Öffentliche Meinung in Russland: Kriegsangst und Konsens
Seit Monaten schürt der russische Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine Befürchtungen einer neuerlichen Invasion. Moskau versichert, dass es keine derartige Absicht hat, verlangt aber, dass USA und NATO garantieren, ihr Militärbündnis nicht nach Osten zu erweitern. Westliche Politiker warnen, dass im Falle eines russischen Angriffs harte Sanktionen gegen Moskau und Präsident Putin persönlich verhängt werden. Was sagt die russische Öffentlichkeit dazu? Eine Analyse von Denis Wolkow
Meinungsumfragen zufolge glauben etwas mehr als 50 Prozent der Russen, dass der Konflikt in der Ostukraine sich nicht zu einem Krieg zwischen Russland und der Ukraine auswächst. Ein beträchtlicher Teil der Befragten – 39 Prozent – hält einen Krieg dagegen für „unvermeidlich“ oder „sehr wahrscheinlich“. Lediglich 15 Prozent schließen eine solche Möglichkeit völlig aus. Ein Viertel der Befragten hält einen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der NATO für möglich. Diese Zahl in scheinbar nicht sehr hoch, liegt aber über den Ergebnissen früherer Umfragen (14 Prozent im Jahr 2019, 19 Prozent in 2018 und 23 Prozent 2017). Mehr als die Hälfte der Befragten sah Ende 2021 eine Verschlechterung der Beziehungen zum Westen und der NATO – mehr als je zuvor, abgesehen von 2015 und 2014, als Krim-Annexion und der Krieg in der Ostukraine die Stimmung prägten.
Die Angst vor einem Weltkrieg ist in der russischen Gesellschaft weitaus verbreiteter. Bereits im Frühjahr 2021 äußerten 62 Prozent der Befragten eine solche Angst – ein Rekordwert unter den Umfragen der letzten 25 Jahre. Ein Fokusgruppen-Teilnehmer wörtlich: „Wenn die (im Staatsfernsehen) sagen, dass wir jeden Tag in einen Krieg eintreten werden, … macht (das) eine Heidenangst ... Verglichen damit verblasst alles andere zur Bedeutungslosigkeit.“
Allerdings hat die Kriegsangst zum Jahresende etwas abgenommen – im Dezember 2021 waren es noch 56 Prozent. Dies könnte eine Reaktion auf die Treffen zwischen den Präsidenten Russlands und der USA und die Verhandlungen beider Länder gewesen sein.
Ein erheblicher Anteil der Russen glaubt, dass zwischen Russland und dem Westen seit langem Krieg herrscht, wenn auch in Form eines unsichtbaren, kalten Informationskriegs. Dies ist seit vielen Jahren ein wiederkehrendes Thema in Fokusgruppen-Diskussionen. Häufig ist auch die Meinung, dass die Konfrontation mit dem Westen auf dem Gebiet von Drittländern stattfindet: Georgien, Ukraine, Weißrussland, Kasachstan, Syrien und in der Europäischen Union. Umfragen zufolge hat die russische Öffentlichkeit Russlands Beteiligung an allen internationalen Konflikten der letzten Zeit fast ausschließlich durch das Prisma einer geopolitischen Konfrontation mit dem Westen, vor allem mit den USA, wahrgenommen.
Typische Aussagen in Fokusgruppendiskussionen im Dezember waren etwa: „Die Ukraine steckt zwischen Russland und den USA fest, ihre Eliten werden von den USA finanziert, die machen mit dem Volk, was sie wollen“; „Die Ukraine ist nur eine Schachfigur in einem großen Spiel – die Ukraine tut alles, was Amerika ihr sagt“;
„Die USA tragen die Verantwortung“
Unsere Untersuchungen zeigen, dass 50 Prozent der Russen den USA und der NATO die Schuld an den Spannungen geben. Nur eine Randgruppe von drei bis vier Prozent macht die russische Führung verantwortlich. Dieses Meinungsbild ist recht stabil. Für einen erheblichen Teil der russischen Gesellschaft ist „Einmischung der USA und des Westens in die inneren Angelegenheiten anderer Länder“ längst zur Begründung für alle möglichen Konflikte geworden: von Syrien bis zum jüngsten Krieg in Berg-Karabach oder der Krise an der weißrussisch-polnischen Grenze. Was auch in der Welt geschieht, Amerika ist immer schuld.
Fokusgruppeninterviews ermöglichen einen tieferen Einblick in die gesellschaftliche Stimmung. Dabei fällt auf, dass die Beziehungen zur Ukraine und zum Westen vorher nicht als Themen festgelegt waren und von den Befragten spontan angesprochen wurden. Die Zuversicht und Direktheit, mit der die Befragten den Ukraine-Konflikt bewerteten, bestätigen die genannten Umfrageergebnisse. Die Flüchtlingskrise an der weißrussisch-polnischen Grenze wurde klar als Versuch des Westens gewertet, Russland in einen Krieg hineinzuziehen.
