Schuldlos schuldig: Zur Lage der russischen Demokraten

Seit Kriegsbeginn haben hunderttausende Russinnen und Russen ihr Land verlassen, überwiegend Angehörige der liberalen Intelligenz. Unter ihnen ist auch der Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums, Sergej Lukaschewski. Mit ihm haben wir über seine persönliche Erfahrung, seine Gefühle gegenüber der Ukraine und über die Folgen des Exodus gesprochen.
Sergej, Sie sind Anfang März über Usbekistan nach Deutschland gelangt. Was war das für eine Erfahrung für Sie?
Lukaschewski: Das eigene Land zu verlassen ist eine schwere Entscheidung. Man hat ja sein geregeltes Leben, seine Aufgaben. Das Sacharow-Zentrum war zwar jahrelang auf der Liste „ausländischer Agenten“ und wurde immer wieder von kremltreuen Gruppen angriffen. Dennoch war unsere Lage von einer relativen Stabilität geprägt.
Noch am 1. März glaubte ich, dass auch wenn unser Zentrum früher oder später geschlossen wird, wir erst mal die Dinge in Ruhe zu Ende bringen sollten. Den Entschluss, mit meiner Familie das Land zu verlassen, traf ich, als sich unsere Lage dramatisch zu verschärfen schien: Am 2. März wurde unsere Tochter wegen eines Anti-Krieg-Aufklebers an ihrem Rucksack festgenommen – und es macht einen gewaltigen Unterschied, wenn sowas in der eigenen Familie passiert. Dann gab es Gerüchte, dass bald das Kriegsrecht verhängt würde. Deshalb beschloss mein Sohn mit seiner Freundin das Land zu verlassen, weil er befürchtete, zum Militär einberufen zu werden. Das wiederum weckte bei uns Erinnerungen an die jüngere russische Geschichte – an von einem eisernen Vorhang getrennte Familien.
Wie kam es, dass Sie nach Usbekistan flogen?
Als wir herausfanden, dass wir kurzfristig deutsche Visa erhalten können, beschlossen wir, über Taschkent nach Deutschland zu gelangen – Flüge über Istanbul oder Jerewan waren bereits zu teuer.
Ist es nicht paradox, dass ein zentralasiatisches Land, das noch vor kurzem als eines der repressivsten weltweit galt, zum Drehkreuz für geflüchtete Russen wird?
Im Zweiten Weltkrieg wurde meine Großmutter mit ihrer Familie nach Usbekistan evakuiert. Wir hatten sogar die „Legende“ vorbereitet, Grenzschützern zu erzählen, dass wir die Orte besuchen wollen, wo sie gelebt hatte. Das haben wir dann glücklicherweise nicht gebraucht. Aber die Hotels in Taschkent waren übervoll mit Gästen aus Russland. Als ich jungen Einheimischen von den Repressionen in meiner Heimat erzählte, meinten sie nur „Wie bei uns“.
Was fühlen Sie als Russe angesichts des Angiffskrieges auf die Ukraine?
Es ist einfach wahnsinnig schwer zu begreifen, dass sich solche Schrecken wie sie Europa seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat, wiederholen. Es geht mir einfach nicht aus dem Sinn, manchmal scheint es mir, dass mein Kopf platzt. Ich denke oft über mein persönliches Schicksal nach. Ich habe dieses Regime ja nie unterstützt und mein Leben lang in Organisationen gearbeitet, die für ganz andere Werte einstehen. In den letzten Jahren war mein Arbeitgeber als „ausländischer Agent“ gebrandmarkt.
Und doch trage ich Verantwortung für das was passiert. Und jedesmal frage ich mich – was könnte ich jetzt den Ukrainern sagen? Ich weiß es einfach nicht, weil alle Worte, alle Bitten nach Vergebung wertlos sind im Vergleich zu dem Leid der Menschen.
Und wie kann man jemals wieder irgendeinen Dialog mit den Ukrainern beginnen? Wie können wir diese schreckliche Erfahrung begreifen und intellektuell durchleben? Das ist derzeit einfach überhaupt nicht vorstellbar.
Gibt es irgendwelche Lehren, die Sie jetzt schon aus diesem Krieg ziehen?
Wir sind in ein paar Fallen getappt. So haben wir geglaubt, dass das Regime erst irgendeine menschenverachtende Ideologie formulieren müsste, bevor es so einen schrecklichen Krieg beginnt. Ähnlich wie Hitler mit „Mein Kampf“. Aber es hat sich herausgestellt, dass es auch ganz ohne Ideologie geht.
