Die Chimäre eines „chinesischen Wegs“ für Russland
Ende Juni 2021 haben Wladimir Putin und Xi Jingping vorzeitig den ‚Vertrag guter Nachbarschaft und freundschaftlicher Kooperation‘ ihrer Länder verlängert. In den letzten Jahren hat Putin wiederholt bewundernd das chinesische Modell staatlich kontrollierter Märkte dem Chaos der russischen Transformationszeit gegenübergestellt; Aber der chinesische Weg war nie eine realistische, geschweige denn eine wünschenswerte Option für Moskau, schreibt Tobias Rupprecht.
Deng Xiaoping, so wird kolportiert, hielt Michail Gorbatschow für einen Idioten. Und auch in Russland und im Westen wird immer wieder der Vorwurf laut, dass Gorbatschow ‚nur‘ die Demokratisierung im Sinn gehabt, und darüber die Wirtschaft vergessen habe. Der spektakuläre Aufschwung Chinas, und die wirtschaftlichen Nöte Russlands in den 1990er Jahren haben auch in der gegenwärtigen russischen Führung zur weit verbreiteten Meinung geführt, dass die Sowjetunion statt der Liberalisierung besser den chinesischen Weg eines staatlich kontrollierten Übergangs zur Marktwirtschaft gegangen wäre.
Tatsächlich aber hatte Gorbatschow wirtschaftspolitisch etwas sehr ähnliches wie Deng Xiaoping versucht: eine graduelle Reform der dysfunktionalen Planwirtschaft unter Anleitung der Kommunistischen Partei. Wie in China sollten durch staatlich geschaffenen Wettbewerb die Staatsunternehmen effizienter gemacht werden. Joint Ventures mit westlichen Unternehmen und Sonderwirtschaftszonen sollten Kapital und Knowhow ins Land holen. Die staatlich festgesetzten Preise wurden, auch das ähnlich wie in China, um freigegebene Preise für Überschussproduktion und für ‚wissenschaftlich-technische‘ Arbeitskreise des kommunistischen Jugendverbands ergänzt.
In ihren Vorstellungen von Wirtschaftsreform unterschieden sich Gorbatschow und Deng also kaum, wohl aber in ihrer Finanzpolitik. Gorbatschow besänftige reformresistente Kadereliten in der sowjetischen Landwirtschaft und der Militärindustrie mit immer höheren Investitionen. Den Lebensstandard der Bevölkerung suchte er durch Beibehaltung der massiven Subventionen für Verbraucherpreise zu halten, während die staatlichen Einnahmen einbrachen. Deng dagegen setzte gewaltsam Budgetdisziplin durch: die Demonstranten, die er im Juni 1989 niederknüppeln ließ, waren in ihrer Mehrzahl nicht für die liberale Demokratie, sondern landesweit gegen Erhöhungen der Lebenshaltungskosten auf die Straße gegangen.
Fundamentale sozioökonomische Unterschiede
War Gorbatschow also ein Idiot, weil er seine politischen Ziele nicht mit Gewalt umsetzte? Das zu glauben wäre nicht nur moralisch eine fragwürdige Position, sondern auch eine Verkennung fundamentaler struktureller Unterschiede zwischen den beiden staatssozialistischen Imperien in den 1980er Jahren. Erstens war China zu großen Teilen eine bitter arme Agrargesellschaft, in der ein Großteil der Bevölkerung nie Teil des sozialistischen Wohlfahrtsstaats geworden war.
Hunderte von Millionen von billigen rechtlosen Arbeitskräften vom Land erwirtschafteten den Aufschwung – in der bereits weitgehend urbanisierten und industrialisierten Sowjetunion standen solche nicht zur Verfügung. Wer heute den chinesischen Weg für Russland preist, sollte sich also klarmachen, dass der auch die weitgehende Abschaffung aller Sozialleistungen und Renten für russische Arbeitnehmer bedeutet hätte.
Zweitens hatte China zu Beginn der Reformen lediglich gut 20 Jahre Planwirtschaft hinter sich. Erst Mitte der 1950er Jahre waren die Landwirtschaft kollektiviert und alle Betriebe verstaatlicht worden. Unternehmergeist war Ende der 1970er Jahre noch vorhanden, besonders in den Küstenregionen, die sich schnell entwickelten. In der Sowjetunion der Perestroika-Zeit war da schon fast dreimal so lange jede gewinnorientierte Tätigkeit kriminalisiert worden, und ein Großteil der Bevölkerung hatte entsprechend Erwartungen einer Grundversorgung durch den Staat internalisiert. Die Dörfer und Kleinstädte, der Motor des chinesischen Aufschwungs, denen die Parteiführung nur etwas freieren Lauf gewähren musste, hingen in der Sowjetunion in Apathie am Tropf gigantischer Subventionen des Zentralstaats.
