Portrait einer verrohten, zutiefst traumatisierten Gesellschaft
Welche Rolle spielen Willkür und Gewalt in der russischen Gesellschaft? Der Journalist Julian Hans hat darüber ein Buch geschrieben. Die verbreitete Kultur der Gewalt würde einen demokratischen Wandel massiv erschweren. Eine Rezension von Till Schmidt.
Was wird passieren, wenn Wladimir Putin tot ist? Über diese Frage zerbrechen sich Analysten und Kommentatoren seit langem den Kopf. Erst recht, wenn mal wieder Gerüchte über eine Krebs‑, Parkinson- oder andere Erkrankung des 71-jährigen kursieren. In jedem Fall ist auch Putins Herrschaft endlich. Und was danach kommt: nach wie vor ungewiss.
Zweifelsohne wird das Herrschaftssystem Putins, das auf alle Lebensbereiche ausgreift, tiefe Spuren in der russischen Gesellschaft nach ihm hinterlassen. Doch entgegen der von Allmachtsfantasien geprägten Kreml-Propaganda gelingt es dem Autokraten in der Realität nicht, überall die Fäden zu ziehen. Beobachter beschreiben das Land als Mischung aus Diktatur und Anarchie. Den 144,2 Millionen Einwohnern der Russischen Föderation bleiben im Alltag trotz Manipulation und brutaler Repression immer auch Momente der Handlungsfreiheit.
Julian Hans, langjähriger Moskau-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, hat nun ein Buch veröffentlicht, das analytisch genau diesen Spagat versucht: „Kinder der Gewalt“ nimmt einerseits machtvollen Strukturen und tiefsitzende Handlungsmuster der russischen Gesellschaft in den Blick, hebt aber andererseits Möglichkeiten und Beispiele für das hervor, was Hannah Arendt als politisches Handeln begreift: einen Anfang zu machen, Neues zu versuchen und sich mit anderen zusammenschließen.
Anhand von fünf Kriminalfällen aus den letzten Jahren schildert Hans nicht nur, wie stark die russische Gesellschaft von Willkür und Gewalt, den Machtmissbrauch und opportunistischen Lügen geprägt ist. Sondern auch, welche verschiedenen Wege Menschen vor Ort finden, um darauf zu reagieren. Viele Russinnen und Russen tun das mit neuer Gewalt oder mit passiver Resignation. Andere hingegen agieren mit beeindruckendem Mut und politischer Klugheit. Insgesamt überwiegt in „Kinder der Gewalt“ jedoch ein sehr düsteres Bild der russischen Gesellschaft.
Dem „Recht des Stärkeren“ ist ein Großteil der Bevölkerung schutzlos ausgeliefert
Besonders deutlich wird das am Beispiel einer Mafia-Bande, die die Kleinstadt Kuschtschowskaja jahrzehntelang mordend und vergewaltigend terrorisierte. Verflochten mit Polizei, Justiz und Verwaltung und zu einem vor Ort mächtigen wirtschaftlichen Akteur geworden, räumte der Zapok-Clan alle Menschen aus dem Weg, die ihm unangenehm wurden. In Hans‘ Buch steht diese Geschichte für die in Russland weit verbreite Erfahrung, sich im Alltag kaum auf etwas verlassen zu können. Dem „Recht des Stärkeren“ sehe sich ein Großteil der Bevölkerung willkürlich und schutzlos ausgeliefert.
Kompensiert würden diese Lebenserfahrungen unter anderem mit aggressivem Nationalismus, Hass auf Andere, Minderheiten und Schwächere, einem erhöhen Suchtmittelkonsum, Autoritätshörigkeit, Straflust oder nihilistische Wut. „Kinder der Gewalt“ zeichnet das Portrait einer verrohten, zutiefst traumatisierten russischen Gesellschaft, die in ihren Eigendynamiken und Pfadabhängigkeiten nahezu gefangen scheint. Nur sehr wenigen Menschen scheint es zu gelingen, aus dem toxischen Kreislauf der Gewalt auszubrechen.
