„Der Glaube an eine paternalistische Struktur macht die Menschen passiv“
Russland ist geprägt von Unterdrückung, Willkür und Krieg – die russische Autorin und Dramaturgin Irina Rastorgueva im Interview über die politische Kultur in Russland, Protestbewegungen und die Sakralisierung der Macht.
In „Das Russlandsimulakrum“ beschäftigen Sie sich mit der Kulturgeschichte des politischen Protestes in Russland und betten den Putinismus ein in eine lange Geschichte des Autoritarismus vor Ort. Was zeichnet die politische Kultur in Russland aus?
Seit jeher wiederholen sich die gleichen Muster. Russland liegt zwischen Europa und Asien und war daher immer dualistisch beeinflusst: von europäischen Ideen, dem Individualismus, dem Liberalismus, aber auch vom Kollektivismus und vom Patriarchat. Beides stand immer wieder Konflikt, schon seit dem Dekabristen-Aufstand 1825, der ersten gegen die zaristische Autokratie gerichteten revolutionären Bewegung, die von revoltierenden Offizieren der Armee des Zaren ausging.
Mit welchen Folgen?
Putins Leute sagen oft, dass Russland eine eigene Zivilisation ist und einen besonderen Weg der Entwicklung hat. Ich glaube nicht an den Sonderweg irgendeines Landes, global gesehen wählen alle Länder entweder einen demokratischen oder totalitären Weg. Russland ist geprägt von Unterdrückung und Krieg, vom Versuch des jeweils nächsten politischen Führers, an der Macht zu bleiben. In diesem Fall ist der einfachste Weg, die gesamte demokratische Welt zum Feind zu erklären und in einer „belagerten Burg“ zu leben.
Obendrein ist Russland ein großes und heterogenes Land: Diese Vielzahl von Nationen, Ländern und Republiken muss irgendwie zusammengehalten werden. Um dies auch mit gewaltsamen Mitteln zu erreichen, wird Macht sakralisiert: Der politische Führer wird wie ein Gott und eine unfehlbare Vaterfigur verklärt. Dazu gehört auch die weitverbreitete paternalistische Vorstellung, dass nur der Präsident, Zar, Generalsekretär oder bolschewistische Führer alle Probleme allein lösen kann; dass er stark und kompromisslos sein muss.
Was bedeutet das für die Bevölkerung, damals und heute?
Die Schwierigkeit in der Beziehung zwischen der Regierung und dem Volk besteht darin, dass das Volk die Spielregeln nicht versteht. Das Parlament erlässt eine ungeheure Zahl an Gesetzen, die nach Belieben ausgelegt werden können. Russische Bürger/innen müssen also jederzeit fürchten, sich schuldig zu machen, verhaftet und bestraft zu werden – ohne jedoch zu wissen, wofür. Für den eigenen Machterhalt ist die Regierung ohne Wenn und Aber bereit, Blut zu vergießen, auch in den eigenen Reihen. Die Folge ist eine Art Wettkampf darum, wer aggressiver und grausamer ist. Das bestimmte auch die sowjetische Zeit, selbst wenn es, nach Stalin, unter Nikita Chruschtschow weniger extrem war.
Große Teile der Bevölkerung stellen sich auf die Seite der Regierung. So wähnen sie sich unter Schutz. Das ist wie eine Art verlogene Sicherheitsgarantie. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion erodierte teilweise die wirtschaftliche Grundlage zur Finanzierung des staatlichen Repressionsapparats. In den wenigen Jahren relativer Freiheit vor dem Putinismus gelang es aber nicht, Instrumente und Institutionen zu schaffen, die die Menschen für eine aktive Teilnahme am politischen Leben zu begeistern. Trotz des Engagements von Menschenrechtsorganisationen und anderen Kräften wissen die meisten Menschen einfach nicht, wie das funktioniert. Die politische Kultur ist geprägt von einem festen Glauben an diese paternalistische Struktur. Das macht die Menschen passiv.
Was prägt umgekehrt den Blick der Eliten auf die Bevölkerung?
Als Putin anfing, Teil des größeren politischen Spiels zu werden, hat er sich der Methoden bedient, die er kannte und verstand – jene vom KGB. Das heißt: Putin war und ist ein Bandit, ein Krimineller. Für sein Land und die Bevölkerung interessiert er sich nicht. Während seiner Amtszeit hat er für keinerlei Entwicklung gesorgt. So können nicht einmal Nägel im eigenen Land hergestellt werden! Die Regierung hat nicht einfach nur versäumt, in zukunftsfähige ökonomische Strukturen des Landes zu investieren. Vielmehr passiert das Gegenteil: Putin reißt schlicht an sich, was er benötigt, Verantwortung für Probleme übernimmt er aber nicht. Das gilt etwa auch für die Corona-Pandemie, als er die politische Verantwortung an die regionalen Gouverneure abschob. Den Dialog mit seiner Bevölkerung hat Putin noch nie gesucht. Nicht einmal für die Wahlen braucht er sie. Allenfalls für die Steuerkasse.
