Frankreichs späte Selbstkritik an seiner „Russland-zuerst”-Politik
llusionen, Irrglauben und Gehörlosen-Dialoge: In einem schonungslosen Papier seziert die prominente Russland-Expertin Marie Mendras die bisherige Pariser Politik gegenüber Putin. Und nennt sechs Bedingungen für eine Neuausrichtung.
Was haben wir falsch gemacht? Diese ernste Frage müssen sich die Regierungen von Frankreich, Deutschland und anderen europäischen Ländern stellen. Wenn die Ukraine von der russischen Besatzung befreit ist und die Menschen dort mit dem Wiederaufbau ihres Landes und ihrer Existenzen beginnen können, wird es höchste Zeit, dass wir das europäische Sicherheitskonzept von Grund auf neu denken. Wir müssen eine gemeinsame Strategie entwickeln, wie man mit einem besiegten Staat und einer mutlosen Gesellschaft in der Russischen Föderation umgehen soll. Nur wenn wir frühere Fehleinschätzungen und gescheiterte politische Linien gründlich analysieren, können wir ein starkes, umfassendes Sicherheitssystem für Europa und darüber hinaus aufbauen.
Eigensinnige Illusionen auf Kosten der europäischen Sicherheit
Wie Ulrich Speck in seinem Paper schreibt, gab es in Deutschland die Illusion, Russland „modernisieren“ zu können. Frankreichs Illusion war es, mit Russland eine neue Sicherheitsarchitektur zu bauen, die ein Gegengewicht zu den mächtigen USA bilden und Frankreichs Führungsstellung in Europas stärken sollte. Beide Ziele waren unerreichbar und gingen von dem Irrglauben aus, dass Wladimir Putin dieselben Interessen verfolgte.
Diese französische Position war ambivalent und widersprüchlich: Einerseits hielt man an einem aufreibenden Zermürbungsdialog mit Putin fest, um die eigenen Wirtschaftsinteressen und Energieimporte zu schützen, andererseits verhängte man immer mehr Sanktionen, was gerade von Wirtschaftsvertretern kritisiert wurde. Diese Kombination führte dazu, dass der Versuch einer smarten Abschreckung krachend scheiterte. Überdies haben wir Putins fixe Ideen und Widersprüchlichkeiten damit nur noch verstärkt. Der russische Präsident betrachtete Europa als schwache Vasallen der USA und zugleich als teuflischen Gegner, der Russlands Macht und „Sphäre privilegierter Interessen“ unmittelbar bedroht.
Paris hat Putins Paranoia noch verschärft, da er die meisten franzöischen Botschaften als Manipulation oder Zeichen von Schwäche missverstand. Als der russische Präsident 2019–20 von Emmanuel Macron gedrängt wurde, Gespräche mit seinem ukrainischen Amtskollegen zu führen und einen Kompromiss für den Donbass zu finden, verstärkte dies lediglich Putins Annahme, dass Paris bereit sei, die Besetzung und Kontrolle eines Teils der Ukraine durch Moskau zu akzeptieren. Auf das Treffen von Macron und Putin im Fort de Brégançon Ende August 2019 folgte am 9. Dezember das erfolglose Pariser Gipfeltreffen im Normandie-Format zum Minsker Abkommen. Im März-April 2021 baute Putin eine Drohkulisse auf und ließ 100.000 Soldaten und schweres Geschütz an der Grenze zur Ukraine auffahren.[1]
Der französische Präsident hat Putins militärisches Machtstreben im Ausland nie offen kritisiert. Er hegt aber einen starken Groll gegen die Söldnertruppe „Wagner“ im frankophonen Afrika, insbesondere in Mali, wo „Wagner“ die französisch geführte Antiterror-Operation Barkhane verdrängt haben. In einem Interview, das Macron am 19. November 2022 in Tunesien gab, prangerte er ein „räuberisches Projekt“ an, das Desinformation mit bewaffneten Störaktionen vereine: „Gewisse Mächte, die ihren Einfluss in Afrika vergrößern wollen, tun dies, um Frankreich und der französischen Sprache zu schaden, um Zweifel zu säen, aber vor allem, um bestimmte Interessen zu verfolgen.“ Das französische Einflussgebiet in Afrika schrumpft seit Jahrzehnten.
