Warum ein Angriff auf die Ukraine droht
Der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze könnte leicht in eine erneute Invasion münden. Die ergebnislosen Gespräche mit USA und NATO über Sicherheitsgarantien deuten darauf hin, dass das russische „Verhandlungsangebot“ nur ein Vorwand ist, um eine Eskalation argumentativ zu rechtfertigen. Der Westen sollte sich deshalb ernsthaft auf das Worst-Case Szenario vorbereiten und weitreichende Sanktionen gegen Russland vorbereiten und Militärhilfe für die Ukraine anbieten. Der russischen Bevölkerung müssen zusätzliche Angebote gemacht werden. Nur die Kommunikation deutlich härterer Sanktionen kann Putin von einer Ausweitung des Krieges in der Ukraine abschrecken, schreibt Andreas Brunnbauer.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die eine Eskalation von russischer Seite wahrscheinlich machen:
Langjährige Propaganda gegen die Ukraine
Die langjährige aggressive Rhetorik der russischen Politik und Medien reden einem Einmarsch das Wort und bereiten die Bevölkerung minutiös darauf vor. Bereits seit der „Revolution der Würde“ auf dem Maidan 2014 wird die Ukraine als „failed state“ dargestellt, in dem Russen unterdrückt werden (Stichwort „Genozid“) und Nazibataillone marodieren. Die aktuelle Regierung sei durch einen Putsch gegen den damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch an die Macht gekommen. Unterschlagen wird dabei, dass die ukrainische Bevölkerung nach dem Maidan bereits zweimal Präsidenten- und Parlamentswahlen abgehalten hat – nach international anerkannten Standards.
Die nachweislich unbegründeten Vorwürfe führen in einschlägigen russischen Nachrichtensendungen zu der Aussage, dass der Ukraine Einhalt geboten werden müsse.
Aktive Militarisierung der russischen Gesellschaft
Eine weitere bedenkliche Entwicklung ist die seit vielen Jahren verfolgte Militarisierung der Gesellschaft, etwa die Verklärung des Zweiten Weltkriegs und russischer Militäreinsätze, eine patriotische und antiwestliche Erziehung in „Jugendarmee“ und Schulen sowie teure Militärparks und Kriegsspiele für Kinder. Auf diese Gefahr wies auch der aktuelle Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow in seiner Dankesrede in Oslo hin: Die Behörden würden aktiv die Idee des Krieges bewerben. Die Vorstellung von Krieg werde so in die Bevölkerung hineingetragen und die Menschen gewöhnen sich an den Gedanken seiner Zulässigkeit.
Der Ukraine wird das Existenzrecht abgesprochen
Bereits auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 sprach Putin von der Ukraine als einem Fehler der Geschichte, einem künstlichem Staat und davon, dass die Ukraine selbständig nicht überlebensfähig sei. Nach Informationen der russischen Tageszeitung „Kommersant“ ließ er in einem Gespräch mit George W. Bush durchblicken, „dass die Ukraine, sollte sie in die NATO aufgenommen werden, aufhören werde zu bestehen“.
Der russische Präsident selbst gewährte in seinem viel beachteten Artikel von Juli 2021 über die Einheit von Russen und Ukrainern Einblicke in seine imperiale und nationale Gedankenwelt. Darin folgert er, dass die Ukraine in ihren heutigen Grenzen einen eigenen unabhängigen Staat nur bei freundschaftlichem Verhältnis zu Russland behalten könne. „Wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Territorien und dort lebende uns nahestehende Menschen gegen Russland benutzt werden. Und denen, die das versuchen, sei gesagt, dass sie damit ihr Land zerstören.“ Die Ukraine sei historisch der Rand des russischen Reiches und Ukrainer eigentlich Russen. Die Ukraine habe ur-russisches Territorium zugeschlagen erhalten, Russland sei faktisch beraubt worden.
Neben der aggressiven Rhetorik sollte außerdem der Fakt die Alarmglocken schrillen lassen, dass der Artikel des russischen Präsidenten für russische Armeeangehörige kurz nach Veröffentlichung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu als Pflichtlektüre festgelegt wurde.
Passenderweise wird im russischen Staatsfernsehen regelmäßig die Souveränität der Ukraine in Frage gestellt und Politikern eine Bühne gegeben, die sogar eine Besetzung der Ukraine fordern.