Das Wort „Provokation“ wurde dabei wiederholt genannt und argumentiert, dass Russland gar nicht anders kann, als zu reagieren – etwa: „Amerika und Großbritannien provozieren die Ukraine, damit sie sich aggressiv gegenüber dem Donbass verhält, und versuchen so, Russland zu zwingen, sich für die russischen Bürger einzusetzen, die auf dem Gebiet des Donbass leben; letztendlich wird dies ein weiterer Grund für weitere Sanktionen gegen Russland sein“; „All das wird getan, um uns in einen Krieg zu ziehen. Auch das ist wirklich beängstigend. Und wir fallen darauf herein, wir fallen tatsächlich darauf herein!“; „Es sieht eher wie eine Provokation [des Westens – DV] aus; sie wollen, dass wir ihnen unterlegen sind“; „Sie provozieren uns absichtlich, um Sanktionen zu verhängen, damit sich die Wirtschaft wieder verschlechtert und die Währung abwertet“; „Russland wird darauf reagieren müssen ... Wir werden von allen Seiten bedrängt; sie beißen uns. Was sollen wir tun? Nachgeben?
Gleichzeitig waren die meisten Fokusgruppen-Teilnehmer der Meinung, dass westliche Medienberichte über den russischen Truppenaufmarsch nahe der ukrainischen Grenze nur dazu dienten, zum Krieg anzustacheln: „Was ich im Internet über angebliche Militäraktionen gegen die Ukraine, eine Invasion der Ukraine sehe – das ist bloß Flüsterpost ... Es gibt überhaupt keine Kämpfe, aber schon wird geschrieben, dass Putin die Ukraine eingenommen hat“; „Sie reden ständig davon, dass Russland jemanden angreift, dass Russland jemanden angegriffen hat; das ist abgedroschen. .. Russland wird angreifen: Wozu? Um Territorium zu erobern? Wir haben genug eigenes Territorium. Um zu plündern? Dort gibt es nichts zu plündern. Es ist der Westen, der sich einen Teil der Ukraine aneignen will“.
In den Augen vieler in den Teilnehmer bestätigen die NATO-Militäraktivitäten nahe der russischen Grenzen bloß, dass die Anschuldigungen gegen Russland nicht glaubhaft sind: „Schließlich expandiert die NATO nach Osten. Sie müssen zugeben, dass sich amerikanische Flugzeuge und Schiffe im Schwarzen Meer befinden… Die Ukraine lässt alles rein, immer näher an unsere Grenzen. Wir müssen unsere Grenzen schützen“;
Für den Durchschnittsrussen sind alle Ereignisse der letzten Monate – die Kritik an Nord Stream 2, die weißrussische Grenzkrise, NATO-Übungen vor der Krim, ständig neue Sanktionsdrohungen, Kritik an der russischen Militärhilfe für Kasachstan und das Gerede von einer „drohende Invasion der Ukraine“ längst zu einem Strom schwer auseinanderzuhaltender Negativ-Meldungen aus dem Westen verschmolzen. Diese Nachrichten lösen bei der großen Mehrheit der Russen nur noch Irritation aus, und sie wollen sich nicht länger damit beschäftigen. Angesichts dieser Wahrnehmungen erscheint ein Krieg als etwas von außen aufgezwungenes und praktisch unvermeidlich. Und deshalb wachsen die Ängste.
Bei der Ukraine sind Alt und Jung einer Meinung
Sowohl Umfragen als auch Fokusgruppeninterviews zeigen, dass die öffentliche Meinung in Russland zur Ukraine äußerst homogen ist. Die verfügbaren Daten zeigen nicht die übliche Verteilung nach Kriterien wie Alter oder Informationsquellen.
Eigentlich galt in den letzten Jahren in Russland, dass die jugendlichen Nutzer von Videoblogs und Telegram-Kanälen die politische Lage deutlich anders einschätzen als die ältere, fernsehschaunde Generation: Während die Jungen eher der Opposition zugeneigt waren, waren die Älteren loyal gegenüber dem Staat.
Wenn es aber um die Ukraine geht, sind sich beide Gruppen überraschend einig – sowohl bei der Bewertung des Vorgehens Russlands und des Westens als auch bei der Frage, wer für die Eskalation des Konflikts verantwortlich ist. Sie verwenden sogar dieselben Formulierungen, um die Situation zu beschreiben. Sowohl junge als auch ältere Russen sprechen praktisch mit einer Stimme, wenn es um die Ukraine geht. Der einzig erkennbare Unterschied war, dass die Jüngeren häufiger angaben, die Frage nicht beantworten zu können.
Dieser offensichtliche Konsens lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass die Befragten zwar gut über die Ereignisse in der Ukraine informiert sind, sich aber nicht wirklich für das Thema interessieren, das ihnen von den großen Medien aufgezwungen scheint. Die Befragten geben häufig an, dass sie des Themas Ukraine, der Außenpolitik im Allgemeinen und der Konfrontation mit dem Westen überdrüssig sind. Daher besteht kein Wunsch, die Ereignisse im Detail zu analysieren, nach Alternativen zu suchen und die Aussagen von Politikern und TV-Moderatoren zu überprüfen. Alternative Informationsquellen dazu wurden offensichtlich an den Rand gedrängt.
