Konferenzbericht „Russland neu Denken”: Eindämmung, Abschreckung, Regimewechsel?

Der brutale Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt auch die schärfsten Kritiker von Putins Regime, ihre Haltung zur russischen Gesellschaft und Politik zu überdenken. Der Krieg stellt nicht nur die bisherigen Beziehungen des Westens zu Russland in Frage, er ist auch eine Herausforderung für die internationale Ordnung. Das Zentrum Liberale Moderne hat eine Expertengruppe ins Leben gerufen, die dringend benötigtes neues Denken in der Russlandpolitik befördern soll. Das erste Treffen des „Expert Network Russia“ fand kürzlich in Vilnius statt.
Das Netzwerk ist eine Plattform für Politikansätze und Analyse, sagte LibMod-Gründer Ralf Fücks zu Beginn der Auftaktveranstaltung „Rethinking Russia“ (Russland neu denken) im litauischen Parlament. Ein Hauptaspekt der eintägigen Veranstaltung war die Frage, wie das Putin-Regime richtig einzuschätzen ist. Denn anders sei keine vernünftige Russlandpolitik möglich, sagte Fücks.
„Über die Zukunft Russlands zu sprechen ist ein bisschen wie über ein Leben nach dem Tod zu diskutieren,“ so begann einer der Panel-Beiträge über künftige Szenarien und die daraus resultierenden Lehren für die westliche Politik. Soll die weiterhin versuchen, diejenigen in Russland die Hand zu reichen, die Teil der westlichen Wertegemeinschaft sein wollen? Oder soll sich der Westen auf Abschreckung und Eindämmung beschränken und Russland nicht mehr als normales Land sondern als Imperium, ja als Gefängnis behandeln? Kann man vielleicht beides kombinieren?
Die Gegensätze zwischen den Befürwortern des Handreichens – die Russland-Optimisten – und Anhängern einer Politik der Eindämmung – die Russland-Skeptiker – wurden zwar in der Diskussion sichtbar, aber niemand konnte überzeugend darlegen, dass beide inkompatibel sind – schließlich richtet sich das Eindämmen gegen das Regime, während die ausgestreckte Hand der demokratischen Zivilgesellschaft gilt.
Ruf nach Unterstützung für ein anderes Russland
So argumentierten die Skeptiker, dass viele russische Liberale in Wahrheit gar nicht liberal seien, sondern Demokratie nur im Austausch gegen Konsumgüter (Jeans in den 1990er Jahren, iPhones in den 2020ern) unterstützten. Die Optimisten hielten dagegen, dass sich die russische Gesellschaft in den vergangenen 20 Jahren wirklich modernisiert hat. Zwar sei eine schnelle Demokratisierung unwahrscheinlich, aber das Land dürfe nicht als prädestinierte Autokratie gesehen werden. Denn es gebe ein „anderes Russland“, das derzeit massiv vom Kreml unterdrückt werde: „Dieses andere Russland braucht unsere Unterstützung“, betonten sie.
Wie aber kann Russland geholfen werden, damit das Land von imperialer Nostalgie hin zu demokratischen Werten findet? Denn diese Werte seien kein Privileg des Westens – die Menschen in Russland, so hieß es, hätten genauso viel Recht an eine demokratische Zukunft zu glauben wie ihre Nachbarn in der Ukraine und Litauen. Allerdings sind diejenigen in Europa, die an ein demokratisches Russland glauben, derzeit stark in der Minderheit. Das ist ein Erfolg für Putin, der viele im Westen überzeugt hat, dass Russland eine „wilde“, undemokratische Nation sei. Ein strategischer Irrtum, wie einige meinten: „Demokratie ist die einzige Medizin für die russische Tragödie und für Sicherheit in Europa“ hieß es.
Natürlich muss sich solcher Idealismus Kritik gefallen lassen. Wie soll der Westen eine demokratische Wende in Russland erreichen, wenn die meisten liberalen Eliten das Land verlassen haben? Auch hier sind sich Optimisten und Skeptiker nicht einig. Die Optimisten sind der Meinung, dass noch eine ganze Menge liberaler Russen im Land sind, nur hört man von ihnen nichts, wegen Unterdrückung und Zensur. Die Skeptiker dagegen argumentieren, dass genau diejenigen, die eine Wende schaffen könnten, weggegangen sind, und die daheim gebliebenen dazu ganz überwiegend nicht in der Lage sind. „Welche Mittel hat der Westen denn, um Putin zu stürzen?“ lautete eine provokante Frage. Die Antwort folgte auf dem Fuße: In Westdeutschland 1945 hätten die Besatzungsmächte die Bevölkerung demokratisiert. Eine Besatzung Russlands sei ja wohl nicht in Sicht.
