Transparenzregisters zu ausländischer Einflussnahme, die Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen gegen Desinformation auf digitalen Plattformen), Projekte zur Förderung der Medienkompetenz, Investitionen in die Zivilgesellschaft und verstärkte Zusammenarbeit mit Unternehmen zur Abwehr hybrider Angriffe.
Polen und Deutschland sollten eine gemeinsame Arbeitsgruppe schaffen, die hybride Maßnahmen Russlands analysiert und konkrete Gegenmaßnahmen entwickelt. Sie sollten Russlands aktuelles Handeln sorgfältig beobachten (etwa Sabotage und Manipulationen im digitalen Raum, auch durch künstliche Intelligenz) und Lehren aus dem Kalten Krieg anwenden, insbesondere aus erfolgreichen Aktionen gegen typische feindliche sowjetische Aktivitäten, die sich in modernisierter Form unter dem Putin-Regime wiederholen (wie Propaganda-Abwehr und Maßnahmen gegen Versuche Moskaus, westliche Institutionen zu infiltrieren). Handlungsvorschläge sollten auf eine Stärkung der Abwehr von Spionage und hybriden Maßnahmen Russlands abzielen. Beide Länder sollten beim Aufbau eines europäischen Konsens zu wirksamen Reisebeschränkungen für Vertreter Russlands im Schengen-Raum mitwirken. Mit Blick auf die komplexen Formen der gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit zwischen Deutschland und Polen besteht sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit, mit Partnern aus der Privatwirtschaft gemeinsam Resilienz-Programme durchzuführen (gute Beispiele dafür sind Skandinavien und Tschechien).
Das Weimarer Dreieck aus Polen, Deutschland und Frankreich könnte genutzt werden, um zwei bis drei konkrete Initiativen zu erarbeiten, bei denen sich alle drei Länder einig sind (etwa ein Frühwarn- und Reaktionssystem für Informationsmanipulation, Bündelung von Ressourcen gegen Cyberangriffe, Aufdeckung von russischen Sabotagenetzwerken). Mit Blick auf die umfangreiche Nutzung von Telegram für die Planung, Rekrutierung und Durchführung von hybriden Aktionen wäre der Prozess gegen den Gründer der Chat-App Pawel Durow in Paris möglicherweise eine gute Gelegenheit für eine trilaterale Kooperation. Andere mögliche Bereiche sind die Entwicklung einer Politik zu KI und Demokratie in der EU, die die Medienkompetenz steigert.
Nach Möglichkeit sollten sich Berlin und Warschau gemeinsam für eine Arbeitsteilung bei den jeweiligen Maßnahmen einsetzen. Die NATO, EU und G7 könnten die Federführung bei der Entwicklung einer stärkeren Politik und besserer Standards übernehmen und sich auf Gegenmaßnahmen einigen, von denen sie jeweils diejenigen umsetzen, die in ihren Zuständigkeitsbereich fallen (die NATO etwa im Bereich militärische Sicherheit, die EU in Sachen Gesetzgebung und Finanzierung von Resilienzprojekten), während Einzelstaaten Aspekte der Umsetzung übernehmen, die in ihr Mandat fallen (etwa der Telegram-Prozess).
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III. Der Preis von Untätigkeit
Bisherige Erfahrungen und Kenntnisse deuten auf einen engen Zusammenhang zwischen schwachen (oder völlig fehlenden) Reaktionen auf Moskaus hybride Maßnahmen hin. Doch wird das Problem nicht verschwinden, nur weil es wenig beachtet und lediglich verbal und pro forma darauf reagiert wird. Im Gegenteil, es wird sich verschlimmern. Gute Analysen sind hilfreich, aber unzureichend. In einigen Bereichen, wie bei der Sicherheit militärischer Anlagen (NATO-Stützpunkte), befindet sich der Kreml noch in der Aufklärungsphase. Im Bereich der kritischen Infrastruktur (Unterseekabel) ist er bereits zu Sabotage übergegangen. Wir dürfen die russische Seite nicht in dem Glauben lassen, dass immer dreistere Angriffe toleriert werden. Wenn wir den nötigen politischen Willen aufbringen, haben wir die Mittel und die Fähigkeiten, Moskau abzuschrecken. Deutschland und Polen sollten hier die Führung übernehmen.
Kapitel 4
WAS SANKTIONEN BEWIRKEN KÖNNEN
Die Sanktionen des Westens und die steigenden Kosten für den Krieg rütteln bereits am Fundament der russischen Wirtschaft. Die Maßnahmen sollen Russland über verschiedene Kanäle treffen und jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten wirksam werden. Finanzsanktionen wie etwa der (teilweise) Ausschluss Russlands aus dem internationalen Zahlungsverkehr haben kurzfristig oft unmittelbare und teilweise schwerwiegende Auswirkungen. Das war etwa anfangs bei den drastischen Kursreaktionen des Rubels zu beobachten. Bei Handelssanktionen, besonders im Technologiesektor und bei Gütern des Primärbedarfs, also Endprodukten, die aus lagerfähigen Komponenten hergestellt werden, lassen die wirtschaftlichen Folgen abgesehen von direkten Auswirkungen auf Import und Export länger auf sich warten.
Da Russland eine relativ große Volkswirtschaft ist, würde Studien zufolge selbst das extremste hypothetische Szenario, ein weltweites Totalembargo, das Land mittelfristig nur etwa 20 Prozentpunkte seines Bruttoinlandsprodukts kosten. Länder wie der Iran oder Nordkorea zeigen, dass nicht einmal schärfste Sanktionen eine Wirtschaft in die Knie zwingen. Selbst die Wirtschaft der Ukraine, wo der Krieg tatsächlich tobt, ist nicht zusammengebrochen. Daher war die Erwartung eines schnellen Zusammenbruchs der russischen Wirtschaft aufgrund der Sanktionen von Anfang an unrealistisch und auch nie das Ziel.
Stattdessen sollen die Sanktionen Russland die Finanzierung des Krieges erschweren. Wir sollten also nicht fragen, ob die russische Wirtschaft zusammengebrochen ist, sondern wie die Lage heute ohne die Sanktionen wäre. Daran gemessen haben die Sanktionen für den Kreml die Kosten des Krieges tatsächlich nach oben getrieben, wenn auch mit Einschränkungen.
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Analyse des Status quo: Was funktioniert – und was nicht?