… und aktuell, nach der Teilmobilmachung, durchaus auch als Soldaten.
Ja, aber selbst um die kümmert er sich nicht. Die Soldaten erhalten nicht einmal eine Uniform. Es gibt Leute, die sich verschulden, um in der Ukraine zu sterben. Das ist ein grausames und absurdes Theater. Die Regierung kümmert sich letztlich nicht um die Angelegenheiten der Leute, selbst wenn es um grundlegende Bedürfnisse geht. Die Menschen füllen Formulare aus, um bei lokalen Behörden Anliegen vorzubringen, so etwa die Reparatur einer kaputten Straße, eines Gebäudes oder einer Wasserleitung.
Die lokale Behörde sagt nun, sie könne nichts machen und verweist auf die höhere Ebene. Dort wiederholt sich das, und die Missstände bleiben. Wenn die Leute dagegen protestieren, werden sie verhaftet. Reparieren sie die Straße selbst, müssen sie eine Strafe zahlen, weil sie ohne Genehmigung der Behörden gehandelt haben. Es ist zu einfach bloß zu beklagen, dass die Menschen passiv sind. Denn wenn sich solche Erlebnisse immer aufs Neue wiederholen, dann sind Passivität, Apathie und Lethargie die logische Konsequenz.
Würden Sie Putins Regime als faschistisch bezeichnen?
In jeden Fall als Banditen-Staat. Zur Faschismus-Theorie gibt es den Aufsatz „Der Ur-Faschismus“ von Umberto Eco, darin werden 14 Merkmale aufgeführt. Die darin hervorgehobene einigende nationale Idee sehe ich im Putinismus nicht so stark ausgeprägt. Die Russische Föderation besteht ja aus einer Vielzahl von Republiken und Oblasten, die auch miteinander im Streit stehen. Auch der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist für mich viel stärker von der Frage der Loyalität getrieben, dem zentralen Prinzip der politischen Kultur in Russland. In diesem Sinne hat die Ukraine nach dem Maidan aufgehört, loyal zu sein. Das ist das Problem und lässt das System nicht wie gewohnt arbeiten.
Vor 30 Jahren veröffentlichte der Science-Fiction-Autor Boris Strugatzki den Essay „Faschismus ist ganz einfach“. Sie identifizierten die Mechanismen der Entmenschlichung, der Umwandlung von Demokratie in Autokratie und analysierten die Logik der Existenz totalitärer, faschistischer und autokratischer Regime. Damit nahmen sie die katastrophale Entwicklung der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft, die uns heute beschäftigt, vorweg.
Könnte die von Putin angeordnete Teilmobilmachung dazu führen, die fehlende oder geringe Loyalität vieler Russinnen und Russen gegenüber dem Regime offenbar zu machen?
Das ist eine schwierige Frage. Bisher beobachte ich verschiedene Reaktionen in der Bevölkerung auf die Teilmobilmachung. Da sind zunächst die Menschen, die fliehen – ob sie sich vorher loyal zu Putins Regime verhalten haben oder nicht, ist nicht zu sagen. Auf jeden Fall entscheiden sich nicht wenige, jetzt an diesem Punkt auszusteigen. Darüber hinaus gibt es innerhalb des Landes noch immer Menschen, die organisiert Widerstand leisten. Sie unterstützen andere dabei, das Land zu verlassen oder sich der Einberufung zu entziehen. Es gibt auch Strukturen, die es Russen ermöglichen, in die Ukraine zu gelangen und dort auf ihrer Seite zu kämpfen. Die Zahl derer, die sich der Legion der „Russischen Freiheit“ anschließen, wächst.
Zugleich gibt es Berichte darüber, dass Zehntausende an die Front gebracht werden.
Genau, das ist die andere Seite des Geschehens. Die meisten dieser Rekruten kommen aus den ärmsten Regionen. Das sind entlegene Gegenden, da gibt es nicht mal Internet oder Wasserklosetts. Der Propaganda sind die Menschen jedoch ausgesetzt. Die allermeisten haben keine Vorstellung davon, was dieser Krieg bedeutet. Hinzukommt eine enorm verbreitete Vorstellung von Heldentum: Demzufolge verweigert man sich nicht – sondern muss das eigene Land beschützen loyal bis in den Tod sein.
Was sind die Folgen der angesprochenen Fluchtbewegung für die russische Gesellschaft?
