„Die Russen sind eben so“ – Wider das Kli­schee der rus­si­schen Untertanenmentalität

Quelle: Vla­di­mir Var­fo­lo­meev /​ Flickr

WM-Dossier “Russ­land ver­ste­hen“: Die Art und Weise, in der viele Russen auf Kon­for­mi­täts­druck, Pro­pa­ganda und Repres­sion in ihrem Land reagie­ren, ist kei­nes­wegs außer­ge­wöhn­lich. Kei­nes­falls kann man daraus schlie­ßen, dass die rus­si­sche Gesell­schaft nicht demo­kra­tie­fä­hig sei.

Lange Zeit herrschte im Westen, ins­be­son­dere bei Lieb­ha­bern der klas­si­schen rus­si­schen Lite­ra­tur, wenn nicht mit Genuss, so doch mit einem gewis­sen Maß an wohl­wol­len­der Neugier und Fas­zi­na­tion die Vor­stel­lung von einer „geheim­nis­vol­len rus­si­schen Seele“. Auch den Russen selbst gefiel es, sich selbst als etwas Beson­de­res zu sehen, von anderen unter­schie­den durch ihre „Geis­tig­keit und Seelentiefe“.

Das Ver­hal­ten der rus­si­schen Bevöl­ke­rung ist ein absolut typi­sches Ver­hal­ten von Men­schen unter den Bedin­gun­gen eines raf­fi­nier­ten auto­ri­tä­ren Systems. 

Ange­sichts der Krim-Anne­xion, des Kriegs in der Ukraine und der Krise in den Bezie­hun­gen zwi­schen Russ­land und dem Westen bekam die ste­reo­type Vor­stel­lung von einer rus­si­schen Ein­zig­ar­tig­keit nun eine andere Färbung. Regel­mä­ßig  ver­brei­ten (west­li­che und rus­si­sche) Medien Berichte, die die Vor­stel­lung von einer „Nation von Sklaven“ beför­dern. Russen werden da als von Natur aus hart­nä­ckige Kon­for­mis­ten gesehen, die blind der Linie ihres kriegs­lüs­ter­nen Anfüh­rers folgen. Diese Logik lässt aller­dings eine Reihe wich­ti­ger Aspekte außer Acht. Zum einen ist das, was hier „den Russen“ zuge­schrie­ben wird, in Wirk­lich­keit typisch für ein bestimm­tes Grup­pen­ver­hal­ten unter bestimm­ten Bedin­gun­gen. Zwei­tens geht die Unter­stel­lung einer bewuss­ten Ent­schei­dung für Putin und seinen aggres­si­ven Kurs  fälsch­li­cher­weise davon aus, dass der Gesell­schaft in Russ­land alle not­wen­di­gen Infor­ma­tio­nen zur Ver­fü­gung stehen, um eine ratio­nale Ent­schei­dung zu treffen.

Zim­bar­dos Gefängnis-Experiment

1971 hat Philip Zim­bardo im Keller der Psy­cho­lo­gi­schen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Stan­ford sein berühm­tes Expe­ri­ment durch­ge­führt. Es ver­än­derte den Blick der Psy­cho­lo­gen auf den Ein­fluss, den soziale Situa­tio­nen auf das Ver­hal­ten des Indi­vi­du­ums haben: Es wurde als „Stan­ford-Prison-Expe­ri­ment“ berühmt. Zim­bardo, der die Erfah­run­gen eines Lebens im Gefäng­nis unter kon­trol­lier­ten Bedin­gun­gen unter­su­chen wollte, teilte seine stu­den­ti­schen Frei­wil­li­gen nach dem Zufalls­prin­zip in zwei Gruppen. Die eine sollte die Rolle der Häft­linge über­neh­men, die andere die der Wächter.

Bei der Auswahl hatten die For­scher die Mög­lich­keit aus­ge­schlos­sen, dass per­sön­li­che Beson­der­hei­ten mit ins Spiel kämen: Die aus­ge­wähl­ten Frei­wil­li­gen hatten bei den Tests alle die unge­fähr glei­chen Indi­ka­to­ren gezeigt. Die meisten ver­tra­ten über­wie­gend pazi­fis­ti­sche Ansich­ten, die unter Stu­die­ren­den in jener Zeit sehr stark ver­brei­tet waren. Das Expe­ri­ment nahm sehr bald eine gefähr­li­che Wendung, die Rollen wurden ver­in­ner­licht: Die „Wächter“ ernied­rig­ten begeis­tert die „Häft­linge“ (Zim­bardo selbst zieht Par­al­le­len zur Fol­te­rung von Häft­lin­gen in Abu Ghraib) – und aus den frei­heits­lie­ben­den Stu­den­ten der 1970er Jahre wurden schnell Gefan­gene, die auf jedwede Ver­let­zung ihrer Rechte passiv reagier­ten, obwohl ihnen bewusst gewesen sein muss, dass sie jeder­zeit diese stress­ge­la­dene Situa­tion ver­las­sen konnten. 