Während die Wirtschaftsdaten Russlands ein Wachstum suggerieren (das Bruttoinlandsprodukt stieg 2023 um 3,6 Prozent und für 2024 ist ein ähnlicher Anstieg vorhergesagt), sollte man bei diesen Zahlen genau hinschauen. Das berichtete Wachstum ist hauptsächlich auf Staatsausgaben im Zusammenhang mit dem Krieg zurückzuführen und hatte kaum positive Effekte auf das Leben der russischen Bürger. Eine gesteigerte Rüstungsproduktion führt nicht automatisch zu mehr Lebensqualität. Niemandem in Russland geht es besser, nur weil noch eine neue Rakete an die Front geschickt wird. Das Wachstum sagt also wenig über den wahren Zustand der Wirtschaft und den Lebensstandard in Russland aus. Und selbst dann sehen nicht alle Zahlen rosig aus: Die Statistikbehörde Rosstat berichtete Anfang November 2024 von 8,5 Prozent jährlicher Inflation; der Zinssatz der Zentralbank lag bei 21 Prozent.(7)
Erwartet wird, dass die Gesamtausgaben für den Krieg – Verteidigung und innere Sicherheit (Nationalgarde, FSB und andere) zusammengenommen, etwa 40 Prozent des Haushalts oder 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Für 2025 ist eine weitere Erhöhung des Etats geplant. Die starke Konzentration des Kremls auf den Krieg verschlingt somit die finanziellen, produktiven und personellen Ressourcen und schwächt die zivile Produktion. In den Wachstumsbranchen produzieren staatliche Unternehmen Güter für die öffentliche Hand zu willkürlich festgelegten Preisen, was eine versteckte Inflation zur Folge haben dürfte. Daher kann man nicht von realem Wachstum sprechen – ähnlich wie zu Sowjetzeiten, als versteckte Inflation im Nachhinein jährlich drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachte.
In der Folge kann der von den Sanktionen schwer getroffene und vom Staat finanziell ausgeblutete nichtmilitärische Sektor die steigende Nachfrage im eigenen Land nicht mehr decken. Nach dem Exodus vieler westlicher Investoren ist der russische Markt nun voll von teuren, oft minderwertigen Importen. Außerdem umgeht Russland die Sanktionen durch sogenannte Parallelimporte über Nachbarländer wie Belarus, die Türkei und Kasachstan. Bei diesem auch als „eurasischer Kreisverkehr“ bezeichneten Vorgehen werden sanktionierte Güter über Zwischenhändler umgeleitet, bevor sie nach Russland gelangen. So können benötigte Güter zwar weiter importiert werden, wenn auch zu einem bis zu 40 Prozent höheren Preis als vorher. Auch sind die Volumen insgesamt wesentlich geringer als das der direkten Importe vor Beginn der Sanktionen.
Die gestiegenen Kosten sind eine große Belastung für die Wirtschaft. Alles in allem ist nun China mit 40 Prozent aller Importe im ersten Halbjahr 2024 Russlands wichtigster Lieferant. China liefert allerdings vor allem Endprodukte und keine Komponenten für die russische Produktion. Auch bei den von westlichen Märkten ausgeschlossenen russischen Rohmaterialexporten gibt es große Herausforderungen. Der Bergbau, eine der wichtigsten Branchen in der russischen Wirtschaft, ist seit 2023 rückläufig. Obwohl viele Exporteure neue Abnehmer außerhalb des Westens gefunden haben, ist ihre Rentabilität aufgrund der höheren Kosten für Logistik und grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr stark gesunken. Auch die Preise leiden unter der verschlechterten russischen Verhandlungsposition.
Langfristig werden sich die negativen Folgen der Abkopplung Russlands von westlicher Technologie durch die Handelsbeschränkungen noch verschärfen. In den letzten 30 Jahren waren westliche Länder, besonders die EU-Staaten, die wichtigste Bezugsquelle für High-Tech-Produkte in Russland. Länder, die selbst keine Sanktionen verhängt haben, verfügen aktuell entweder nicht über diese Technologien oder wollen sie nicht teilen, da sie Konkurrenz aus Russland oder westliche Sekundärsanktionen fürchten. Das gilt besonders für China. Der Ausfall westlicher Technologielieferanten ist ein besonderes Problem für die Erschließung neuer, oft schwer zugänglicher russischer Ölreserven und für die Aufrechterhaltung der großen, zur Finanzierung des Krieges erforderlichen Fördermengen.
Steigender Druck seitens der USA behindert außerdem zunehmend die Entwicklung des russischen Flüssiggassektors. Dabei sollte das LNG eigentlich der von Pipeline-Stopps (Nord Stream, Ukraine) betroffenen Branche mehr Flexibilität verschaffen und Russlands Position am Weltmarkt stärken.
Die steigenden Investitionen in die russische Wirtschaft, die 2024 etwa 10 Prozent über dem Vorjahreszeitraum liegen, fließen hauptsächlich in die Rüstungsindustrie und in den Ersatz westlicher Produktionswerkzeuge. Dieser technische Rückschritt in Verbindung mit Russlands demographischer Krise ist bereits jetzt ein großer Hemmschuh. In der Folge werden die Produktionskosten steigen und das Wirtschaftswachstum auf der Strecke bleiben. Dies lässt sich bereits seit dem zweiten Quartal 2024 beobachten. Bis 2025 soll das Wachstum auf unter 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fallen. Angesichts solcher Produktionsbeschränkungen werden die umfangreichen Staatsausgaben wohl eher die Inflation ankurbeln als das Wachstum.
Die Finanzsanktionen haben sich ebenfalls als recht wirksam erwiesen. Bereits seit 2014 hat Russland keinen Zugang mehr zu internationalem Kapital. Die Durchsetzung finanzieller Sanktionen ist leichter als bei Handelsbeschränkungen, nicht zuletzt aufgrund von Compliance-Anforderungen an Kreditinstitute wie das Know-Your-Customer-Prinzip. Die Wirksamkeit dieser Sanktionen steigt noch wegen der Furcht von Banken in China, der Türkei und den Golfstaaten, durch Sekundärsanktionen vom amerikanischen Finanzmarkt ausgeschlossen zu werden, wenn sie mit russischen Kunden arbeiten. Für russische Unternehmen wurde es im ersten Halbjahr 2024 zunehmend schwerer, internationalen Zahlungsverkehr abzuwickeln und ausländische Devisen zu beschaffen, was wiederum ihre Importmöglichkeiten einschränkt. In der zweiten Jahreshälfte verschärften sich auch die Probleme mit Exportzahlungen. Der geringe Zufluss an Devisen schwächt den Rubel und steigert den Inflationsdruck.
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„Russland könnten Ende 2025 die Reserven ausgehen“
Da auch die Reserven der Regierung zur Neige gehen, bekommen Unternehmen und Bevölkerung die Kriegskosten zunehmend zu spüren. Russlands Liquiditätsreserven im Nationalen Vermögensfonds waren im November 2024 auf 56 Milliarden Dollar oder 2,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts geschrumpft, und Russland hat außerdem ein anhaltendes Haushaltsdefizit von 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu finanzieren. Somit könnten die Reserven Ende 2025 aufgebraucht sein. Der Kreml wird seine Steuereinnahmen nicht weiter erhöhen können und daher die Staatsausgaben weiter einschränken müssen. Wladimir Putin spekuliert darauf, dass die Unterstützung des Westens für die Ukraine eher nachlässt als ihm das Geld zur Finanzierung des Krieges ausgeht. Das sollten wir nicht zulassen
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Schwachstellen der Sanktionen
Derzeit stellen Energie-Exporte eine stetige Einkommensquelle für die Kriegsfinanzierung dar. Russland verdient noch immer am Export von Öl (aufgrund von Ausnahmeregelungen) und Gas (aufgrund fehlender Beschränkungen) in die Europäische Union. Seit Mitte 2023 wird russisches Öl, oft mit Unterstützung westlicher Unternehmen, sogar über dem gedeckelten Preis von 60 Dollar pro Barrel gehandelt. Schätzungen zufolge wurden bis Mitte 2024 etwa 35 Prozent der Ölexporte im Seeverkehr von Tankern transportiert, die Ländern innerhalb der Ölpreisdeckel-Koalition gehören oder von ihnen versichert wurden, während der Rest mit der sogenannten Schattenflotte verschifft wurde. Diese Flotte stellt eine extreme Bedrohung für die Sicherheit des Seeverkehrs und die Umwelt dar, da viele der Tanker veraltet sind und mit unerfahrener Besatzung fahren.