Doch es gab auch praktische Vorschläge. Der vielleicht bedeutendste wären smarte Sanktionen: Sie sollen das Sanktionsregime effizienter gestalten, indem Betroffenen ein Ausweg angeboten wird. Ziel von solch „smarten Sanktionen“ ist, einen Keil in die Moskauer Eliten zu treiben: Wer bereit ist, sich loszusagen, dem solle eine Aufhebung der Maßnahmen signalisiert werden. Mit der jetzigen starren Regelung bleiben auch eigentlich anständige Leute im Regime „eingeschlossen“, so das Argument.
Optimisten hin, Skeptiker her – in einem wesentlichen Punkt sind sich alle einig: Für einen Wandel in Russland ist ein Sieg der Ukraine in diesem Krieg eine wesentliche Voraussetzung. Mehr noch – eine erfolgreiche, demokratische Ukraine könnte ein wichtiger Magnet sein, um Russland vom Pfad des Autoritarismus abzubringen. Manche sehen eine historische Chance, ähnlich wie beim Mauerfall von 1989 und fordern, dass „die Kremlmauer von Autokratie, Kleptokratie und Aggression“ eingerissen wird.
Gesucht: Eine neue europäische Sicherheitsarchitektur
Wie der Krieg ausgeht, wird nicht nur für Russland, sondern auch für Europa entscheidend sein. Und auch hier gibt es unterschiedliche Szenarien für die künftige Sicherheitsarchitektur, über die in Vilnius diskutiert wurde. Dabei wurden Forderungen laut, bestehende Strukturen radikal umzubauen.
So solle die Ukraine in die NATO aufgenommen werden, um Russland von einem neuerlichen Angriff abzuschrecken. Die bisher vor allem in Deutschland populäre Prinzip, Russland dürfe nicht provoziert werden, sei hinfällig, hieß es. Denn wenn die Geschichte etwas lehrt, dann, dass Moskau von westlichem Nichthandeln eher provoziert wurde als von westlichem Handeln.
Und wieder wurde die Wichtigkeit einer erfolgreichen Ukraine heraufbeschworen – innerhalb der EU. Denn wenn das Land ein so erfolgreiches Unionsmitglied wie Polen und die baltischen Staaten werde, wäre das ein wichtiges Signal nach Moskau – dass es einen besseren Weg gibt als Kleptokratie und Aggression, so das Argument.
Die Ukraine hat im Juni EU-Kandidatenstatus erhalten – aber das Land hat bis zu einer Mitgliedschaft natürlich noch einiges vor sich. Die Europäer sollten Kyjiw dabei gemeinsam zur Seite stehen, und nicht einzeln – denn für die Ukraine geht es um Leben und Tod, lautete ein weiterer Beitrag.
„Putin verliert da, wo man es es am wenigsten erwartet“
Und dann gab es auch noch gute Nachrichten, als über russische Einflussnahme und Kreml-Verbündete in Europa gesprochen wurde. Viele Parteien, die in der Vergangenheit Putin unterstützt haben, seien angesichts des Krieges umgeschwenkt und würden nun eher Kyjiw unterstützen, wie etwa das Rassemblement National der französischen Rechtspopulistin Marine le Pen. Putin verliert da an Unterstützung, wo man es am wenigsten erwartet hat, war hier die überraschende Schlussfolgerung.
Was natürlich nicht heißt, dass der Westen nachlassen darf. Außer der bekannten Versuche russischer Einflussnahme gibt es ja noch eine Reihe anderer bedrohliche Spieler in Europa. Der jüngste Versuch des chinesischen Staatsunternehmens Cosco in den Hamburger Hafen einzusteigen, gefährde kritische Infrastruktur. Das Ziel der europäischen Politik müsse sein, künftige Nord Stream 2s überall in Europa zu verhindern, so die Forderung eines Teilnehmers aus Deutschland.
Am Ende waren wieder alle Augen auf die Ukraine gerichtet. Der Ausgang des Krieges wird für Europa und Russland entscheidend sein, so Fücks. Aber auch darüber hinaus seien die Herausforderungen für die westlichen Gesellschaften riesig, die ihre Demokratien unbedingt stärken und erneuern müssten. „Make Democracy great again!“ schloss er.
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