In der bereits hochindustrialisierten aber ökonomisch abgeschotteten Sowjetunion gab es so gut wie keine global konkurrenzfähigen Produkte – eine Studie Anfang der 90er Jahre stellte fest, dass über sieben Prozent der sowjetischen Produktion netto wertvernichtend gewesen waren, sprich: die Erzeugnisse waren weniger wert als die Rohstoffe, die für ihre Fertigung verwendet worden waren! Viele ineffiziente Großbetriebe in Russland hatten auch in den 1990er Jahren dank guter politischer Verbindungen Zugang zu staatlichen Subventionen.
In China dagegen gelang der Aufbau neuer Industrien, die sich an globalen Absatzmärkten orientierten, basierend auf tatsächlicher Budgetverantwortung individueller Unternehmer. Schon in den 1980er Jahren waren dort Zuständigkeiten klarer definiert, auch da die chinesische Zentralmacht nie das Ausmaß an Kontrolle über die Regionen hatte wie die KPdSU und daher Firmenleitern quasi-Eigentumsrechte an Staatsbesitz zugestand. Damit gab es keine Motivation Vermögenswerte aus der Hand des Staates zu schummeln, wie es die sowjetischen Wirtschaftseliten in einer Art Bankensturm während des Staatszerfalls taten.
Drittens waren die regionalen Eliten der chinesischen Partei durch das enorme Chaos der Kulturrevolution geschwächt und gleichzeitig selbst an fundamentalen Reformen interessiert. Gorbatschow dagegen stieß auf enormen Widerstand nicht nur an der Spitze der eigenen Partei, sondern auch der mächtigen Industrie‑, Militär- und Agrarlobby, die an Bewahrung ihrer Privilegien im Status Quo interessiert waren. In den 1990er Jahren waren es eben diese ehemaligen Sowjeteliten, die oft mit kriminellen Methoden ihre Pfründe sicherten. Die Beweislast liegt bei Verfechtern des chinesischen Wegs zu zeigen, warum gerade diese korrupten Eliten einen rationalen graduellen Übergang bewerkstelligen hätten können und wollen.
Und schließlich, viertens, hatte China Zugang zu ausländischem Kapital, besonders durch die Millionen wirtschaftlich oft erfolgreichen Auslandschinesen, die gerne in der Heimat ihrer Vorfahren investierten. Besonders hilfreich erwies sich die britische Kronkolonie Hong Kong vor der Haustüre: sie bot riesige Mengen an Kapital, und dazu willige und fähige Unternehmer, die sowohl die erforderlichen sprachlichen und kulturellen Kompetenzen hatten, als auch wertvolle Kontakte zum Westen hatten.
Die Sowjetunion hatte zwar einen Riesenmarkt mit enormer Nachfrage nach Konsumgütern und Dienstleistungen zu bieten, dazu gut ausgebildete Arbeitskräfte und Bedarf nach westlicher Technologie und marktwirtschaftlicher Expertise. Ein sowjetisches Hong Kong aber gab es nicht. Stattdessen brachen die geschützten Märkte in Osteuropa weg, und internationale Investoren kamen nur sehr zögerlich: schon Ende der 1980er Jahre war die politische Lage zu instabil, russische Emigranten zeigten in der Regel wenig Interesse, und Arbeitskräfte waren in Fernost deutlich günstiger.
Zuviel China, nicht zu wenig
Berücksichtigt man diese grundlegenden Unterschiede der beiden kommunistischen Großmächte in den 1980er Jahren, ließe sich sogar argumentieren, dass sich Gorbatschow zu sehr am chinesischen Modell orientierte. Sein Ziel war die Reform des kommunistischen Systems ohne an den Grundpfeilern zu sägen. Auch wenn er Ende der 1980er Jahre eher sozialdemokratische Töne anschlug und die Macht der Partei- und Planungsorgane schwächte, wollte er bis zuletzt die Reform des Sozialismus. Die Privatisierung der Produktionsmittel, die Mitte der 1980er Jahre vielleicht noch graduell mit der Schaffung der nötigen entsprechenden Institutionen möglich gewesen wäre, blieb für ihn tabu.
Stattdessen ermöglichten Gorbatschows ‚chinesische‘ Wirtschaftsreformen unter den Bedingungen eines einsetzenden Staatszerfalls ab 1990, dass sich die Nomenklatura selbstständig das Eigentum des sowjetischen Staats unter den Nagel riss. Manch einer räumte schließlich auch mit Hilfe der organisierten Kriminalität unliebsame Konkurrenz aus dem Weg. Die privilegierten und gut vernetzten Aktivisten der Kommunistischen Jugend nutzten geschickt legale Grauzonen, die der versuchte graduelle Übergang zur Marktwirtschaft geschaffen hatte, und stiegen zu den Oligarchen der 1990er Jahre auf.
