Victor Serge:
Chronist der Repression
Vor 75 Jahren starb der russische Revolutionär und antistalinistische Romancier Victor Serge unter mysteriösen Umständen in Mexico-City. Zeit für eine Wiederentdeckung.
Ein Essay von Marko Martin
Als am 17. November vor 75 Jahren in einem Taxi in Mexico-City der Schriftsteller und Revolutionär Victor Serge tot zusammenbrach, wähnten sein Sohn Wladimir und die wenigen ihm verbliebenen Freunde sogleich einen Mordanschlag. Der psychologisch verständliche Versuch, den Verlust eines geliebten Menschen in einen größeren Zusammenhang zu setzen oder gar eine Verschwörungstheorie? Nicht unbedingt.
Gewiss, Victor Serge – geboren 1890 in Brüssel als Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch, Sohn antizaristischer russischer Flüchtlinge – hatte in seinem bisherigen Leben an Flucht, Exil, Deportation, Haft und zahlreichen Todesdrohungen bereits genug hinter sich, dass es auch die stabilste physische Konstitution nachhaltig zermürbt hätte. Andererseits aber hatte er zuvor eben nicht vernehmlich gekränkelt, war zum Zeitpunkt seines Todes erst 56 Jahre alt – und war auch nicht der erste, der in Mexikos Hauptstadt auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Fünf Jahre zuvor hatte die berühmte Fotografin Tina Modotti ebenfalls in einem Taxi einen tödlichen Herzanfall bekommen – die damals 45jährige wusste zu viel über das Innenleben und die Verbrechen der Stalinisten während des spanischen Bürgerkrieges und deren fortgesetzte Aktivitäten in Mexiko. Und Victor Serges Freund, der spanische Anarchist, Franco- und Stalingegner Julián Gorkin hatte 1942 in einem dokumentarischen Buch die jüngsten Auslandsmorde des Kreml zusammengetragen – und nicht immer waren diese so offensichtlich wie die Eispickel-Attacke auf Leo Trotzki im August 1940.
Haft in Europa
Serge und Trotzki wiederum kannten sich seit 1919, aus den frühen Tagen der russischen Revolution. Zu dieser Zeit hatte Victor Serge als junger Anarchosyndikalist bereits Gefängniserfahrungen in Frankreich und Spanien gesammelt und war doch alles andere als ein typischer Berufsrevolutionär, war kein Che Guevara avant la lettre. Was später viele Exkommunisten und Dissidenten als ihren „Kronstadt-Moment“ bezeichnen würden, sprich das Erschrecken angesichts des Mörderischen der vermeintlich humanen Utopie, Victor Serge hatte ihn bereits im März 1921 erlebt: In diesem Monat nämlich ließ Genosse Trotzki, damals Oberbefehlshaber der Roten Armee, auf die doch ebenfalls „roten“ Matrosen und Soldaten der Festungsstadt Kronstadt schießen, die sich zuvor erhoben hatten gegen die Diktatur und den Terror der Bolschewiki.
Rückkehr in die Sowjetunion: Vom Revolutionär zum Schriftsteller
Doch war das damalige Westeuropa eine Alternative? Nicht für Victor Serge, der danach für die Komintern am gescheiterten Hamburger Aufstand von 1923 beteiligt war und, zurückgekehrt in die Sowjetunion, nach Lenins Tod in Trotzki dennoch weiterhin den Garanten für einen besseren Sozialismus sah. Eine Illusion, die er beinahe mit seinem Leben bezahlt hätte: Von der Geheimpolizei beschattet, schließlich 1933 deportiert und nur deshalb bei den nun folgenden „Säuberungswellen“ nicht erschossen, weil 1936 in Frankreich „bürgerliche“ Schriftsteller wie Romain Rolland und André Gide öffentlichkeitswirksam für ihn eintraten. Zu dieser Zeit war nämlich aus dem gescheiterten Revolutionär längst ein skrupulös beobachtender Schriftsteller geworden, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Kunde zu geben von seiner Zeit, von Hoffnungen und Verrat, von emanzipatorischem Eifer und totalitärem Macht- und Mordrausch.
So trägt sein 1939 in Frankreich erschienener (und vor einiger Zeit auf Deutsch unter dem Titel „Schwarze Wasser“ wieder aufgelegter) Roman keineswegs um des Effekts Willen den wuchtigen Originaltitel „S´il est minuit dans le siècle“. Er beschreibt Stalins Sowjetunion, in der es nicht nur Nacht, sondern Mitternacht ist, wo die Straflager voll sind und die Zwangsarbeiter en masse sterben, totgeprügelt oder verhungert. Nicht wenige von ihnen sind alte Revolutionäre, die danach zu stalinistischen Funktionären geworden waren, ehe sie sich nun – Täteropfer des Systems – im Lager am nördlich dunklen Ural wiederfinden. Ihre Diskussionen drehen sich im Kreis, außerdem müssen sie bei der schweren Waldarbeit fürchten, die tägliche Norm nicht zu erfüllen und exekutiert zu werden. Nur einem gelingt die Flucht über einen reißenden Fluss – angekommen in einer abgelegenen Siedlung, wird er dort eines eindrucksvollen Holzgebäudes ansichtig: Es ist das soeben errichtete Hauptquartier der Staatssicherheit.