Das können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Es gibt keine verlässlichen Daten darüber, wer diese Menschen sind, die derzeit das Land verlassen, und was genau ihre Hintergründe und Motive sind. Einige geben an, dass sie flüchten, weil sie nicht am Krieg teilnehmen wollen. Aber von vielen wissen wir das einfach nicht genau. Und selbst wenn sie diesen Grund nennen, ist nicht klar, was das über ihre Loyalität zum Regime aussagt. Sie bringen lediglich zum Ausdruck, dass sie nicht im Krieg sterben möchten.
Kann dieser Widerstand gegen die Einberufungen dem Regime gefährlich werden?
Es gibt Versuche in manchen Regionen, Proteste zu organisieren. Dazu gehört auch eine wachsende Protestbewegung in den nationalen Republiken, etwa in Dagestan, Burjatien, Jakutien und Kabardino-Balkarien. Aber auch diese Proteste werden von den Behörden der Republiken selbst, die vom Putin-Regime abhängig sind, brutal unterdrückt. Auch die Oligarchen und die politische Elite sind von diesem Regime abhängig. Das System ist, wie es ist und kann sich nicht verändern – es kann nur noch zerstört werden.
Eine der wichtigsten Propagandistinnen des Landes Margarita Simonyan, die Chefredakteurin des Senders RT (früher Russia Today), warnte kürzlich, Russland drohe vielleicht ein Bürgerkrieg. Das zeigt, dass irgendwas innerhalb des Regimes vor sich geht, dass wir jetzt noch nicht verstehen können, weil es eine Black Box ist. Wenn Putin diesen Krieg verliert – meiner Meinung nach ist das allein eine Frage der Zeit –, dann wissen wir nicht, was danach kommt. Kann der Putinismus ohne Putin weiterleben? Das ist letztlich pure Spekulation. Nach einem Umsturz ist aber zu erwarten, dass eine neue Führung wieder Gewalt anwenden wird, um alles zusammenzuhalten.
Es steht mit dem Ausgang des Kriegs also auch viel für die russische Gesellschaft selbst auf dem Spiel.
In der Tat. Meine Familie und Freunde haben gegen Ende der Sowjetunion um ihre Freiheit gekämpft, auch gegen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Nun kämpfen sie gegen dieses System, nehmen an den Protesten teil oder nutzen soziale Medien, um Petitionen zu verbreiten. Letztlich fragen sie sich immer dieselbe entscheidende Frage: Was ist nur falsch gelaufen? Wie sind wir in dieser Situation gelandet?
Sicherlich war es ein Fehler der russischen Opposition, nicht über die eigenen Landesgrenzen hinaus vor Putin zu warnen – spätestens nach 2014. Man hätte versuchen müssen, auf die europäische Öffentlichkeit früher und mehr Einfluss zu nehmen, um die Risiken aufzuzeigen, die entstehen, wenn auch europäisches Geld diesen immer größeren Sicherheitsapparat finanziert – von den Gefängnissen bis zu den Soldaten.
Welche Rolle können russische Frauen spielen, um eine andere politische Zukunft möglich zu machen, die weniger von patriarchalen Strukturen und regressiven Männlichkeitsbildern geprägt ist?
Seit dem 24. Februar haben sich viele russische feministische Organisationen an der Antikriegsbewegung beteiligt. Eine der bemerkenswertesten Initiativen ist der „Feministische Antikriegs-Widerstand“. Diese Bewegung hat zahlreiche Aktionen in verschiedenen Regionen Russlands organisiert. So etwa die Aktion „Mariupol 5000“, bei der in Dutzenden von Städten Holzkreuze mit der Aufschrift „Wie viele starben in Mariupol? Wofür?“ aufgestellt wurden; oder ein Projekt zur Unterstützung von Ukrainerinnen und Ukrainern, die gewaltsam nach Russland verschleppt wurden.
Die horizontale Struktur der feministischen Bewegung ohne offensichtliche Anführer macht sie sehr effektiv und zeigt, dass horizontaler Protest im heutigen Russland das einzig mögliche ist. Die patriarchalische Struktur der russischen Gesellschaft durch eine feministische Revolution zu zerstören, ist, glaube ich, nicht möglich. Mit Sicherheit aber verändert die feministische Bewegung russische Gesellschaft.
Das Interview führten Emanuel Herold und Till Schmidt. (Anm.d.Red.: Das Interview fand Anfang Oktober statt und spiegelt den damaligen Stand wider)
Irina Rastorgueva war Kulturjournalistin in Sachalin und Moskau und arbeitet heute als Autorin und Dramaturgin in Berlin. Im Frühjahr 2022 erschien ihr Buch „Das Russlandsimulakrum“, Matthes & Seitz Berlin.
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