Warum ein Angriff auf die Ukraine droht

Rus­si­sche Sol­da­ten bei der jähr­li­chen Sie­ges­pa­rade auf dem Roten Platz. Foto: Shutterstock

Der rus­si­sche Auf­marsch an der ukrai­ni­schen Grenze könnte leicht in eine erneute Inva­sion münden. Die ergeb­nis­lo­sen Gesprä­che mit USA und NATO über Sicher­heits­ga­ran­tien deuten darauf hin, dass das rus­si­sche „Ver­hand­lungs­an­ge­bot“ nur ein Vorwand ist, um eine Eska­la­tion argu­men­ta­tiv zu recht­fer­ti­gen. Der Westen sollte sich deshalb ernst­haft auf das Worst-Case Sze­na­rio vor­be­rei­ten und weit­rei­chende Sank­tio­nen gegen Russ­land vor­be­rei­ten und Mili­tär­hilfe für die Ukraine anbie­ten. Der rus­si­schen Bevöl­ke­rung müssen zusätz­li­che Ange­bote gemacht werden. Nur die Kom­mu­ni­ka­tion deut­lich här­te­rer Sank­tio­nen kann Putin von einer Aus­wei­tung des Krieges in der Ukraine abschre­cken, schreibt Andreas Brunnbauer.

Es gibt eine Reihe von Gründen, die eine Eska­la­tion von rus­si­scher Seite wahr­schein­lich machen:

Lang­jäh­rige Pro­pa­ganda gegen die Ukraine

Die lang­jäh­rige aggres­sive Rhe­to­rik der rus­si­schen Politik und Medien reden einem Ein­marsch das Wort und berei­ten die Bevöl­ke­rung minu­tiös darauf vor. Bereits seit der „Revo­lu­tion der Würde“ auf dem Maidan 2014 wird die Ukraine als „failed state“ dar­ge­stellt, in dem Russen unter­drückt werden (Stich­wort „Genozid“) und Nazi­ba­tail­lone maro­die­ren. Die aktu­elle Regie­rung sei durch einen Putsch gegen den dama­li­gen Prä­si­den­ten Viktor Janu­ko­wytsch an die Macht gekom­men. Unter­schla­gen wird dabei, dass die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung nach dem Maidan bereits zweimal Prä­si­den­ten- und Par­la­ments­wah­len abge­hal­ten hat – nach inter­na­tio­nal aner­kann­ten Standards.

Die nach­weis­lich unbe­grün­de­ten Vor­würfe führen in ein­schlä­gi­gen rus­si­schen Nach­rich­ten­sen­dun­gen zu der Aussage, dass der Ukraine Einhalt geboten werden müsse.

Aktive Mili­ta­ri­sie­rung der rus­si­schen Gesellschaft

Eine weitere bedenk­li­che Ent­wick­lung ist die seit vielen Jahren ver­folgte Mili­ta­ri­sie­rung der Gesell­schaft, etwa die Ver­klä­rung des Zweiten Welt­kriegs und rus­si­scher Mili­tär­ein­sätze, eine patrio­ti­sche und anti­west­li­che Erzie­hung in „Jugend­ar­mee“ und Schulen sowie teure Mili­tär­parks und Kriegs­spiele für Kinder. Auf diese Gefahr wies auch der aktu­elle Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger Dmitri Muratow in seiner Dan­kes­rede in Oslo hin: Die Behör­den würden aktiv die Idee des Krieges bewer­ben. Die Vor­stel­lung von Krieg werde so in die Bevöl­ke­rung hin­ein­ge­tra­gen und die Men­schen gewöh­nen sich an den Gedan­ken seiner Zulässigkeit.