Allen Seiten verdächtig
Jahrzehnte vor Alexander Solschenizyn und Warlam Scharlamow hatte hier Victor Serge die Schrecken des „Archipel Gulag“ eindringlich und realistisch beschrieben – und muss ein Jahr nach Erscheinen des Romans wiederum fliehen, nunmehr vor der deutschen Wehrmacht, die 1940 nach Frankreich einmarschiert war. Flucht nach Marseille, wo sich Victor Serge in einer abgelegenen Villa versteckt, jetzt in Furcht vor Stalins und Hitlers Agenten. Er schließt Freundschaft mit dem ebenfalls untergetauchten Surrealisten André Breton, der dann auch sein Mitpassagier auf einem Schiff ist, das schließlich von Marseille aus via französischer Karibik nach Mexiko ablegt.
Mit an Bord, ohne dass sie voneinander wissen, die aus Nazideutschland geflohene Anna Seghers, die zu dieser Zeit bereits an ihrem großen Exilroman „Transit“ schreibt. Hätte es womöglich nach einer Begegnung mit Victor Serge bei der späteren DDR-Staatsschriftstellerin eine Horizonterweiterung geben können? Die Frage bleibt Spekulation, doch Tatsache ist, dass Serges dann im mexikanischen Exil entstandener Roman „Jahre ohne Gnade“ auch all das beschreibt, wovon in „Transit“ eben geschwiegen wird – von der Furcht antinazistischer Flüchtlinge auch vor der sowjetischen Geheimpolizei, vom Wissen ehemaliger Spanienkämpfer um Moskaus Morde inmitten der Reihen der republikanischen Franco-Gegner. Ein Wissen, das ein Chronist wie Victor Serge mit immenser Einsamkeit bezahlt: Den Rechten verdächtig als Linker, den Kommunisten und Stalinisten als „Verräter“ geltend und auch der sektiererischen Gemeinde um Trotzki ein unsicherer Kantonist, beobachtet und analysiert Serge doch in Mexiko die konkreten Landreformen der damaligen, selbstverständlich demokratisch gewählten Präsidenten Cárdenas und Camacho und vertieft dabei seine Erkenntnis, dass Fortschritt auch ohne den sogenannten „revolutionären Blutzoll“ zu erreichen ist.
Jahrhundertzeuge mit aktuellem Bezug
Dennoch geht es auch in Mexiko viel zu langsam voran, denn die konservativen Beharrungskräfte sind stark. Als Victor Serge im November 1947 stirbt, hat er deshalb keineswegs wohlfeilen Frieden geschlossen mit den gegenwärtigen Verhältnissen; nur glaubt er längst nicht mehr daran, dass sie – anstatt durch Demokratie und unermüdliche Reformen – durch eine vermeintlich allwissende Partei und deren dekretierende Führer zu verbessern seien. Posthum erscheint dann sein Roman „Die große Ernüchterung“, der noch einmal in die Sowjetunion der dreißiger Jahre führt. Idealisten und Zyniker, Pragmatiker und Opportunisten, russische Chauvinisten im Gewand des Internationalismus, Verratene und Verräter (oft in der gleichen Person) tauchen auf und ab und zeugen von der abgrundtiefen Verdorbenheit eines Systems, das unter anderen Namen bis heute fortdauert.
Victor Serge wusste um all diese Abgründe und Niedrigkeiten, doch machte er daraus weder öde Thesenromane noch eine erhitzte Dostojewski´sche Metaphysik. Heute wieder gelesen, zeigt „Die große Ernüchterung“ stattdessen sogar mehr über die Mechanismen der Repression und des Selbstbetrugs als Arthur Koestlers berühmte „Sonnenfinsternis“. Dass Victor Serge von jenen, die ihn kannten, dennoch als ein außergewöhnlich empathischer und warmherziger Mensch geschildert wird, ist dabei mehr als nur eine Fußnote. Entgegen dem herrischen Brecht-Diktum hatte dieser tapfere und integre Jahrhundertzeuge in seinem lebenslangen Kampf für eine humanere Welt nämlich sehr wohl Zeit gefunden, auch selbst freundlich zu sein. Höchste Zeit, die Bücher dieses Ausnahme-Intellektuellen neu zu entdecken – sie sind aktueller denn je.
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