Dessen ungeachtet wollte Macron den Kremlchef dazu bringen, dass dieser den Krieg nicht auf die gesamte Ukraine ausweitet. Vor und nach dem russischen Einmarsch am 24. Februar 2022 investierte der französische Präsident viel Zeit und Autorität in ausführliche „Gehörlosen-Dialoge“ mit Putin. Selbst nach den entsetzlichen Verbrechen in Butscha und anderen Städten, der Zerstörung von Krankenhäusern und Wohngebäuden setzte Macron weiter darauf, die Kommunikation mit dem Kreml nicht abreißen zu lassen, und zögerte einen Besuch in Kyjiw hinaus.
Am 10. und 11. März 2022 lud Macron seine europäischen Partner ins Versailler Schloss ein. Die Abschlusserklärung erwähnt weder Waffenlieferungen an die Ukraine noch einen möglichen EU-Kandidatenstatus des Landes. Macron schlug stattdessen eine „Wartezimmer“-Alternative vor – eine Europäische Politische Gemeinschaft aus den 27 EU-Ländern und 14 Nachbarstaaten, darunter auch die Türkei.[2] Wenige Wochen später machte er eine Kehrtwende und reiste Mitte Juni mit Bundeskanzler Olaf Scholz, dem italienischen Regierungschef Mario Draghi und dem rumänischen Präsidenten Klaus Johannis in die Ukraine. Am 23. Juni, eine Woche vor dem Ende der französischen EU-Ratspräsidentschaft, stimmten alle 27 Mitgliedstaaten für die Ernennung der Ukraine und der Republik Moldau zu Beitrittskandidaten. Etwa zur selben Zeit bekräftigten Finnland und Schweden ihren Beitrittswillen zur NATO.
Macrons Weg
Frankreichs ambivalente Position lässt sich nicht einfach mit Druck aus der Wirtschaft, aus konservativen Medien oder dem Drängen bestimmter politischer Kreise nach einer „Rückkehr zur Normalität“ (retour à la normale) erklären. Schon im März 2022 war klar, dass es mit Putins Leuten, von denen einige bereits im Verdacht standen, für Kriegsverbrechen verantwortlich zu sein, nie wieder business as usual geben kann. Die meisten ausländischen Unternehmen hatten Russland da bereits den Rücken gekehrt, der akademische Austausch lag komplett auf Eis und die meisten europäischen und amerikanischen Expats waren nach Hause zurückgekehrt.
Möglicherweise liefern die französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen eine Erklärung für Macrons Zickzack-Kurs. Am 24. April wurde er zwar in der Stichwahl gegen Marine Le Pen wiedergewählt, doch zwei Wochen vorher hatten 55 Prozent der Wähler ihre Stimme Putin-freundlichen Kandidaten gegeben.[3] Am 16. Juni wurde eine neue Nationalversammlung gewählt, in der das Parteienbündnis des Präsidenten seine Mehrheit verlor.
Gefragt, ob er weiterhin auf Putin zugehen wolle, antwortete Macron in einem Fernsehinterview Mitte Oktober 2022, dass die Zeit kommen werde, um „an einem Tisch zu sitzen“ und im Beisein der Ukraine mit Russland zu verhandeln. Doch das ist ein Widerspruch in sich, denn Präsident Wolodymyr Selenskyj hat seine Position klar formuliert: Friedensverhandlungen wird es erst mit einer neuen russischen Regierung geben, wenn die Ukraine vollständig befreit ist und Vorschläge für Reparationszahlungen auf dem Tisch liegen. Eine Woche zuvor in Prag hatte sich der französische Präsident noch positiver zu einer umfassenden Unterstützung der Ukraine durch die europäischen Verbündeten bis zur Niederlage des Aggressors geäußert. Das zeigt, wie unterschiedlich die Botschaften sind, die nach außen und an das heimische Publikum gesendet werden. Im Élysée-Palast geht man – zu Recht oder zu Unrecht – davon aus, dass die Franzosen unbedingt ein Ende des Krieges wollen, selbst wenn die Ukraine teilweise besetzt bliebe.