Der Ukraine wird das Exis­tenz­recht abgesprochen

Bereits auf dem NATO-Gipfel in Buka­rest 2008 sprach Putin von der Ukraine als einem Fehler der Geschichte, einem künst­li­chem Staat und davon, dass die Ukraine selb­stän­dig nicht über­le­bens­fä­hig sei. Nach Infor­ma­tio­nen der rus­si­schen Tages­zei­tung „Kom­mers­ant“ ließ er in einem Gespräch mit George W. Bush durch­bli­cken, „dass die Ukraine, sollte sie in die NATO auf­ge­nom­men werden, auf­hö­ren werde zu bestehen“.

Der rus­si­sche Prä­si­dent selbst gewährte in seinem viel beach­te­ten Artikel von Juli 2021 über die Einheit von Russen und Ukrai­nern Ein­bli­cke in seine impe­riale und natio­nale Gedan­ken­welt. Darin folgert er, dass die Ukraine in ihren heu­ti­gen Grenzen einen eigenen unab­hän­gi­gen Staat nur bei freund­schaft­li­chem Ver­hält­nis zu Russ­land behal­ten könne. „Wir werden niemals zulas­sen, dass unsere his­to­ri­schen Ter­ri­to­rien und dort lebende uns nahe­ste­hende Men­schen gegen Russ­land benutzt werden. Und denen, die das ver­su­chen, sei gesagt, dass sie damit ihr Land zer­stö­ren.“ Die Ukraine sei his­to­risch der Rand des rus­si­schen Reiches und Ukrai­ner eigent­lich Russen. Die Ukraine habe ur-rus­si­sches Ter­ri­to­rium zuge­schla­gen erhal­ten, Russ­land sei fak­tisch beraubt worden.

Neben der aggres­si­ven Rhe­to­rik sollte außer­dem der Fakt die Alarm­glo­cken schril­len lassen, dass der Artikel des rus­si­schen Prä­si­den­ten für rus­si­sche Armee­an­ge­hö­rige kurz nach Ver­öf­fent­li­chung von Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter Sergei Schoigu als Pflicht­lek­türe fest­ge­legt wurde.

Pas­sen­der­weise wird im rus­si­schen Staats­fern­se­hen regel­mä­ßig die Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine in Frage gestellt und Poli­ti­kern eine Bühne gegeben, die sogar eine Beset­zung der Ukraine fordern.

Mili­tä­ri­sche Droh­ku­lisse und eska­lie­rende Rhe­to­rik zu Sicherheitsgarantien

Die mili­tä­ri­schen Vor­be­rei­tun­gen sind bereits weit fort­ge­schrit­ten. Neben Trup­pen­ver­bän­den, Panzern und Artil­le­rie wurden Hub­schrau­ber und Kampf­flug­zeuge an die Grenze und nach Belarus verlegt, was ebenso einen Ein­marsch von Norden befürch­ten lässt.

Bedenk­lich ist hierbei, dass die abge­hal­te­nen Übungen ein­deu­tig aggres­si­ver Natur sind, etwa amphibe Lan­dungs­übun­gen an Küsten der annek­tier­ten Krim sowie Übungen mit Fall­schirm­sprin­gern in der Region Krasnodar.

Unglaub­wür­dig, aber nicht weniger gefähr­lich, sind auch Aus­sa­gen des rus­si­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, dass die Ukraine gemein­sam mit den USA eine Pro­vo­ka­tion mit Ner­ven­gas in den besetz­ten Gebie­ten im Donbass planen und sich die Pro­vo­ka­tio­nen der NATO an der rus­si­schen Grenze zu einem mili­tä­ri­schen Kon­flikt aus­wach­sen könnten.

Gleich­zei­tig wurden zwar Ver­hand­lun­gen über Sicher­heits­ga­ran­tien ange­bo­ten, die For­de­run­gen von rus­si­scher Seite sind inhalt­lich jedoch über­zo­gen und teil­weise unan­nehm­bar. Wei­ter­hin hat Russ­land im Vorfeld keine Kom­pro­miss­be­reit­schaft erken­nen lassen und mit militär-tech­ni­schen Maß­nah­men gedroht. Putin werde darauf hören, was seine Mili­tär­ex­per­ten vor­schla­gen (nicht seine Diplomaten).