Die Wirkung der Handelssanktionen wird durch die Umgehung über Drittstaaten stark unterlaufen. Das macht sich insbesondere bei Gütern und Technologien für den Rüstungssektor bemerkbar. Paralell zum Rückgang der EU-Exporte nach Russland gab es 2023 einen deutlichen Anstieg bei den Exporten in Nachbarländer der Russischen Föderation, besonders in die Türkei, nach Belarus, Kasachstan und Kirgisistan. Gleichzeitig gab es einen merklichen Aufschwung bei Lieferungen aus diesen sogenannten Verbindungsländern nach Russland, woraus zu schließen ist, dass auf diesem Wege Sanktionen umgangen wurden. Diese Trends zeichneten sich besonders deutlich im deutschen und polnischen Außenhandel ab.
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Stärkung der Sanktionen
Die Wirksamkeit der aktuellen Sanktionen lässt sich durch vier klare Ansätze steigern.
1) Auch wenn die finanziellen Sanktionen bereits sehr effektiv waren, könnte eine größere Stringenz bei allen beteiligten Ländern ihre Wirkung noch steigern. Die USA sind hier führend, aber auch die Europäische Union sollte sie aktiv ausweiten und durchsetzen und Sekundärsanktionen gegen Akteure aus Drittländern verhängen, die sich an Sanktionsvermeidung beteiligen. Eine weitere Verschärfung der Finanzsanktionen durch Brüssel, etwa durch Ausschluss von mehr russischen Institutionen (darunter die Gazprombank) vom EU-Finanzmarkt, durch den zwangsweisen Abzug europäischer Banken aus Russland und die Androhung von Sekundärsanktionen an Drittländer, die Russland unterstützen, hätte negative Auswirkungen auf Russlands finanzielle Stabilität. Polen und Deutschland könnten sich gegen Zahlungen für russische Energieexporte stark machen, was für den russischen Staatshaushalt ein empfindlicher Schlag wäre.
2) Die Handelsbeschränkungen können weiter angezogen werden. Historisch gesehen war Europa stets Russlands wichtigster Handelspartner: im Export (Öl und Gas), aber auch im Import von High-Tech-Industriegütern bis hin zu Verbraucherprodukten. Daher hat Europas rigoroses Vorgehen auch den größten Einfluss auf die Wirkung der Handelsbeschränkungen.(8) Andere westliche Länder, darunter die USA, hatten zuvor nur schwache Handelsbeziehungen mit Russland und spielen daher in diesem ökonomischen Machtgefüge eine untergeordnete Rolle. Es ist vor allem an den Behörden, Erkennungsmechanismen für ungewöhnliche Handelsmuster zu stärken. Lieferungen in Nachbarländer Russlands, die in Art, Häufigkeit und Menge von der Vorkriegszeit abweichen, sollten systematisch aufgezeigt werden, vor allem bei Dual-Use-Gütern. Wenn diese Maßnahmen auf EU-Ebene koordiniert werden würden, wären Schlupflöcher schwieriger zu finden.(9)
Außderdem sollte ein vollständiges Ende der Öl- und Gaslieferungen aus Russland priorisiert werden. Eine innereuropäische Lastenteilung kann die durch einen Stopp russischer Energieimporte erzeugten wirtschaftlichen Belastungen abfangen. Das würde die Einnahmen des Kremls für die Kriegsfinanzierung empfindlich schmälern. Es ist außerdem im gemeinsamen Interesse Deutschlands und Polens, die Aktivitäten der Schattenflotte in der Ostsee einzuschränken. Das ist zumindest in Teilen eines der Ziele des jüngsten EU-Sanktionspakets vom Dezember 2024. Beide Länder könnten sich auch für ein Embargo auf Uranimporte aus Russland und ein Kooperationsverbot mit Rosatom einsetzen. Der staatliche Atomkonzern spielt eine wichtige Rolle in der russischen Außenpolitik, vor allem gegenüber Ländern im globalen Süden, und trägt ebenfalls zum Staatshaushalt bei.
3) Europäische Konzerne müssen stärker in die Verantwortung genommen werden, die Einhaltung der EU-Sanktionen auch bei Tochter unternehmen in Drittländern zu überwachen. Die Auflage des 14. Sanktionspakets, sich „nach besten Kräften zu bemühen“, geht nicht weit genug. Die Leitlinien der EU-Kommission, in denen der Grundsatz der Bemühungen „nach besten Kräften“ erläutert wird, sind rechtlich nicht bindend. Jeder Mitgliedsstaat kann zu Umfang und Umsetzung der Maßnahmen eine eigene Position beziehen.
4) Im Hinblick auf die Erreichung ihres Hauptziels, auf ein Ende des Krieges hinzuwirken, sollten europäische Entscheidungsträger vor allem Klarheit über die Bedingungen für eine Aufhebung der Sanktionen schaffen. Angesichts der aktuellen Kreml-Politik sollte sich die westliche Koalition natürlich erst einmal darauf konzentrieren, die Sanktionen auszuweiten und sich von der russischen Wirtschaft zu entkoppeln. Damit die Maßnahmen wirksam bleiben, müssen allerdings auch die Bedingungen für eine Aufhebung klar kommuniziert werden. Die Aufhebung der Finanzsanktionen sollte etwa von der Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine abhängig gemacht werden. Handelssanktionen können erst nach der Zahlung von Reparationen aufgehoben wurden. Diese Klarheit wirkt sowohl abschreckend als auch als Anreiz für Russland und legt konkrete Schritte dar, die Voraussetzung für eine Normalisierung der Beziehungen und für eine Verringerung der wirtschaftlichen Isolation sind. Umgekehrt sollte der Westen sich nicht auf eine Lockerung des Sanktionsregimes einlassen, sobald Russland auch nur die Kampfhandlungen einstellt, wie von russischer Seite oft gefordert wurde. Denn so könnte der Kreml wirtschaftlich und militärisch wieder aufrüsten, was künftig zu einer noch aggressiveren Politik gegenüber seinen westlichen Nachbarn führen dürfte.
Kapitel 5
WARUM DAUERHAFTER FRIEDEN IN EUROPA
NUR MIT POLITISCHEM WANDEL IN RUSSLAND MÖGLICH IST
Russlands revanchistische Außenpolitik hängt direkt mit dem Charakter seines politischen Regimes zusammen. Solange das autoritäre, kleptokratische und überzentralisierte Regime an der Macht ist, erscheint keine innovative politische, soziale und wirtschaftliche Entwicklung möglich. Eine umfassende Modernisierung würde eine politische Liberalisierung erfordern, die der Kreml als existenzbedrohend erachtet. Das übergeordnete Ziel der herrschenden Elite ist der lebenslange Erhalt ihrer politischen Macht – denn nur das sichert ihren materiellen Wohlstand und persönliche Sicherheit.