Militärische Drohkulisse und eskalierende Rhetorik zu Sicherheitsgarantien
Die militärischen Vorbereitungen sind bereits weit fortgeschritten. Neben Truppenverbänden, Panzern und Artillerie wurden Hubschrauber und Kampfflugzeuge an die Grenze und nach Belarus verlegt, was ebenso einen Einmarsch von Norden befürchten lässt.
Bedenklich ist hierbei, dass die abgehaltenen Übungen eindeutig aggressiver Natur sind, etwa amphibe Landungsübungen an Küsten der annektierten Krim sowie Übungen mit Fallschirmspringern in der Region Krasnodar.
Unglaubwürdig, aber nicht weniger gefährlich, sind auch Aussagen des russischen Verteidigungsministeriums, dass die Ukraine gemeinsam mit den USA eine Provokation mit Nervengas in den besetzten Gebieten im Donbass planen und sich die Provokationen der NATO an der russischen Grenze zu einem militärischen Konflikt auswachsen könnten.
Gleichzeitig wurden zwar Verhandlungen über Sicherheitsgarantien angeboten, die Forderungen von russischer Seite sind inhaltlich jedoch überzogen und teilweise unannehmbar. Weiterhin hat Russland im Vorfeld keine Kompromissbereitschaft erkennen lassen und mit militär-technischen Maßnahmen gedroht. Putin werde darauf hören, was seine Militärexperten vorschlagen (nicht seine Diplomaten).
Die erfolglosen Verhandlungen waren dann von weiteren rhetorischen Eskalationen Russlands gekennzeichnet („die NATO soll die Koffer packen“, „keine Kompromisse“). Ebenso wurde die Sinnhaftigkeit weiterer Gespräche in Frage gestellt.
Optionen zur Einhegung des Konflikts:
Russland arbeitet in bedenklichem Maße auf eine Eskalation hin und das Pendel ist wohl bereits in Richtung militärisches Eingreifen ausgeschlagen.
Das muss nicht eine vollständige Invasion der Ukraine bedeuten, auch eine begrenzte Eskalation mit geringen Landgewinnen im Donbass oder ein Korridor zur Krim sind im Bereich des Möglichen.
Um dies zu verhindern, muss der Westen Moskau aktiv vor Augen führen, dass Russland bei einem Angriff so stark sanktioniert wird, dass das Land wirtschaftlich um Jahrzehnte zurückgeworfen und auf der internationalen Weltbühne isoliert sein würde – und der Westen bereit ist, für seine Prinzipien wirtschaftliche Nachteile auf sich zu nehmen.
Neben weitreichenden Handelssanktionen, wie einem Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungssystem und einer Handels- und Investitionsblockade, gehört auch die Stilllegung beider Nord-Stream-Pipelines auf die Sanktionsliste.
Zusätzlich muss bei einer Eskalation auf militärischer Ebene reagiert werden und die Ukraine mit modernsten Waffen versorgt werden. Darüber hinaus sollte die NATO für diesen Fall ankündigen, eine umfangreiche Verlegung von Mittelstreckenraketen sowie von NATO-Truppen in die baltischen Mitgliedsstaaten in Betracht zu ziehen.
Gleichzeitig ist es wichtig, zwischen der russischen Führung, die die Eskalation zu verantworten hätte, und der russischen Bevölkerung zu trennen, die kein Interesse an einem Krieg hat. Der Bevölkerung sollten aktiv Angebote gemacht werden, wie eine visumsfreie Einreise für unter 30-Jährige, verstärkte Vergabe von Stipendien, Praktikumsprogramme sowie die Forcierung der bestehenden Städtepartnerschaften und des zivilgesellschaftlichen Dialogs.
Diese Maßnahmen, kombiniert mit einer offensiven Kommunikations- und Abschreckungsstrategie, können erfolgreich eine militärische Eskalation verhindern und gleichzeitig der Bevölkerung klarmachen, dass der Westen keine Gefahr für den gewöhnlichen Bewohner Russlands darstellt.
Andreas Brunnbauer war von Januar 2016 bis Juni 2018 stellvertretender Projektleiter des Good Financial Governance Projekts der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit mbH (GIZ) und von November 2018 bis Oktober 2021 Repräsentant des Freistaats Bayern in der Russischen Föderation. Der Artikel gibt die private Meinung des Autors wieder.
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