Warum die Russen Putins Lügen glauben
Im Gegensatz zur Ukraine, deren Bevölkerung der Kreml vollständig falsch eingeschätzt hat, lag die Putin-Führung bei der Bewertung der eigenen Bevölkerung richtig: Der Krieg wird von einer soliden Mehrheit der Menschen in Russland unterstützt. Der Kölner Osteuropa-Historiker Gerhard Simon führt das auf die Wirkmächtigkeit der Werte des russischen Imperialismus zurück.
„Sie [USA und Nato] haben den Krieg entfesselt, und wir haben Gewalt angewendet, um ihn zu beenden.“ „…um die Bedrohung zu liquidieren, die von dem neonazistischen Regime ausging, das in der Ukraine nach dem Staatsstreich von 2014 entstand“ – sagte Wladimir Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023. Außenminister Sergej Lawrow schlug am 4. März 2023 bei einer Podiumveranstaltung in Indien in die gleiche Kerbe: „Wissen Sie, der Krieg, den wir zu stoppen versuchen, und der gegen uns angezettelt wurde, indem man die Ukraine benutzt…“. Das Publikum brach an dieser Stelle in schallendes Gelächter aus.
Vom Wesen der Putin-Propaganda
Die Grundlügen, die seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 millionenfach durch die russische Propaganda wiederholt werden, lauten etwa: Die Ukraine hat Russland angegriffen. Ziel der „militärischen Spezialoperation“ sei die Zerschlagung des neonazistischen Regimes, das 2014 durch Staatsstreich an die Macht gelangt sei.
Dabei folgt die russische Propaganda der bereits von Goebbels formulierten Maxime: „Das Wesen der Propaganda ist … die Einfachheit und die Wiederholung.“ Nicht von ungefähr erwies Putin Goebbels seine Referenz, als er ihn im Jahr 2014 als „talentierten Menschen“ bezeichnete, der „das Seine erreichte“.
Nicht nur Putins Krieg
Der Krieg wird von einer soliden Mehrheit der Menschen in Russland unterstützt; dies ist keineswegs Putins Krieg, wie viele bei uns nach wie vor glauben. Trotz einer geringfügig rückläufigen Tendenz gaben im März 2023 – gemäß Zahlen des Lewada-Zentrums in Moskau – 72 Prozent der repräsentativ Befragten an, die Aktionen der russischen Armee in der Ukraine „voll“ oder „eher“ zu unterstützen. Nur 20 Prozent erklärten, sie nicht zu unterstützen. Die Unterstützung war in der älteren Generation deutlich stärker ausgeprägt als unter Jüngeren.
Die Putin-Führung schätzte also das russische Volk durchaus richtig ein, als sie den Befehl zum Einmarsch in die Ukraine gab. Die Putin- Führung hatte zwar ein vollständig falsches Bild von der Ukraine und den Ukrainern, denn man erwartete, sie würden sich der Übermacht ohne Gegenwehr fügen und sich unterwerfen. Aber die Bereitschaft des russischen Volkes, jeden Befehl auszuführen, hatte die russische Führung richtig kalkuliert. Weder die hohe Zahl der eigenen Opfer, noch die allgemeine Mobilisierung, noch die wirtschaftlichen Einschränkungen haben zu einem Zusammenbruch der Moral der russischen Armee geführt, wie manche im Westen – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen aus dem Krieg in Afghanistan (1979–1989) – erwartet hatten. Die Untertanen-Gesinnung der Russen ruht auf dem festen Fundament der Diktatur, die jede politische Alternative zerstört hat, und auf dem gut funktionierenden Repressionsapparat.
Wie die Russen die Welt wahrnehmen
Glauben also die Russen Putins Lügen? Wie stets in der Politik, glauben die Menschen den großen Lügen dann, wenn sie mit ihrer allgemeinen Wahrnehmung der Welt übereinstimmen oder ihr jedenfalls nicht widersprechen. So gehen die Menschen in Russland mit Selbstverständlichkeit davon aus, dass Russland groß und die Ukraine klein ist, dass dies immer so war und dass ein gleichberechtigter ukrainischer Staat neben dem russischen Staat nicht in Frage kommt. Die Ereignisse von 1991 waren die Folge einer vorübergehenden Schwäche des russischen Staates, hervorgerufen durch westliche Diversion und Gorbatschows Perestrojka. Sie können und müssen rückgängig gemacht werden. Russland kann nur als ein Imperium bestehen oder gar nicht. Dies ist die Quintessenz einer 1000-jährigen Geschichte.