Macron bleibt bei seiner „Ja, aber“-Haltung, die der von Olaf Scholz ähnelt. Von September bis November 2022 lautete die offizielle Botschaft aus Berlin und Paris im Kern: „Ja, die Ukraine muss den Krieg gewinnen und ihre territoriale Integrität zurückerhalten, aber Russland darf nicht gedemütigt werden. Ja, die Europäer müssen die Ukraine in ihrem Kampf unterstützen, aber wir können nicht unsere nationale Verteidigung schwächen, indem wir zu viele eigene Waffen abgeben.“ Dabei haben beide Regierungen die Lieferung von Waffen hochgefahren, die von der ukrainischen Armee zur Verteidigung und zum Schutz der Bevölkerung und Infrastruktur dringend benötigt werden. Während der kriegsbedingte Ausnahmezustand das mehrdeutige politische Narrativ überwiegt, beherrscht dieses weiterhin die Innenpolitik und die mediale Berichterstattung.
Warum sollte man einem autoritären, korrupten Staatschef trauen, der längst bewiesen hat, dass er grundlos Kriege führt? Schließlich wurde Russland weder von Tschetschenen noch von Georgiern, Ukrainern oder NATO-Truppen bedroht.
„Natürlich trauen wir Putin nicht“, lautete stets die Antwort off the record aus dem Élysée-Palast, wenn Journalisten und Experten nachhakten. Aber Emmanuel Macron blieb zuversichtlich, dass er mit dem Autokraten im Kreml einen Deal machen könne. Er ignorierte Putins Unfähigkeit zuzuhören, zu verhandeln oder rational zu denken. Es dauerte gut sechs Monate, bis die französische Regierung von „Putins verbrecherischem Krieg“ sprach statt von der „russischen Aggression“. Damit war der langersehnte erste Schritt hin zur Einsicht in Putins rechtswidrige Schurkenmethoden und verbrecherische Ziele getan.
Am 30. November 2022 verabschiedete die Nationalversammlung eine historische Resolution, die Frankreichs Position klar umreißt: Die Abgeordenten verurteilen Russland wegen des Akts der Aggression und rufen zur Unterstützung der Ukraine auf. [4] Am selben Tag erklärte das Außenministerium in Paris, dass Frankreich die internationalen Bemühungen zur Schaffung eines Sondertribunals gegen Russland unterstützt. [5]
Warum dauerte diese Einsicht so lange? Aus dem Kreml waren schon viele Zeichen von realitätsfernen, in Racherhetorik verpackten Angeboten gekommen. Die politische und militärische Eskalation im Laufe des Jahres 2021 erreichte ihren Höhepunkt in den aggressiven „Verträgen“, die Moskau den USA und der NATO im Dezember 2021 unterbreitete. Darin wurde die sofortige Demilitarisierung der osteuropäischen Mitgliedstaaten und die verbindliche Zusage, dass die Ukraine niemals der NATO beitreten würde, gefordert. Schon damals warnten die USA ihre europäischen Verbündeten, dass Russland sich aktiv auf einen Krieg vorbereite.
Deutschlands und Frankreichs nachsichtige Haltung verleitete Putin zu dem Glauben, er könne die beiden Länder zum Narren halten, weil sie um jeden Preis eine Einigung mit ihm finden wollten. Und er erzählte seine Lüge jedem, der sie hören wollte: „Russland wird die Ukraine nicht angreifen.“ Nicht wenige französische Entscheidungsträger wollten gerne glauben, dass die Ukraine Teil von Russlands Welt, Kultur, Raum, Sprache und „historischer postsowjetischer Sphäre“ sei. Es war bequem für uns Europäer, die Sicherheit und das Wohlergehen von Ukrainern, Belarussen, Armeniern und Georgiern außer Acht zu lassen. Nicht direkt einmischen, lautete das Motto. Damit sollte den Kreml-Politikern die Furcht vor unserem Einfluss in ihren früheren Republiken genommen werden.