Während Wladimir Putins scheinbar stabiler Herrschaft wurde Russland in einem permanenten Zustand der „Spezialoperation“ regiert. Der Kreml machte sich militärische Konflikte (von Tschetschenien bis zur Ukraine) und Wirtschaftskrisen zu Nutze, um die Art der Kommunikation zwischen Regierung und Gesellschaft zu ändern und damit die Grenzen des Hinnehmbaren in Innen- und Außenpolitik zu verschieben. Die Massenproteste gegen Putin 2011/12 haben den Kreml darin bestärkt, jede Demokratiebewegung in Russland und in benachbarten Ländern zu unterdrücken. Die systematische Unterdrückung der Zivilgesellschaft, der Meinungsfreiheit und jeglicher Form demokratischer Opposition war die Voraussetzung für Russlands Großinvasion der Ukraine und die schnelle Unterdrückung von Protesten gegen den Krieg. Das Regime nutzt den Krieg, um seine neo-totalitäre Einmischung in das Privatleben seiner Bürger, wie massenhafte Zensur, Indoktrinierung von Kindern und Jugendlichen und digitale Überwachung, auszuweiten.
Ein brutaler Krieg wie in der Ukraine mit seinen zerstörerischen Folgen, auch für die russische Bevölkerung, ist nur in einer atomisierten Gesellschaft ohne politische Handlungsfähigkeit möglich.
In den mehr als drei Jahrzehnten seines Bestehens als postsowjetischer Staat war Russland nicht in der Lage, eine postimperiale nationale Identität auszubilden. Dazu hätte es einer ernsthaften Auseinandersetzung mit seiner totalitären Vergangenheit bedurft. Und das liefe absolut gegen die innenpolitischen Ziele des Regimes. Um sein zunehmend unterdrückendes Vorgehen zu legitimieren, befördert das Regime eine revanchistische, imperialistische Idee, die sich aus der Tradition der Zarenzeit und der Sowjetunion ableitet. Getrieben von einem Minderwertigkeitskomplex und Ressentiments gegen den Westen nach der Niederlage im Kalten Krieg wird die Sowjetvergangenheit glorifiziert und die vorsowjetische imperialistische Vergangenheit heraufbeschworen.
Dieses Narrativ zeichnet das Land als tausendjährige Zivilisation, die auf alle Zeiten vom Westen bedroht wird. Russland wird als letzte Bastion dargestellt, die „traditionelle Werte“ gegen die „destruktive“ und „dekadente“ liberale Demokratie verteidigt. Um Russlands Großmachtstellung wiederzuerlangen, fordert die Führung eine geographische Pufferzone (Cordon sanitaire). Dadurch soll der Westen auf Abstand gehalten und verhindert werden, dass demokratische Ideen die russische Gesellschaft kontaminieren. Gewalt und Militarismus werden als inhärente Bestandteile des russischen Erbes betrachtet. Militärische Interventionen in Nachbarländern werden als „präventive“ Verteidigung gegen den Westen präsentiert.
Das Konzept der „belagerten Festung“ Russland findet in der russischen Bevölkerung breiten Anklang. Ihrer Autonomie und politischen Handlungsfähigkeit beraubt sucht sie Kompensierung in der Allmacht des Staates. Das Regime rechtfertigt den Krieg gegen die Ukraine und den „kollektiven Westen“ als Neuauflage des Großen Vaterländischen Krieges – ein mächtiges Narrativ, das weite Teile der Bevölkerung vereint, und ein wirksames Mittel, um patriotische Unterstützung für die Regierung zu generieren und von Repression und Korruption abzulenken. Russlands Nationalstolz speist sich teilweise aus der Angst der anderen vor seiner Zerstörungskraft.
Neben diesen Narrativen sind durch großzügige Tranferleistungen, Bezahlungen und Privilegien für ausgewählte Gruppen neue Begünstigte des Krieges entstanden. Dazu gehören Vertreter der Verteidigungsindustrie, des Unterdrückungsapparats sowie Profiteure der schleichenden Verstaatlichung der Wirtschaft und der Beschlagnahmung von Vermögen russischer und ausländischer Unternehmen, aber auch Kriegsteilnehmer und ihre Familien. Letztere kommen oft aus bitterarmen Provinzen und genießen einen nie für möglich gehaltenen sozialen und finanziellen Aufstieg. Damit unterstreicht der Kreml sein Narrativ, dass Krieg nicht nur ein Normalzustand, sondern auch ein gewinnbringendes Geschäft und ein Weg zu Wohlstand ist.
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Was getan werden muss
Solange die derzeitigen Machtstrukturen in Russland bestehen, wird es eine aggressive Außenpolitik betreiben und eine große Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung bleiben.
Deshalb sollte die Russlandpolitik des Westens darauf abzielen, dass a) Wladimir Putin mit seinen imperialistischen Absichten scheitert und b) tiefgreifender politischer Wandel in Russland möglich wird.
Während eine entwickelte Demokratie in nächster Zeit für Russland keine realistische Perspektive ist, sind Liberalisierung, Dezentralisierung und Pluralismus erreichbar – wenn auch nicht leicht. Ein realistisches Minimum wäre mehr politischer Wettbewerb innerhalb der Machtelite und zwischen einflussreichen Gruppen. So könnte das Monopol der kleinen herrschenden Gruppe aufgeweicht werden, die bislang ohne jegliche Kontrolle Entscheidungen mit wesentlichen Auswirkungen auf die globale Sicherheitsordnung trifft. Die Aufhebung repressiver Gesetze, die Freilassung politischer Gefangener und die Aufhebung der Zensur sollten im Kern dieses Prozesses stehen.
Natürlich kann nur die russische Bevölkerung das Land verändern, aber die Politik des Westens kann Rahmenbedingungen schaffen, die für mehr Offenheit und Pluralismus förderlich sind. Eine solche Politik sollte sich auf Folgendes konzentrieren:
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I. Putins imperiales Projekt in Misskredit bringen und ihn in den Augen der eigenen Bevölkerung delegitimieren
Ein Scheitern von Putins neoimperialistischen Vorhaben in der Ukraine würde dem politischen Establishment in Russland und der Bevölkerung zeigen, dass Krieg eine Gefahr für Russlands Zukunft ist. Solange der Militarismus und die Vorstellung von der Wiederbelebung eines vergangenen Imperiums nicht umfassend kompromittiert sind, werden sich künftige Regierungen wahrscheinlich weiter darauf berufen, um ihre Macht zu sichern. Das würde auf Jahrzehnte hinaus für Spannungen sorgen und die europäische Sicherheit bedrohen.
Auch hier ist die derzeitige unentschlossene Politik des Westens gegenüber Moskau kontraproduktiv. Solange er noch an einen militärischen Sieg aufgrund der scheinbaren Schwäche des Westens glauben kann, sind Verhandlungen mit Putin verfrüht. Sie würden seine Stellung in Russland weiter stärken, wodurch er weitere Ressourcen für den Krieg mobilisieren könnte. Verhandlungen zu diesem Zeitpunkt würden anderen aggressiven revanchistischen Staaten signalisieren, dass das Völkerrecht zahnlos und das Recht auf Seiten der Mächtigen ist, und dass sogar genozidale Handlungen ungesühnt bleiben. Insgesamt würde das den weltweiten Rückgang von Demokratie und den Aufstieg autoritärer Systeme beschleunigen.