Portrait von Olga Irisova

Olga Irisova ist Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin und arbei­tet als Ana­lys­tin am Zentrum für pol­nisch-rus­si­schen Dialog

Sozi­al­psy­cho­lo­gen und Phi­lo­so­phen beschrei­ben eine ganze Reihe psy­cho­lo­gi­scher Fak­to­ren, die Men­schen in bestimm­ten Situa­tio­nen dazu bringen, Mit­läu­fer des „Bösen“ zu werden oder das „Böse der Unter­las­sung“ zu begehen.

Bedürf­nis nach Zugehörigkeit

Zunächst einmal besteht die mäch­tigste Kraft, die unser Ver­hal­ten beein­flusst, in dem grund­le­gen­den Bedürf­nis des Men­schen nach Zuge­hö­rig­keit zu einer Gruppe: Um nicht zum Außen­ste­hen­den zu werden, sind Men­schen bereit, sich dem Druck der Gruppe und der in ihr vor­herr­schen­den Normen zu beugen und sich dann eine ratio­nale Erklä­rung dafür zurecht­zu­le­gen. In Bezug auf den rus­si­schen Kontext sollten wir uns einfach einmal vor­stel­len, dass dort ein Expe­ri­ment wie das kon­trol­lierte Zim­bardo-Expe­ri­ment zur Unter­wer­fung von Men­schen statt­fin­det, das das ganze Land umfasst. Der Kreml verfügt über riesige Res­sour­cen, um admi­nis­tra­ti­ven und media­len Druck aus­zu­üben. Und er kann kon­se­quent kon­trol­lie­ren, wie man sich ver­hal­ten muss, um als Russe akzep­tiert zu werden. Die unge­wöhn­lich hohen Umfra­ge­werte zur Unter­stüt­zung der der­zei­ti­gen Regie­rung erzeu­gen den Ein­druck, dass nur Außen­sei­ter gegen den Prä­si­den­ten oppo­nie­ren. Auch die genö­tigt-frei­wil­li­gen Mas­sen­ak­tio­nen zur Unter­stüt­zung Putins und die von regie­rungs­treuen Medien gestreute Pro­pa­ganda zur Dis­kre­di­tie­rung der Oppo­si­tion wirken in diese Richtung.

Wichtig ist auch, wie der Kreml das Bild des „Anderen“ im Inneren durch dessen angeb­li­che Nähe zum äußeren „Anderen“ (dem Westen) formt, gegen den die Feind­se­lig­keit bereits hin­rei­chend stabil in der öffent­li­chen Meinung ver­an­kert ist. Kri­ti­ker des Kreml werden von den staat­li­chen Medien nicht als Dis­si­den­ten im Inland defi­niert, sondern als Indi­vi­duen, die die Iden­ti­tät des Anderen tragen. Zu den anschau­li­chen Bei­spie­len gehören die von regie­rungs­freund­li­chen, „patrio­ti­schen“ Nischen­me­dien ver­brei­te­ten Listen von „Natio­nal­ver­rä­tern“ und einer „fünften Kolonne“, die angeb­lich im Inter­esse des äußeren Anderen handeln. Oder die offi­zi­el­len Listen von NGOs mit der Brand­mar­kung „aus­län­di­scher Agent“ wie auch Ver­su­che, das „Rus­sisch­sein“ seiner Oppo­nen­ten in Frage zu stellen. So wird über den media­len Raum die Vor­stel­lung erzeugt, dass nur jene sich inner­halb Russ­lands offen gegen Putin stellen können, zu den äußeren Feinden gehören und in deren Inter­esse agieren.

Schaf­fung eines Feindbildes

Zwei­tens lässt sich Unter­ord­nung dadurch wirksam her­stel­len, dass ein Feind­bild geschaf­fen wird. Zim­bardo schreibt: „Es fängt alles mit Schaf­fung eines ste­reo­ty­pen Bildes vom „Anderen“ an, mit einem ent­mensch­lich­ten Bild vom Anderen als wert­lo­ses oder all­mäch­ti­ges, dämo­ni­sches abs­trak­tes Monster, das eine totale Bedro­hung für unsere kost­bars­ten Werte und Über­zeu­gun­gen in sich birgt. In einer Atmo­sphäre all­ge­mei­ner Angst, wenn die feind­li­che Bedro­hung unab­wend­bar erscheint, begin­nen ver­nünf­tige Men­schen absurd zu handeln, fügen sich unab­hän­gige Men­schen sinn­lo­sen Befeh­len und wandeln sich fried­fer­tige Men­schen zu Sol­da­ten. Aus­drucks­volle und unheim­li­che Feind­bil­der auf Pla­ka­ten, im Fern­se­hen, auf Titel­blät­tern von Zeit­schrif­ten, in Filmen und im Inter­net graben sich tief in das lim­bi­sche System, in die Struk­tur des pri­mi­ti­ven Gehirns ein, und dieser Prozess wird von starken Angst- und Hass­ge­füh­len begleitet“.