In dieses Narrativ lassen sich die Lügen Putins ohne Schwierigkeiten einfügen. Zu diesem Narrativ gehört auch die These, Russland sei eine eigenständige, antiwestliche Zivilisation. Das „Brudervolk“ der Ukrainer habe kein Recht, aus dieser Zivilisation auszuscheiden. Wie groß Putin die Bedrohung durch die Ukraine einschätzt, geht auch daraus hervor, dass er die jetzt entstandene, nach Westen ausgerichtete Ukraine als „Anti-Russland“ bezeichnet. Dieses dichotomische Weltbild findet in Russland viel Unterstützung, denn es beruht auf einer viele Generationen zurückreichenden Tradition. Es ist nichts Anderes als die Fortsetzung des sowjetischen Weltbildes.
In der sowjetischen Wahrnehmung zerfiel die Welt in Gut und Böse, in Sozialismus und Imperialismus. Die Sowjetunion war das Zentrum des Fortschritts und der Zukunft, die USA das Zentrum von Dekadenz und Untergang. Die Zukunft war klar vorgezeichnet: der Sieg des Sozialismus/Kommunismus über den „verfaulenden“ Imperialismus. Diese einfachen Lügen haben jahrzehntelang einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Sowjetunion geleistet. In der realen Welt wurden sie unterfüttert durch gewisse Erfolge der Stalinschen Industrialisierung und durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg.
„Weltmacht“ Sowjetunion?
Aber in den Jahrzehnten nach Stalin brach sich der Geist eine Bahn, und die Propagandaphrasen und Sprüche wurden in der Sowjetunion zu einer Lachnummer, und haben so zum Untergang des Systems beigetragen. Die sowjetische Überheblichkeit und Selbstbeweihräucherung verschwanden unter den Hammerschlägen von Glasnost und Perestrojka in wenigen Jahren, als hätte es sie nie gegeben. Zeitgleich trat die „Weltmacht Sowjetunion“, die es wahrscheinlich in der realen Welt auch niemals gegeben hatte, von der Bühne ab. Sie war das Produkt der Propaganda, des Bluffs und der Angst des Westens. Nur so lässt sich der lautlose Abgang der „Weltmacht Sowjetunion“ erklären.
Die neue Staatsideologie: Russischer Imperialismus
Aber die wenigen Jahre von der Mitte der 1980er bis zur Mitte der 1990er Jahre waren offenbar nicht ausreichend, um die politische Mentalität Russlands nachhaltig zu verändern. Zwar ist der Marxismus/Leninismus mausetot. Aber an seine Stelle sind jene politischen Werte getreten, die schon zuvor stets im Hintergrund gelauert hatten und die jetzt freie Bahn erhielten: die Werte des russischen Imperialismus. Selbstverständlich bedürfen auch sie der Aufputschmittel der Propaganda: Einfachheit und millionenfache Wiederholung. Aber die Werte des russischen Imperialismus sind heute in Russland viel wirkmächtiger als der Marxismus/Leninismus in den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion gewesen war. Russland verfügt heute über eine solide staatliche Ideologie, die keineswegs ausschließlich auf Repressionen angewiesen ist. Kern dieser Ideologie sind die Überzeugung und der Wille, ein russisches Imperium wiederherzustellen.
Die Unterwerfung der Ukraine ist der unerlässliche erste Schritt in dieser Richtung. Denn ohne die Ukraine hat es niemals und wird es niemals ein russisches Imperium geben. Die Tatsache, dass der Westen imperiales Denken verlernt hat und es für obsolet und verwerflich hält, erleichtert es Russland, sich wie in sowjetischer Zeit als einzigartig und überlegen wahrzunehmen und mit Brutalität und Unerbittlichkeit diesen Krieg zu führen. Deshalb glauben die Russen Putins Lügen.
Prof. em. Dr. Gerhard Simon ist Historiker und einer der renommiertesten Ukraine-Experten in Deutschland. Er war Leitender Wissenschaftlicher Direktor des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln und lehrte an den Universitäten Köln und Bonn.
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