Jahrzehntelang hat der Westen Putins zunehmend repressives Regime in den Augen der russischen Gesellschaft und der internationalen Gemeinschaft legitimiert. Russland investierte westliches Geld in seine Armee, seinen Unterdrückungsapparat, seine Propagandamaschinerie und seine subversiven Operationen gegen westliche Demokratien. Gleichzeitig zahlte das Regime nur einen geringen oder gar keinen Preis für seine massiven Menschenrechtsverletzungen, die der Vollinvasion von 2022 vorangingen.
Nun ist es im strategischen Interesse des Westens, Putins Regime zu delegitimieren und seinen politischen Niedergang zu befördern. Das wäre eine Chance für politischen Wandel. Eine resolute militärische, politische und wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine, die dem Land erlaubt, den Krieg zu seinen Bedingungen zu beenden, könnte zusammen mit wirksameren Sanktionen Spannungen innerhalb der herrschenden Eliten und damit einen politischen Führungswechsel ermöglichen – vor allem, wenn die Moral in der Armee schnell schwindet. Die Angriffe gegen militärische Ziele innerhalb Russlands und die zunehmenden wirtschaftlichen Probleme im Alltag machen es wahrscheinlicher, dass Zweifel am Sinn des Krieges und an Putins Zuverlässigkeit als Garant für Sicherheit und Stabilität aufkommen.
So schwer es auch sein mag, der Westen sollte darauf hinarbeiten, Russlands Nomenklatur zu spalten. Diejenigen, die öffentlich gegen den Krieg Position beziehen und sich glaubwürdig an die Seite Kyjiws stellen, sollten im Westen Sicherheit angeboten bekommen. Solange sie keine Kriegsverbrechen begangen haben, sollten sie von Sanktionen ausgenommen werden. Derartige Risse könnten die Vorstellung entkräften, dass kein anderes Regime möglich sei.
Ziel des Westens sollte sein, der Normalisierung des Krieges in den Augen der russischen Öffentlichkeit etwas entgegenzusetzen. Die Widerlegung antiwestlicher Narrative sollte Teil dieser Strategie sein. Obwohl die Unterstützung für den Krieg und das Regime nach wie vor groß ist, sind die Aussichten nicht so rosig wie der Kreml sie darstellt. Die Propaganda-Müdigkeit nimmt zu und die wirtschaftlichen Probleme des Landes treten immer mehr ins öffentliche Bewusstsein. Die Bindung an die besetzten Gebiete in der Ukraine ist schwach und eher abstrakt. Doch die größte, von staatlicher Propaganda geschürte Angst ist, dass eine Niederlage im Krieg den endgültigen Untergang Russlands bedeuten würde.
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II. Pluralismus und politische Alternativen unterstützen
Es gibt noch immer Millionen unabhängig denkender Menschen in Russland. Da politische Opposition aber de facto verboten ist, haben es viele Aktivisten, Meinungsmacher, Journalisten und Künstler zunehmend schwer, Räume für kritischen Diskurs und bürgerschaftlichen Geist offenzuhalten. Diese Menschen verdienen eine verlässliche, langfristige und strategische Unterstützung des Westens. Das ist nicht nur ein humanitäres Projekt, sondern ein politisches Unterfangen, dass zur europäischen Sicherheit beiträgt.
Dabei sind zwei Dimensionen des Engagements solcher Menschen besonders wichtig:
- Erstens erreichen einige unabhängige Medien trotz strenger Zensur immer noch Russinnen und Russen. Während Exilmedien regime- und kriegskritische Inhalte offen verbreiten können, müssen in Russland verbliebene Medien Inhalte vorsichtig auf ein bestimmtes Publikum zuschneiden. Codierte („Äsopische“) Sprache und eine Berichterstattung über die Mühen des russischen Alltags statt über „große Politik“ sind oft wirksame Mittel zur Verbreitung kritischer Botschaften.
- Zweitens ist in einem zunehmend totalitären Staat die Überwindung gesellschaftlicher Zersplitterung und Vertrauensbildung innerhalb lokaler Gemeinschaften ein Wert an sich. Kleine Schritte wie äußerlich unpolitische Initiativen von Aktivisten können in Zukunft eine wichtige Wirkung haben, wenn die Repressionen gelockert werden.
Seit 2022 erlebt Russland die größte Welle politischer Emigration in seiner jüngeren Geschichte. Unter den Hundertausenden im Exil befindet sich eine relativ kleine, aber aktive Gruppe von Bürgerrechtlern, Politikerinnen, Journalisten und Wissenschaftlerinnen, die sich in zivilgesellschaftlichen Initiativen für unabhängige Medien und politisch engagieren.
Die Unterstützung für demokratische Gruppen in Russland und im Exil muss klaren politischen Kriterien folgen: die Begünstigten müssen sich gegen Krieg, Autoritarismus und Imperialismus einsetzen, auch wenn sie bei öffentlichen Aktivitäten vorsichtig sein müssen. Westliche Geldgeber sollten sich auf Methoden besinnen, die gegen die sowjetische Unterdrückung eingesetzt wurden, etwa die Bekanntmachung von Kriegsgräuel und staatlicher Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung.
Die meisten Aktivistinnen und Aktivisten werden in einer Zeit nach Putin politisch wohl keine entscheidende Rolle spielen. Doch bei der Erarbeitung von Konzepten und Visionen für politische Liberalisierung und Pluralismus in einem künftigen Russland können sie eine große Rolle spielen. So können sie mit der russischen Bevölkerung über das „Leben nach Putin“ und „nach dem verlorenen Krieg“ und über die Bedingungen für eine künftige Wiederannäherung an den Westen kommunizieren.
Gute Kontakte zu möglichen „Agents of Change“ in Russland und im Exil tragen zu einem besseren Verständnis der politischen Landschaft und der öffentlichen Meinung bei, so dass die westliche Herangehensweise entsprechend angepasst werden kann. Für deren Aktivitäten wird aber nur dann mehr Raum entstehen, wenn das System durch eine militärische Niederlage und die Auswirkungen der Sanktionen entscheidend geschwächt ist.
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III. Verschiedene Szenarien und politische Ansätze für ein Russland nach Putin in Betracht ziehen
Um politisch angemessen, verhältnismäßig und koordiniert vorgehen zu können, braucht der Westen eine nüchterne Analyse von Russlands Stärken und Schwächen im Inneren sowie der Chancen und Risiken eines politischen Wandels.
Ein turbulenter Umbruch (etwa als Ergebnis einer militärischen Niederlage Moskaus) wird im Westen gerne als schlimmster anzunehmender Fall betrachtet, auch wenn das bedeuten könnte, dass Moskau einer regelbasierten internationalen Ordnung weniger aggressiv und feindlich gegenüberstehen würde. Egal, wer an die Macht kommt: zumindest in den ersten Jahren hätte eine neue Führung ohne Putin innenpolitisch weniger Kontrolle.