Und dann haben wir gedacht, dass es vor einem solchen Krieg schreckliche Repressionen geben würde. Also nicht nur Festnahmen und Mordanschläge an Regimegegnern, sondern Konzentrationslager beziehungsweise einem Gulag. Aber nein! Wir lebten in einem autoritären Regime mit einzelnen, gezielten Repressionen – und auf einmal fanden wir uns in einem menschenverachtenden, ungerechten und blutigen Krieg mit einem Nachbarland wieder.
Welche Folgen wird der Exodus von so vielen liberalen Geistern auf Russland haben?
Das wird kurzfristig negative Folgen für die Zivilgesellschaft haben, weil vor allem diejenigen das Land verlassen haben, die gewöhnlich öffentlich ihre Meinung gesagt haben, etwa in sozialen Medien. Das zu tun ist einfach zu riskant geworden. Zunächst wurden ja vor allem Aufrufe zu Protesten kriminalisiert, aber jetzt darf man nicht mal mehr die Dinge beim Namen nennen (so drohen für die Verwendung des Wortes „Krieg“ statt „Spezialoperation“ im Wiederholungsfall bis zu 15 Jahre Haft – Anm. d. Redaktion).
Was langfristig wird, ist schwer zu sagen. Natürlich ist es angesichts der Kriegsgräuel in der Ukraine schwer, sich positiv über dieses Thema zu äußern. Aber ich bin ein historischer Optimist. Die russische Tradition freiheitlichen Denkens hat sich jedesmal erneuert – selbst nach den schlimmsten Repressionen: Sowohl nach der Herrschaft von Zar Nikolaus I. Mitte des 19. Jahrhunderts als auch im 20. Jahrhundert nach den Schrecken der Revolution und der stalinistischen Repressionen.
In Russland haben Freiheit und Liberalismus zwar eine sehr schwache politische Tradition und Versuche, eine solche Tradition zu begründen sind regelmäßig gescheitert. Aber Russland hat eben auch eine starke Tradition freien Denkens, die sich regelmäßig erneuert, weil neue Leute die alten Texte lesen.
Und man kann vielleicht auch sagen, dass sich die Geschichte heute schneller entwickelt und dass vielleicht der jetzige eiserne Vorhang nicht so lange hält wie der des 20. Jahrhunderts. Und vielleicht können die, die jetzt gegangen sind, bald in ein freies Russland zurückkehren.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die russische Regierung jetzt Schuldige suchen wird, um von den Folgen der westlichen Sanktionen abzulenken?
Sicher wird der Druck auf nicht loyale gesellschaftliche Gruppen – die Putin gerne „Verräter“ nennt – steigen. Aber die Suche nach Schuldigen wird nicht unter den wenigen in Russland verbliebenen liberalen Intellektuellen und NGOs stattfinden – denn selbst die Kreml-Propaganda kann nicht erklären, dass Putin Selenskyj nicht besiegen konnte, weil ein paar tausend Leute in Russland mit Plakaten protestieren.
Ich fürchte eher, dass das Regime entweder einen Waffenstillstand als Sieg verkaufen wird, oder eine ernsthafte Jagd auf die wirklich „Schuldigen“ beginnt – nicht unter Bürgerrechtlern – sondern beim Militär und den Sicherheitsdiensten – zumal damit auch gleich offene Rechnungen innerhalb der Regierungseliten beglichen werden können.
Für wie wahrscheinlich halten Sie einen Sturz des Putin-Regimes, etwa durch eine Palastrevolution?
Die russischen politischen Traditionen der letzten Jahre lassen so ein Szenario unrealistisch erscheinen. Die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Präsidenten sind stark und die verschiedenen Sicherheitsdienste konkurrieren miteinander. Ein Umsturz aus dem Staatsapparat, wie etwa bei Chruschtschow, ist unwahrscheinlich, weil unter Putin der Apparat schwach ist. Das heißt aber nicht, dass so etwas nicht passieren kann. Es ist eben nur nicht sehr wahrscheinlich.
Was sollte der Westen tun, um denen zu helfen, die in Russland geblieben sind?
Kurz gesagt, zwei Sachen. Es muss eine flexible Strategie her, um diesen Leuten zu ermöglichen, dass sie weiterarbeiten können. Und gleichzeitig muss man ihnen eine Exit-Option offenhalten, damit sie im Falle eines Falles schnell in ein sicheres Land gelangen können.
Was ist ihre Erfahrung mit der deutschen Visapolitik in diesem Zusammenhang?
Das Hauptproblem ist, dass die deutschen Behörden hier nur Einzelfallentscheidungen, also auf persönlicher Ebene, trifft. Das bedeutet, dass jeder einzelne Fall viele Leute beschäftigt und es lange dauert, weil es keine generelle Politik gibt. Ich bin Deutschland dankbar, dass man mir binnen eines Tages ein Visum gegeben hat, aber ich weiß genau, dass hinter mir eine große Schlange steht.
Die Fragen stellte Nikolaus von Twickel
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