Hinzu kommt, dass viele einflussreiche französische Politiker, „Experten“, Journalisten und Unternehmer die Ukraine mit ihren 45 Millionen Einwohnern lange Zeit lediglich als vielversprechendes Land sahen, das Europa von großem Nutzen sein kann, wenn es gemeinsam mit seinen westlichen Nachbarn den Weg zu vollständiger Unabhängigkeit, Good Governance und wirtschaftlicher Prosperität beschreitet. Keine Partei des politischen Spektrums hat ernsthaft Kritik am Umgang mit Putins Russland geübt. Aber die Ansichten ändern sich. Während einer Debatte in der französischen Nationalversammlung am 11. Oktober 2022 unterstützte die linke Partei La France insoumise die Forderung der Grünen, Hilfen und Waffenlieferungen an die Ukraine aufzustocken.
Die gute Nachricht ist, dass die französische Öffentlichkeit die Ukraine überwiegend unterstützt und Geflüchtete willkommen heißt. Macrons ambivalente Politik trifft dort auf wenig Verständnis, denn sie führt zur Verunsicherung darüber, was von Moskau zu erwarten ist und was geschehen würde, wenn Teile der Ukraine dauerhaft unter russischer Besatzung, beziehungsweise Annexion blieben.
Alte Gewohnheiten, neue Probleme
Der Krieg gegen die Ukraine hat das instabile Gleichgewicht in der französischen Strategie gegenüber Putins Russland zerstört. Rückblickend ist es bestürzend, dass wir erst aufgewacht sind, als ein großes Land mitten in Europa auf voller Fläche angegriffen wurde und zivile Gebäude, Schulen, Krankenhäuser und lebensnotwendige Infrastruktur systematisch zerstört wurden.
Die französischen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy waren „Freunde von Wladimir“ und Gäste auf seinen Geburtstagspartys. Präsident Hollande hatte zwar keine unangemessen persönliche Beziehungen zum Kremlchef, leitete jedoch auch keine grundlegende Neugestaltung der Beziehungen zwischen Paris und Moskau ein, obwohl das dringend nötig gewesen wäre. Emmanuel Macron schließlich redete sich ein, dass Putin ein vernünftiger Mann sei, der einer pragmatischen Politik des Dialogs nicht im Wege stehen würde.
Jahrelang stand die „Wirtschaft zuerst“-Haltung von Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien und anderen Regierungen einer „Politik und Sicherheit zuerst“-Position Großbritanniens, der baltischen Staaten, Finnlands und Polens gegenüber. Unter letzteren gab es einen einfachen Konsens: „Putins Diktatur hat zum Krieg geführt, und Krieg bedeutet mehr Willkürherrschaft und Sonderrechte für die Siloviki und für Putin selbst.“ Ihr strategisches Verständnis und ihre Sichtweise haben sich als absolut richtig erwiesen.
Seit Anfang 2021 ringt der französische Präsident mit der Russland-Ukraine-Thematik, und das zu einer Zeit, in der viele Franzosen unzufrieden mit seiner Präsidentschaft waren und seine Partei nur niedrige Zustimmungswerte erhielt. In einer Analyse für das Zentrum Liberale Moderne habe ich 2020 beschrieben, welche Vorteile sich Paris trotz des gefährlichen Charakters des Putin-Regimes fälschlicherweise von einer engen Beziehung zu Moskau versprach. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten in Frankreich haben oft ein Faible für die Geschichte einstiger Reiche, große Staaten, starke Führer, militärische Macht und nationale „Ausstrahlung“ (rayonnement), also die Reichweite der französischen Sprache, Kultur, mode de vie und etatistischer Traditionen. Diese Einstellung hat den Blick für harsche Realitäten und drohende Gefahren getrübt. Hinzu kommt ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber den Ambitionen der USA und dem amerikanisch-britischen liberalen Konzept des „Westens“.