Ein von der Kremlpropaganda weit verbreitetes Stereotyp ist, dass Russlands unendliche Weiten nur mit harter Hand regiert werden können und dass seine Bevölkerung fundamental ungeeignet für Demokratie sei. Darüber hinaus wird Putin als Bollwerk gegen radikale Nationalisten und kriminelle Vereinigungen dargestellt, die im Falle seines Sturzes die Macht an sich reißen würden.
In Wirklichkeit aber ist Putin der führende Nationalist in Russland und ein international gesuchter Kriegsverbrecher. Der Schaden, den eine Fortführung des aktuellen Regimes der globalen Sicherheitsordnung zufügt, wird weithin unterschätzt. Auch wird die Tatsache übersehen, dass der Putinismus und die dadurch entstandene Strukturschwäche ein beachtliches Risiko für eine Destabilisierung Russlands darstellen.
Wenn Putins personalisierte Diktatur eines Tages endet, kann das System in der Tat instabil und chaotisch werden. Konkurrierende Rivalen kämpfen jedoch eher gegeneinander als gegen ihre Nachbarn. Es gibt außerdem gute Gründe zu glauben, dass die neuen Herrscher nicht weniger an der Erhaltung des nuklearen Arsenals interessiert sein dürften als die postsowjetische Nomenklatura der 1990er. Zumindest um sich international Legitimität zu sichern.
In diesem Zusammenhang wird oft gemutmaßt, dass separatistische Bewegungen zu einem Auseinanderbrechen Russlands führen könnten. Während es durchaus in vielen Regionen Moskau-kritische Stimmen gibt, haben die allerdings nur wenig mit separatistischen Strömungen zu tun. Außerdem ist Russland wesentlich besser in der Lage, mit größeren Turbulenzen fertig zu werden, als es die Sowjetunion war. Das Wirtschaftsmodell ist immer noch stark marktbasiert, kleine und mittelständische Unternehmen sind bisher flexibel genug, um trotz des korrupten Staatskapitalismus zu überleben, und die einst so robuste Zivilgesellschaft wird sich sicher auch zurückmelden, wenn die Repressionen nachlassen.
Unabhängig davon, wer nach Putin kommt, sollte eine Normalisierung der Beziehungen nicht nur davon abhängig gemacht werden, dass Moskau seine aggressive Außenpolitik aufgibt und die Ukraine entschädigt, sondern auch von einer Liberalisierung der Politik im Inland. Das künftige Staatsoberhaupt wird wahrscheinlich schwächer und für Druck empfänglicher sein; zumindest bis seine Macht konsolidiert ist. Der Kreml wird zu seiner Legitimierung auch auf den Westen schauen. Um demokratische Gruppen innerhalb Russlands zu unterstützen, sollten westliche Regierungen bereit für eine Null-Toleranz-Politik bei Menschenrechtsverletzungen sein.
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Perspektiven für koordiniertes deutsch-polnisches Handeln
Obwohl der russische Großangriff auf die Ukraine 2022 in Deutschland zu einer weitreichenden Ernüchterung bezüglich Russland geführt hat, ist die Angst davor, dass ein Regimewechsel mit Instabilität und unvorhersehbaren Konsequenzen einhergehen könnte noch immer weit verbreitet.
Im Gegensatz dazu herrscht in Polen weniger Sorge vor möglichem politischen Chaos in Russland. Denn das Land hat während der Besatzung durch die Sowjetunion im 20. Jahrhundert und durch Russland im 19. Jahrhundert den Staatsterror und die Grausamkeit des Kremls erfahren. Die Wahrnehmung Russlands in Polen beruht weitgehend darauf, dass das Land 1918 und 1991 seine Souveränität wiedererlangen konnte, weil Moskau zu geschwächt für Interventionen im Ausland war.
Sowohl Polen als auch Deutschland haben eine lange Tradition der Demokratieförderung in Russland durch Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition. Auf dieser Grundlage sollte es möglich sein, wirksame Unterstützung auch in einem zunehmend totalitären Umfeld zu leisten.
Deutschland hat traditionell umfangreichere zivilgesellschaftliche Beziehungen zu Russland als die meisten anderen EU-Länder. Seit 2022 hat die Bundesregierung diese Politik auf den Prüfstand gestellt und konzentriert sich nun auf Beziehungen mit der unabhängigen russischen Zivilgesellschaft.
Gezielte Instrumente wie Stipendien und humanitäre Visa für Einzelpersonen sowie gezielte finanzielle Unterstützung haben Deutschland zu einem wichtigen Zentrum für die russische Zivilgesellschaft, unabhängige Medien und die demokratische Opposition im Exil gemacht. Das Programm „Ausbau der Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft in den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Russland“ des Auswärtigen Amts steht auch polnischen NGOs offen.
Obwohl Polen vom Krieg wesentlich stärker betroffen ist und zwei Millionen ukrainische Geflüchtete und Migranten aufgenommen hat, unterstützt es weiter russische Bürger im politischen Exil, hauptsächlich mit humanitären Visa und Hilfen für Diaspora-Netzwerke.
Doch alle Bemühungen zur Unterstützung der russischen demokratischen Zivilgesellschaft im In- und Ausland werden durch die andauernden Repressionen im Land und die Kriminalisierung ausländischer Organisationen als „unerwünscht“ erschwert. Hier können regelmäßiger Austausch und eine Koordination der Agenda zwischen der deutschen und der polnischen Regierung sowie mit deutsch-polnischen Expertengruppen, russischen NGOs und unabhängigen Medien zu einer kohärenteren Politik des Westens gegenüber russischen demokratischen Gruppen und zu einer langfristigen Strategie für eine Transformation Russlands beitragen.
SCHLUSSFOLGERUNGEN UND EMPFEHLUNGEN
Dieser Bericht zeigt, dass sich die Meinungen deutscher und polnischer Experten mehr ähneln denn je. Und zwar nicht nur in der Lageeinschätzung, sondern auch, und das ist wichtig, in Bezug auf die Empfehlungen für eine europäische Russlandpolitik. Obwohl die Regierungen in Deutschland und Polen in ihrer Politik bezüglich des Krieges in vielen Aspekten übereinstimmen, auch was die Notwendigkeit einer fortgesetzten Unterstützung und das unveräußerliche Recht der Ukraine auf Souveränität angeht, liegen sie doch in ihren Vorstellungen über eine Beendigung des Krieges weit auseinander.
Diese unterschiedlichen Ziele führen zu deutlichen Differenzen in Art, Geschwindigkeit und Umfang der militärischen Unterstützung für die Ukraine. Sie führen auch zu abweichenden Präferenzen bei spezifischen Politikthemen (etwa Sanktionen oder der Grad der Isolierung des Putin-Regimes). Außerdem können sich Berlin und Warschau bisher nicht auf eine gemeinsame Lösung des „Russland-Problems“ einigen. Eine Annäherung der beiden Nachbarn erfordert daher einen umfassenden strategischen Dialog und eine Abkehr Deutschlands von seiner paternalistischen Sicht auf Polen.