Auch mit Gewalt hätte Gorbatschow diese Dynamik kaum noch aufhalten können. Die alte Garde, die sich im August 1991 in einem dilettantischen Staatsstreich gegen ihn wandte, versuchte es erfolglos, und es gibt keinen guten Grund ihr Scheitern zu bedauern. Auch wenn einige Teilnehmer wie der Finanzminister Walentin Pawlow sich später mit Verweis auf China rechtfertigten: dieses sowjetische ‚Tiananmen‘ hätte zwar die Fortsetzung der Leninistischen Diktatur, aus den oben genannten Gründen aber nicht den chinesischen Wirtschaftsaufschwung gebracht.
Gorbatschow hatte mit der Schaffung eines Volkskongresses und eines unabhängig von den Parteiorganen gewählten Staatspräsidenten die Grundlagen für eine demokratische Entwicklung gelegt. Seine liberalen Berater legten ihm nahe, nun auch aus der Partei auszutreten, um diese neuen Institutionen zu stärken. Einige Ökonomen und Sozialwissenschaftler forderten ihn auf, einen autoritären Übergang zur Marktwirtschaft einzuschlagen, mit der Aussicht auf eine spätere Demokratisierung.
Aber Gorbatschow hielt an der KPdSU als Vehikel für seine Reformen – also, wenn man so will, einem ‚chinesischen Weg‘ – fest. Die so geschaffenen staatlichen Parallelstrukturen schwächten sich gegenseitig. Nach dem Putsch, dessen führende Köpfe Gorbatschow noch selbst im Vorjahr in höchste Ämter gebracht hatte, implodierte so der sowjetische Staat mitsamt seinem wirtschaftlichen Planungsapparat. Nicht erst die liberalen Reformen der 1990er Jahre führten also zu politischem Chaos und wirtschaftlicher Unsicherheit. Gorbatschows Wirtschaftspolitik, angelehnt an den parallel verlaufenden chinesischen Reformen Deng Xiaopings, führte unter den Bedingungen der späten Sowjetunion zu Staatszerfall und wirtschaftlichem Kollaps.
Der „chinesische Weg“ bedeutet Ausbeutung und Verfolgung
Dieser Kollaps erschwerte seinen Nachfolgern den Übergang zur Marktwirtschaft, diskreditierte aber die KPdSU und schuf immerhin die Möglichkeit eines liberaldemokratischen Neuanfangs. Die Bewahrung des Leninistischen Parteiapparats in Verbindung mit einer neuer Art Staatskapitalismus in China führte letztlich zu digitaler Totalüberwachung, schonungslosen Ausbeutung von Arbeitskräften, Verfolgung von ethnischen Minderheiten und politischer Dissidenz, und einem enormen geopolitischen Konfliktpotential. Wer das als globale Alternative zu liberal verfassten Gesellschaften preist, möge sich an die Sackgasse erinnern, in die sich westliche Bewunderer der Sowjetunion in den 1930er Jahren manövriert hatten.
Für Gegner liberal verfasster Gesellschaften sind freilich weder die historischen noch die moralischen Einwände überzeugend, und sie halten an der Chimäre des ‚chinesischen Wegs‘ fest: ‚Der Volksrepublik China ist es auf beste Weise gelungen, die Möglichkeiten einer zentralen Verwaltung und die Entwicklung einer Marktwirtschaft zu nutzen‘, verkündete Putin Ende 2019 gegenüber Vertretern der Weltwirtschaft in Moskau, ‚in der Sowjetunion wurde nichts dergleichen gemacht, und die Ergebnisse einer ineffizienten Wirtschaftspolitik beeinträchtigten die Politik.‘
China-Bewunderer und Wirtschaftsnationalisten wie der ehemalige Putin-Berater Sergej Glasjew sehen sich nun durch die Entwicklungen während der Covid-Pandemie bestätigt: die USA seien die Vergangenheit, ‚das chinesische Model ist die Zukunft‘. Das mag für die Gestaltung der russischen politischen Führung zutreffen; einen Wirtschaftsaufschwung wie in China wird es auch heute nicht bewerkstelligen.
Tobias Rupprecht ist Leiter der Forschungsgruppe ‚Peripheral Liberalism‘ am Berliner Exzellenzcluster ‚Contestations of the Liberal Script‘. ‚Peripheral Liberalism‘ untersucht die intellektuelle Entwicklung und den politischen Einfluss von liberalen Ökonomen in China, der Sowjetunion, und Osteuropa von den 1970er bis 1990er Jahren. Eine Kurzversion dieses Artikels ist am 19. August in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschienen.
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