Die erfolg­lo­sen Ver­hand­lun­gen waren dann von wei­te­ren rhe­to­ri­schen Eska­la­tio­nen Russ­lands gekenn­zeich­net („die NATO soll die Koffer packen“, „keine Kom­pro­misse“). Ebenso wurde die Sinn­haf­tig­keit wei­te­rer Gesprä­che in Frage gestellt.

Optio­nen zur Ein­he­gung des Konflikts:

Russ­land arbei­tet in bedenk­li­chem Maße auf eine Eska­la­tion hin und das Pendel ist wohl bereits in Rich­tung mili­tä­ri­sches Ein­grei­fen ausgeschlagen.

Das muss nicht eine voll­stän­dige Inva­sion der Ukraine bedeu­ten, auch eine begrenzte Eska­la­tion mit gerin­gen Land­ge­win­nen im Donbass oder ein Kor­ri­dor zur Krim sind im Bereich des Möglichen.

Um dies zu ver­hin­dern, muss der Westen Moskau aktiv vor Augen führen, dass Russ­land bei einem Angriff so stark sank­tio­niert wird, dass das Land wirt­schaft­lich um Jahr­zehnte zurück­ge­wor­fen und auf der inter­na­tio­na­len Welt­bühne iso­liert sein würde – und der Westen bereit ist, für seine Prin­zi­pien wirt­schaft­li­che Nach­teile auf sich zu nehmen.

Neben weit­rei­chen­den Han­dels­sank­tio­nen, wie einem Aus­schluss aus dem SWIFT-Zah­lungs­sys­tem und einer Handels- und Inves­ti­ti­ons­blo­ckade, gehört auch die Still­le­gung beider Nord-Stream-Pipe­lines auf die Sanktionsliste.

Zusätz­lich muss bei einer Eska­la­tion auf mili­tä­ri­scher Ebene reagiert werden und die Ukraine mit moderns­ten Waffen ver­sorgt werden. Darüber hinaus sollte die NATO für diesen Fall ankün­di­gen, eine umfang­rei­che Ver­le­gung von Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten sowie von NATO-Truppen in die bal­ti­schen Mit­glieds­staa­ten in Betracht zu ziehen.

Gleich­zei­tig ist es wichtig, zwi­schen der rus­si­schen Führung, die die Eska­la­tion zu ver­ant­wor­ten hätte, und der rus­si­schen Bevöl­ke­rung zu trennen, die kein Inter­esse an einem Krieg hat. Der Bevöl­ke­rung sollten aktiv Ange­bote gemacht werden, wie eine visums­freie Ein­reise für unter 30-Jährige, ver­stärkte Vergabe von Sti­pen­dien, Prak­ti­kums­pro­gramme sowie die For­cie­rung der bestehen­den Städ­te­part­ner­schaf­ten und des zivil­ge­sell­schaft­li­chen Dialogs.

Diese Maß­nah­men, kom­bi­niert mit einer offen­si­ven Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Abschre­ckungs­stra­te­gie, können erfolg­reich eine mili­tä­ri­sche Eska­la­tion ver­hin­dern und gleich­zei­tig der Bevöl­ke­rung klar­ma­chen, dass der Westen keine Gefahr für den gewöhn­li­chen Bewoh­ner Russ­lands darstellt.

Andreas Brunn­bauer war von Januar 2016 bis Juni 2018 stell­ver­tre­ten­der Pro­jekt­lei­ter des Good Finan­cial Gover­nance Pro­jekts der Gesell­schaft für Inter­na­tio­nale Zusam­men­ar­beit mbH (GIZ) und von Novem­ber 2018 bis Oktober 2021 Reprä­sen­tant des Frei­staats Bayern in der Rus­si­schen Föde­ra­tion. Der Artikel gibt die private Meinung des Autors wieder.

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