Eine der größten Schwächen in der westlichen Herangehensweise an die russische Aggression gegen die Ukraine und den hybriden Krieg gegen den Westen ist das Fehlen eines gemeinsamen Ziels und einer koordinierten Strategie. Zugleich ist vor dem Hintergrund von Donald Trumps Rückkehr ins Weiße Haus und der volatilen politischen Situation in Europa die Lage im Westen komplexer denn je. In dieser kritischen Situation könnte eine wesentlich engere Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen ein wichtiger Beitrag zur Erarbeitung eines europäischen Sicherheitskonsens sein.
Mit Blick auf die kritische Zuspitzung des Krieges in der Ukraine drängt die Zeit, dass Berlin und Warschau (und der Westen insgesamt) eine gemeinsame Position zu einem gewünschten Ausgang des Krieges finden und Schritte erarbeiten, um den zu erreichen. Selbst wenn die Bundestagswahl am 23. Februar den lang erwarteten Wandel in der Ukrainepolitik bringen sollte, bedeutet das nicht automatisch, dass sich die Einstellungen zur Beendigung des Krieges in beiden Hauptstädten annähern werden.
Ein militärischer und diplomatischer Sieg Russlands hätte nicht nur schlimme Folgen für die europäische Sicherheit und die internationale Ordnung. Er würde auch im westlichen Bündnis massiv für Aufruhr sorgen.
Daher glauben wir, dass Europa vor fünf wichtigen Aufgaben steht.
- Eine realistische Beurteilung dessen, was in dem andauernden Krieg auf dem Spiel steht: Russland kämpft nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen uns. Sein Ziel ist dabei nicht, mehr ukrainisches Territorium zu besetzen, sondern das gesamte Land unter seine Kontrolle zu bringen und damit die internationale und besonders die europäische Sicherheitsordnung neu zu definieren. Daraus können wir schlussfolgern, dass wir uns an einem Wendepunkt in der europäischen Geschichte nach dem Kalten Krieg befinden. Form und Inhalt des nächsten politischen Zeitalters hängen von uns ab.
. - Russland die Hoffnung auf den Sieg nehmen. Uns muss bewusst sein, dass der Kreml weiter hofft, dass er den Krieg gewinnen kann, weil der Westen uneinig, unentschlossen und von Eskalationsangst getrieben ist. Die Schwäche des Westens macht Russland stark, gibt dem Kreml Optionen und verlängert damit den Krieg. Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt, hat Europa neben gesteigerten Waffenlieferungen immer noch die Möglichkeit, die Sanktionen gegen Russland zu verschärfen. In diesem Zusammenhang sollten auch eingefrorene russische Vermögen, und nicht nur deren Kapitalerträge, zur Unterstützung der Ukraine eingesetzt werden.
. Schnellstmöglich das militärische Potenzial Europas soweit ausbauen, damit der europäische Beitrag zur NATO-Verteidigungskapazität seinem Wirtschaftsvolumen entspricht. Wen
n wir uns in Europa weiter das politische und militärische Engagement der USA sichern wollen, dann müssen wir zeigen, dass wir einen fairen Beitrag zur Bündnisverteidigung leisten wollen. Die Lage wird sich eher verschärfen, da die USA voraussichtlich ihre Aufmerksamkeit in Richtung Pazifik verschieben werden. Abgesehen von politischer Trägheit gibt es keinen Grund, weshalb Europa seine Verteidigung nicht selbst regeln können sollte. Realistischerweise muss man sagen, dass das noch viele Jahre dauern wird. Doch die ersten Schritte sollten unverzüglich erfolgen. Mit einem Verteidigungsetat von mehr als 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und einem parteiübergreifenden und gesellschaftlichen Konsens geht Polen hier mit bemerkenswertem Beispiel voran.
.- Endlich eine gemeinsame Strategie zur Vereitelung von Russlands neo-imperialistischen Ambitionen finden. Dazu müssen bewährte Routinen und bequeme, jedoch überholte Gewohnheiten aufgegeben werden. Russlands andauernde hybride Übergriffe energisch und ohne Zögern zurückzudrängen und ihnen ernsthafte Konsequenzen folgen zu lassen sollte dabei Priorität sein. Dazu gehören auch zusätzliche Verteidigungsausgaben auf nationaler und EU-Ebene. Deutschland und Polen sollten gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um den europäischen Pfeiler der NATO zu stärken und eine langfristige Strategie gegenüber Russland aufzubauen. Deutschland ist nach wie vor ein wirtschaftliches Schwergewicht und ein wichtiger Akteur in der EU, während Polen aufgrund seiner Unterstützung für die Ukraine und der Verpflichtung zur Erhöhung seiner Verteidigungskapazitäten in den letzten Jahren an politischer Glaubwürdigkeit gewonnen hat. Für den Anfang könnten Deutschland und Polen das bestehende Format des „Weimarer Dreiecks“ nutzen und Frankreich mit einbinden.
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Eine weitere strategische Möglichkeit ist die Bildung einer europäischen „Koalition der Willigen“, um die Ukraine zu unterstützen und die europäische Verteidigung zu stärken. Eine solche Initiative muss die gewachsene Rolle der Länder Mittelosteuropas, des Baltikums und Skandinaviens widerspiegeln. Das Gipfeltreffen der Nordic-Baltic-8-Gruppe Ende November war ein Schritt in die richtige Richtung. Dem sollte die Schaffung eines institutionalisierten Mechanismus für die Koordinierung der Sicherheitspolitik und den Schnittstellenaufbau zwischen relevanten Institutionen der teilnehmenden Länder folgen, der sich mit den verschiedenen Aspekten der russischen Bedrohung befasst. Dabei muss Sorge getragen werden, dass solche Mechanismen den internen Zusammenhalt zwischen der EU und NATO stärken.
. - Endlich erkennen, dass Russlands aggressive Politik tief in seiner politischen Kultur und seinem Regierungssystem verankert ist, und auf unterschiedliche Szenarien und Politikansätze für ein Russland nach Putin vorbereitet sein. Jede Form der künftigen Integration Russlands in die internationale Ordnung erfordert eine tiefgreifende Veränderung seines derzeitigen Regierungsmodells. Das kann lange dauern und muss nicht unbedingt Erfolg haben. Mittelfristig bleibt Russland eine große Bedrohung und Herausforderung für die europäische Sicherheit. Der Westen sollte auf verschiedene Regimewechsel-Szenarien vorbereitet sein. Der Zusammenbruch des Assad-Regimes in Syrien hat wieder gezeigt, wie schnell eine langjährige Diktatur zusammenbrechen kann. Zwar ist eine entwickelte Demokratie zunächst für Russland keine realistische Perspektive, politische Liberalisierung, Dezentralisierung und Pluralismus sind aber erreichbar. Politischer Wandel kann nur von der russischen Bevölkerung ausgehen, aber die Politik des Westens kann Rahmenbedingungen für mehr Offenheit und Pluralismus schaffen. Ziel dieser Politik sollte sein, Putins imperiales Projekt zu Fall zu bringen, die russischen Eliten zu spalten sowie politische Alternativen zu stärken.