In den Expe­ri­men­ten der Sozi­al­psy­cho­lo­gen waren es Teil­neh­mer des Expe­ri­ments, die zum ent­mensch­lich­ten „Feind“ wurden, während diese mobi­li­sie­rende Rolle im heu­ti­gen Russ­land vom Westen und von „inneren Feinden“ aus­ge­füllt werden. Gleich­zei­tig ist es so, dass die Gesell­schaft in einer Situa­tion mit künst­lich über­höh­ten Gefah­ren – dar­un­ter der pro­pa­gier­ten Gefahr eines direk­ten Zusam­men­sto­ßes mit einem „äußeren Feind“ – oft Taten­lo­sig­keit und eine Bei­be­hal­tung der gegen­wär­ti­gen Lage vor­zieht aus der Angst heraus, dass jede Ände­rung des Status quo eine Ver­schlech­te­rung der Situa­tion her­vor­ru­fen könnte. Der Sozio­loge Oleg Janiz­kij meint, das nor­ma­tive Ideal einer risi­ko­scheuen Gesell­schaft sei „Sicher­heit, damit die Gesell­schaft nicht mehr von dem Ziel gelei­tet wird, bessere Bedin­gun­gen (sozia­len Fort­schritt) zu errei­chen, sondern nach Schutz und der Ver­hin­de­rung des Schlimms­ten“ strebt.

Folg­sam­keit gegen­über Autoritäten

Der dritte wich­tige Mecha­nis­mus, der die Unter­ord­nung eines Indi­vi­du­ums oder eine Gruppe deter­mi­niert, ist die „Macht der Auto­ri­tät“. Auto­ri­tät kann dabei durch eine bestimmte Ein­zel­per­son reprä­sen­tiert werden, als auch durch eine Gruppe. Die Studien von Solomon Asha haben gezeigt, dass Per­so­nen, selbst wenn ihnen bewusst ist, dass der Rest der Gruppe nicht Recht hat, in 70 Prozent den fal­schen Ant­wor­ten der Mehr­heit folgen. Die Daten aus anderen wich­ti­gen Expe­ri­men­ten zum Thema „blinde Unter­wer­fung unter Auto­ri­tät“ – vor allem der Expe­ri­mente von Stanley Milgram und Albert Bandura – belegen die Tendenz, dass Indi­vi­duen zu Kon­for­mis­mus neigen, vor­aus­ge­setzt, der Druck durch Grup­pen­mit­glie­der oder die Macht einer höheren Auto­ri­tät ist groß genug. Genau das ist n Russ­land ist heute der Fall.

Hannah Arendts Konzept von der „Bana­li­tät des Böden“ wird von einer Viel­zahl an For­schungs­er­geb­nis­sen bestä­tigt: In einem bestimm­ten Kontext sind Umge­bungs­fak­to­ren stärker als indi­vi­du­elle Eigen­schaf­ten; unter dem Druck eines wirk­mäch­ti­gen Systems kann fast jedes Indi­vi­duum und jede Nation grau­same Taten begehen oder sie durch Taten­lo­sig­keit unter­stüt­zen. Daher ist es ein Fehler, das Ver­hal­ten der Gesell­schaft in Russ­land durch ein Prisma „anla­ge­be­ding­ter“ Fak­to­ren zu betrach­ten. Die Art, in der Russen reagie­ren, befin­det sich im Ein­klang mit uni­ver­sel­ler mensch­li­cher Psy­cho­lo­gie: Es ist ein absolut typi­sches Ver­hal­ten von Men­schen unter den gege­be­nen Bedin­gun­gen eines raf­fi­nier­ten auto­ri­tä­ren Systems.

Ebenso falsch wäre es, das Ver­hal­ten von Men­schen unter­su­chen und inter­pre­tie­ren zu wollen, ohne zu ana­ly­sie­ren, welche Infor­ma­tio­nen sie erhal­ten. Für den Groß­teil der Russen sind die lan­des­wei­ten Fern­seh­ka­näle immer noch die Haupt­nach­rich­ten­quelle, die einen beträcht­li­chen Teil ihres Welt­bil­des formt. Diese Sender stehen unter der Kon­trolle der Regie­rung und ent­stel­len Infor­ma­tio­nen derart stark, dass das, was für den Rest der Welt zwei­fel­los eine Aggres­sion und inak­zep­ta­bles Vor­ge­hen dar­stellt, den fern­se­hen­den Russen als Ver­tei­di­gung der natio­na­len Inter­es­sen und als defen­sive Taktik prä­sen­tiert wird. Es ist höchst wahr­schein­lich, dass die Bevöl­ke­rung, die heute der Regie­rung gegen­über loyal ist, gar nicht den realen Status quo unter­stützt, bei dem Russ­land als Aggres­sor und Quelle glo­ba­ler Risiken auf­tritt, sondern einen fik­ti­ven und unwi­der­steh­li­chen Status quo, der in den Nach­rich­ten­stu­dios von Ostan­kino pro­du­ziert wird.

Das Ori­gi­nal ist auf Inter­sec­tion erschienen 

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