„Kinder der Gewalt“ predigt allerdings keine pazifistischen Glaubenssätze und macht deutlich, dass die für manche Kontexte so hilfreichen Konzepte der Gewaltfreiheit in extremen Situationen schlicht untauglich sind: Wo eine Flucht vor brutalen Aggressoren nicht möglich ist, sei der Kampf durchaus ein legitimer Weg der Verteidigung. So etwa im Mord an Michail Chatschaturjan durch seine eigenen Töchter. Hans begreift die Tat als allerletztes, verzweifeltes Mittel, um dem sadistischen Vater Einhalt zu gebieten. Der übermächtige Tyrann hatte seine Töchter über Jahr hinweg brutal gepeinigt und sexuell missbraucht.
Zahllose Sprichwörter im Russischen ermuntern zu häuslicher Gewalt
Der Mordfall hat auch in Teilen der russischen Gesellschaft Entsetzen ausgelöst. Die Tat und ihre Vorgeschichte schildert Hans vor allem so akribisch, um Einblicke in die Formen und das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen in vielen russischen Familien zu geben. Mit Verweis auf „traditionelle Werte“ wird diese Gewalt staatlich und gesellschaftlich gedeckt, relativiert und letztlich gefördert. 2017 strich das Parlament den Tatbestand „Gewalt in Familien“ aus dem Strafgesetzbuch. Seitdem werden Prügel ohne schwere Folgen für die Gesundheit nur noch mit einem Bußgeld geahndet. Zahllose Sprichwörter im Russischen ermuntern zu häuslicher Gewalt.
Anna Riwina gründete 2015 im Alter von 25 Jahren nasiliu.net, eine Organisation, die Betroffene dabei unterstützt, von gewalttätigen Partnern loszukommen, und ihnen psychologische Hilfe anbietet. 2020 wurde nasiliu.net in die Liste ominöser „ausländischen Agenten“ aufgenommen, die aus das Land nach „westlichen Maßstäben“ umgestalten und seiner „Identität“ berauben würden. Anschließend verschwanden über Nacht die Plakate einer Aufklärungskampagne an Bushaltestellen und in öffentlichen Gebäuden in Moskau. Jahre später wurde Riwina sogar persönlich als „ausländische Agentin“ eingestuft. Inzwischen berät nasiliu.net vermehrt online und telefonisch.
Anna Riwina hat das Land kurz nach dem russischen Überfall auf die Ukraine verlassen. Ihre Geschichte steht für den Mut, sich der alltäglichen Kultur der Gewalt entgegenstellen. Ein weiteres Beispiel ist der Student Denis Karagodin, der die Geschichte seines vom NKDW erschossenen Urgroßvaters aufarbeitete und seine Rechercheergebnisse auf seiner Homepage publik machte. In staatliche gelenkten Medien wurde das Projekt als Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt dargestellt. Eine unerwartete Korrespondenz zwischen Karagodin und einer Nachfahrin eines damaligen hochrangigen Täters zeigt jedoch das genaue Gegenteil: wie wichtig das Sprechen über eine lange tabuisierte Vergangenheit für das gesellschaftliche Vorankommen sind.
Eine weitere Protagonistin in „Kinder der Gewalt“ ist die politische Aktionskünstlerin Katrin Nenaschewa, die im Zuge einer mehrtägigen Inhaftierung schwer gefoltert wurde. Unterstützt von der inzwischen aufgelösten Organisation Memorial versuchte Nenaschewa, die Wut und den destruktiven Hass, den sie als Teil ihrer posttraumatischen Belastungsstörung empfindet, in einer Therapie zu verarbeiten. Ihre Geschichte erzählt Hans stellvertretend die gestiegene Zahl jüngerer Russen, die sich mit Auswirkungen von Gewalterfahrungen auf die eigene Psyche selbstkritisch auseinandersetzen. Der Zugang zu Therapien werde inzwischen unter anderem über klug konzipierte Apps erleichtert.
„Kinder der Gewalt“ ein erschütterndes Buch, das wertvolle Einblicke in die russische Gesellschaft gibt. Kulturalistische Essentialisierungen einer vermeintlich per se autoritären „russischen Seele“ vermeidet Julian Hans zum Glück. Mit Hannah Arendt beruft sich der Journalist immer wieder auf die persönliche Verantwortung und verweist auf zahlreiche Lichtblicke. Sein Buch zeigt jedoch vor allem, wie ein möglicher demokratischer Wandel des Landes durch die in der Gesellschaft fest verankerte Kultur der Gewalt massiv erschwer werden würde.
„Kinder Gewalt“ erschienen im C.H. Beck Verlag, Februar 2024, 18 Euro. Zur Homepage des Verlags.
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