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Das Endspiel im Ukrainekrieg: Einige Politikempfehlungen
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1. Einen gemeinsamen Ansatz für Verhandlungen mit Russland finden
Nach unserer Auffassung sind folgende Punkte für Europa und den Westen nicht verhandelbar:
- Die innere Souveränität der Ukraine; Russland hat kein Recht, sich etwa in die Verfassung des Landes und seine Regierung einzumischen.
. - Die externe Souveränität der Ukraine bezüglich ihres Beitritts zu NATO und EU.
. - Die europäische Sicherheitsarchitektur. Zu den russischen Forderungen vom Dezember 2021 sollte es keinerlei Verhandlungen geben.
. - Der Westen sollte eine schrittweise Aufhebung der Sanktionen an verbindliche Vereinbarungen knüpfen, die weit über ein Einfrieren des Status quo hinausgehen. Diese sollten europäische Sicherheitsfragen beinhalten, etwa den Abzug russischer Truppen aus der Ukraine und russischer Atomwaffen aus Belarus und Kaliningrad, die Freilassung aller ukrainischen Gefangenen und politischen Häftlinge in Russland und die rechtliche Belangung aller Verantwortlichen für den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch finanzielle Entschädigungen Russlands für die umfangreiche Zerstörung in der Ukraine dürfen nicht fehlen.
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2. Sicherung der Ukraine in ihren faktischen Grenzen
Eine der wichtigsten Fragen zur politischen Beilegung des Krieges ist, wie man Russland davon abhält, die Ukraine erneut anzugreifen. Uns sollte klar sein, dass eine Aufnahme der Ukraine in die EU stabile und verlässliche Sicherheitsgarantien erfordert.
- Angesichts der Unsicherheit bezüglich des künftigen Engagements der Trump-Regierung muss Europa bereit sein, die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine dauerhaft zu stärken.
. - Um die Situation nach einem möglichen Waffenstillstand zu stabilisieren, sollten Deutschland und Polen darauf vorbereitet sein, eine robuste europäische Friedenstruppe in der Ukraine einzusetzen. Vorzugsweise mit Beteiligung der USA.
. - Wir schlagen die Schaffung eines EU-Sondervermögens für die Finanzierung der Militärhilfen für die Ukraine vor, zusammen mit Maßnahmen zur Stärkung des militärischen Potentials von EU-Mitgliedstaaten gemäß den NATO-Prioritäten zur Schließung der Fähigkeitslücken. Nur wenn die Europäer ihren Beitrag zur NATO erhöhen, werden die USA sich weiter in Europa einbringen.
. - Auch wenn bisher aufgrund wiederholten Widerstands aus Deutschland eine baldige NATO-Mitgliedschaft der Ukraine vom Tisch ist, sollte für Kyjiw der Weg in das Bündnis offen sein und die NATO eine Einladung aussprechen.
Autoren und Herausgeber
© Zentrum für die Liberale Moderne, 2024
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Das Zentrum für die Liberale Moderne steht für die Verteidigung und Erneuerung der liberalen Demokratie, für den Aufbruch in die ökologische Moderne und für eine fundierte Osteuropa-Expertise. Wir verstehen uns als politischer Think Tank, Debattenplattform und Sammelpunkt für Freigeister unterschiedlicher Couleur.
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Das Zentrum für Oststudien (OSW) ist ein staatliches Institut in Warschau, das wissenschaftliche Analysen zu Russland, Ost- und Mitteleuropa, dem Kaukasus, Zentralasien, dem Balkan, Deutschland und anderen Weltregionen, einschließlich China und Israel, anfertigt. Darüber hinaus forscht das OSW zu spezifischen Themen wie Energiepolitik der EU, zu Verkehr, Handel und europäischer Sicherheit.
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Konzept
Ralf Fücks (LibMod)
Wojciech Konończuk (OSW)
Irene Hahn-Fuhr (LibMod)
Maria Sannikova-Franck (LibMod)
Maria Domańska (OSW)
Autoren
Anders Åslund (Publizist und Wirtschaftswissenschaftler)
Maria Domańska (OSW),
Arndt Freytag von Loringhoven (Botschafter i.R.)
Ralf Fücks (LibMod)
Gustav Gressel (Landesverteidigungsakademie, Wien)
Irene Hahn-Fuhr (LibMod)
Julian Hinz (Kiel Institute für Weltwirtschaft)
Wojciech Konończuk (OSW)
Robert Pszczel (OSW)
Witold Rodkiewicz (OSW)
Maria Sannikova-Franck (LibMod)
Konrad Schuller (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)
Jacek Tarociński (OSW)
Iwona Wiśniewska (OSW)
Ernest Wyciszkiewicz (Mieroszewski Zentrum)
Redaktion: Nikolaus von Twickel (LibMod)
Layout: Zahra Rashid (Blu Dot)
V. i. S. d. P.: Ralf Fücks for Zentrum für die Liberale Moderne gGmbH
Deutsche Übersetzung: Ariane Stark
Dieses Paper ist online auf russlandverstehen.eu/ veröffentlicht. Das englische Original steht bei libmod.de/network-russia/ und osw.waw.pl/en.
Veröffentlicht im Dezember 2024 von
Zentrum Liberale Moderne
Reinhardtstraße 15
10117 Berlin
Deutschland
+49 (0)30 – 13 89 36 33
info@libmod.de
www.libmod.de
Dieses Paper wurde im Rahmen des vom Auswärtigen Amt unterstützten Projekts „Neue Russlandpolitik und Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft“ veröffentlicht. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung der Autoren wieder.
Fußnoten
- Mehr dazu in Kapitel 5.
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Gipfelerklärung: https://www.government.se/articles/2024/11/nordic-baltic-summit-and-new-partnership-with-poland/
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Ukraine Support Tracker: https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/
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Bob Woodward, „Krieg“ Carl Hanser Verlag; 3. Edition (21. 10. 2024), S. 175ff;
- https://www.politico.eu/article/finland-defense-minister-antti-hakkanen-nato-eu-critical-networks-undersea-cables-damage-russia-baltic-sea
- https://www.gov.pl/web/diplomacy/minister-of-foreign-affairs-decides-to-close-russian-consulate-in-poznan
- Andere Zahlen, etwa vom Institut Romir, belegen für diesen Zeitraum einen Preisanstieg bei Produkten und Dienstleistungen von mehr als 20 Prozent.
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Da wirtschaftliche Abhängigkeiten oft beiderseitig sind, führten die Sanktionen zu wirtschaftlichen und somit auch zu politischen Kosten. Ein Beispiel dafür war die deutsche Abhängigkeit von russischem Öl und Gas, die wesentlich ausgeprägter war als in anderen europäischen Ländern, was die politische Ablösung von Russland erschwerte.
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Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Vorgehens sollten von allen Mitgliedsstaaten fortlaufend verschärft und untereinander abgestimmt werden. (Im ersten Halbjahr 2024 verhängte Polen Geldstrafen gegen mehr als 20 Unternehmen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kündigte strengere Sanktionskontrollen bei deutschen Unternehmen an.) Auch wenn russische Unternehmen immer neue Wege finden werden, an Güter zu gelangen, treiben Sanktionen die Preise und Lieferzeiten in die Höhe.
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https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/europa/erweiterung-nachbarschaft/nachbarschaftspolitik/zivilgesellschaft-projekte-oestliche-partnerschaft-301008.
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