Regierungskritik wird in Umfragen ausgeblendet
Immerhin gibt es bei der Schuldfrage kleine, aber bedeutende Meinungsunterschiede zwischen Anhängern und Kritikern der russischen Regierung: Unter den Loyalisten macht mehr als die Hälfte der Befragten (56 Prozent) die Vereinigten Staaten und den Westen für die Eskalation des Konflikts verantwortlich, während es bei den oppositionell eingestellten 39 Prozent sind. Und während nur ein Prozent der Regierungstreuen bereit sind, Russland die Schuld zu geben, sind es bei den Oppositionellen acht Prozent. Anders ausgedrückt: Es gibt Widerspruch zur offiziellen russischen Darstellung zur Ukraine. Allerdings werden solche Meinungen in der Regel nicht öffentlich geäußert: Wer nicht bereit ist, Washington oder Kiew die Schuld zu geben, gibt eher gar keine Antwort. Das Gleiche gilt für Fokusgruppen: Kritik an der offiziellen Position Moskaus ist praktisch nicht zu hören. Offensichtlich trauen sich die wenigen, die eine andere Sicht der Dinge haben, nicht, ihre Meinung zu äußern – sei es aus Angst vor öffentlicher Ächtung oder Anschuldigungen mangelnden Patriotismus oder gar vor möglichen staatlichen Maßnahmen.
Konfrontation steigert keine Umfragewerte
Die Mehrheit der russischen Bürger macht also den Westen für die derzeitige Eskalation des Konflikts verantwortlich und versucht, die Führung ihres Landes reinzuwaschen. Gleichzeitig ist aber keine Mobilisierung der öffentlichen Meinung um die russische Führung zu beobachten. In den letzten zwei Monaten, in denen das Thema im Mittelpunkt stand, sind die Umfragewerte des Präsidenten, des Premierministers und der Regierung sogar gesunken. Der im September und Oktober 2021 beobachtete leichte Popularitätsanstieg war das Ergebnis großzügiger Wahlkampfgeschenke für die Bevölkerung und hatte kaum etwas mit Außenpolitik zu tun. Es ist ganz offensichtlich, dass die Konfrontation mit dem Westen langweilig und alltäglich geworden ist und keine großen Emotionen mehr hervorruft, auch wenn Politiker noch so starke Aussagen machen.
Der offensichtliche Mangel an Emotion in der gegenwärtigen Phase der Konfrontation könnte zu bestimmten Schlussfolgerungen verleiten. Einigen Experten zufolge ist die russische Außenpolitik eine Fortsetzung der Innenpolitik, und alle außenpolitischen Erklärungen und Taten dienen allein der Steigerung der Popularität der Staatsführung, was im Fall der Krim zu beobachten war. Daraus folgt, dass wenn die Umfragewerte nicht steigen, dann wird es keine weitere Eskalation geben; Russland gibt dann einfach nach, weil es sinnlos ist, weiterzumachen. Was aber, wenn diese Logik falsch ist?
Wenn aber der Popularitätszuwachs infolge der Außenpolitik nur ein Nebenprodukt ist, dann sind alle Argumente, wonach die derzeit niedrigen Umfragewerte eine Art Abschreckung für den Kreml darstellen, falsch. Außerdem würde es im Falle eines echten (und nicht nur hypothetischen) Konflikts höchstwahrscheinlich zu einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung kommen. Deshalb darf man nicht bloß auf die Umfragewerte schauen, sondern auf das Gesamtbild der russischen Wahrnehmung eines möglichen Konflikts mit der Ukraine und dem Westen. Und allem Anschein nach ist die russische Gesellschaft, obwohl sie sich vor einem solchen Konflikt fürchtet, innerlich darauf vorbereitet.
Als einzige Alternative zu einem Konflikt sehen die meisten umfangreiche Verhandlungen. Einer der Fokusgruppen-Teilnehmer drückte es so aus: „Die höchsten Kreise sollten sich hinsetzen und verhandeln; einfach reden, reden und verhandeln; es ist immer möglich, mit Gesprächen irgendeinen Kompromiss zu erreichen“. Fast 80 Prozent der Russen haben sich in den letzten Jahren durchweg für eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA und anderen westlichen Ländern ausgesprochen. Allein die Tatsache, dass solche Gespräche stattgefunden haben – zunächst zwischen Putin und Joe Biden und anschließend auf diplomatischer Ebene – hat die Haltung der Russen gegenüber den USA und Europa in den letzten Monaten trotz ständiger gegenseitiger Anschuldigungen bereits verbessert. Allerdings sind weder Politiker noch normale Bürger davon überzeugt, dass diese Gespräche zu einer Entspannung führen werden.
Denis Wolkow ist Direktor des unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum. Dieser Artikel ist zuerst in russischer und englischer Sprache bei ridl.io erschienen.
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