Seit den 1950er Jahren träumen französische Präsidenten davon, dass ihr Land die Mitte zwischen Ost und West bildet, als „ausgleichenden Akteur“ zwischen zwei Supermächten. Zur Europäischen Gemeinschaft waren sie positiver eingestellt als zur NATO und deren militärischen Strukturen. Moskau kam den französischen Vorbehalten in den 1960er und 70ern nur allzu gern entgegen, um einen Keil zwischen die transatlantischen Verbündeten zu treiben. Darüber hinaus hat Paris nach wie vor ein Problem mit seinem Status als Atommacht und Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Diese dominierende Stellung fördert eine gewisse Blindheit in Bezug auf Frankreichs tatsächlichen Platz in Europa und der Welt – das Land ist in Europa nicht mehr primus inter pares, und führt zu einer kontraproduktiven Haltung, die die Wahrung des eigenen Status über die Suche nach neuem Denken und Reformen stellt.
Wie andere Atommächte auch ist Frankreich dringenden Fragen nach einer Neubewertung der Verteidigungspolitik und der atomaren Abschreckung im Rahmen der nationalen und internationalen Sicherheit aus dem Weg gegangen. Man scheut sich, das Thema Sicherheit neu zu denken, das heute alle Bereiche menschlichen Existenz und den Schutz des Staates vor Umsturz und Cyberattacken, wirtschaftlicher und Energie-Erpressung, Ungleichheiten und Migrationsbewegungen, Korruption und transnationaler Kriminalität, tyrannischen und revanchistischen Regimen, Söldnern und illegalen Armeen umfasst. Vielleicht hat Russlands scheller Absturz in eine militarisierte Diktatur dazu geführt, dass wir an überholten Modellen und Strategien festgehalten haben.
Der Schatten von Minsk
Selbst nach der Annexion der Krim und der Besetzung des östlichen Donbas-Gebiets durch russisch kontrollierte Kräfte hat die französische Regierung nicht das volle Ausmaß der radikalen Regelverletzung erfasst, die zu einer gefährlichen Unsicherheitslage in der Ukraine und Europa führte. Französische Politiker brauchten eine Weile, um zu akzeptieren, dass Frankreich nur noch eine Mittelmacht ist, die eng mit anderen europäischen Staaten zusammenarbeiten muss. Die russischen Interventionen auf der Krim und im Donbass 2014 brachten Frankreich dazu, die toxische Rolle Moskaus in den ehemaligen Sowjetrepubliken anzuerkennen. Endlich räumte Paris ein, dass die Sicherheit der osteuropäischen Gesellschaften nicht dem Kreml anvertraut werden könne und dass EU und NATO umfassende Verantwortung bei der Unterstützung von demokratischen, souveränen Staaten in der Ukraine, Belarus, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan übernehmen müssten. Bis dahin haben wir die Sicherheit dieser Mittelstaaten, die von Moskau gesteuerten Umsturzversuchen und militärischen Interventionen schutzlos ausgesetzt sind, vernachlässigt. Es mangelte an klugen Analysen, die den Weg der baltischen Staaten, Polens und anderer Länder nachzeichneten – Länder, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer der brutalen sowjetischen Herrschaft wurden und die 1999, 2004 und 2007 zur Zufriedenheit aller Partner der NATO und der EU beitraten.
Frankreich, das nicht so abhängig von russischem Gas war wie Deutschland, Litauen, die Slowakei oder Ungarn, hätte es weitaus besser machen können. Es hätte sich für eine systematische Erneuerung der europäischen Energiestrategie und, über die reine Gasbeschaffung hinaus, für eine umfassende Revision der europäischen Sicherheit angesichts eines unberechenbaren russischen Regimes einsetzen können. 2017 hielt Emmanuel Macron an der Sorbonne eine inspirierende Rede zur Zukunft Europas. Leider forderten danach innenpolitische Themen ihren Tribut, und der französische Präsident kümmerte sich mehr um kurzfristige nationale Probleme als um gemeinsame europäische Herausforderungen.
Auch die Haltung der USA zum Minsker Abkommen war nicht gerade hilfreich: Sie führte zu Spannungen zwischen den Verbündeten, insbesondere zwischen Warschau, Paris und Berlin. Es sei daran erinnert, dass Washington 2014 nicht an den Donbas-Verhandlungen teilnehmen wollte und Deutschland und Frankreich die OSZE in Minsk vertraten.
Der amerikanische Faktor
Mehrere US-Regierungen konnten die Meinung der Öffentlichkeit und der herrschenden Kreise in Frankreich zur amerikanischen Politik nicht beruhigen. Die Trump-Jahre waren katastrophal für die Nordatlantische Allianz, die Beziehungen zwischen der EU und den USA und für weitere Schlüsselthemen wie der Klimawandel und der Kampf gegen den Terrorismus. Doch auch die Präsidentschaft von Barack Obama führte nicht zu einer Verbesserung, da sich die Europäer wie zweitrangige Verbündete behandelt fühlten. Auch die amerikanische Methode, Probleme entsprechend nationaler Relevanz zu „priorisieren“, haben eine einheitliche westliche Politik gegenüber Russland, China und dem Nahen Osten erschwert. Die Europäer konnten sich nicht einfach auf China konzentrieren und Russland aufs Abstellgleis schieben. Und auch bei Washingtons nicht immer gradlinigem Engagement in – bzw Rückzug aus – Kriegsgebieten kamen sie nicht hinterher. In Frankreich und vermutlich in anderen europäischen Ländern ist man der Meinung, dass das US-Debakel in Afghanistan 2021 Moskaus Kriegslust gestärkt hat. Eine von Putins Schwächen ist sein Glaube an die Illusion, dass Washington ihn als großen Staatsmann an der Spitze einer neuen Supermacht auf Augenhöhe mit den USA bestätigen würde. Neben Deutschland und Frankreich haben auch die letzten US-Regierungen eine Mitverantwortung für Putins idiotische Militärpläne seit dem Nachspiel des Georgien-Kriegs und der Intervention in Assads verbrecherischen Krieg gegen das syrische Volk.
Gemeinsames Vorgehen für Frieden und Sicherheit in der Ukraine
Die Agenden von Frankreich, Deutschland oder den USA zeigen, dass die Politik von Nationalstaaten immer mehr an Bedeutung verliert. Nationale und persönliche Eigenheiten haben wir hinter uns gelassen. Wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiner nach seinem Kyjiw-Besuch im Oktober gesagt hat, würde ein Scheinfriede Putins Hunger nur noch vergrößern. Damit sprach er öffentlich aus, was alle europäischen Politiker denken. Bei diesem Thema herrscht Einigkeit: In Europa wird Krieg geführt, und über 50 Staaten unterstützen das ukrainische Volk in seinem Widerstand gegen den Aggressor und in seinen Wiederaufbaubemühungen. Die Niederlage der russischen Armee und Söldner ist sicher – die Frage ist nur, wann und wie sie besiegt werden und wie wir uns auf das Ende des Krieges und ein Leben danach vorbereiten können.
Unsere gemeinsame Position muss klar und strukturiert präsentiert werden, damit sich die Fehler des Minsker Protokolls nicht wiederholen. Wir werden künftig keine Grauzone der Unsicherheit zwischen uns und Russland mehr tolerieren. Die Souveränität der Ukraine, der Republik Moldau und anderer Mittelstaaten darf nicht mehr so geschwächt sein, dass der Kreml sie in Geiselhaft nehmen kann.
Erstens vertrauen wir auf die Strategie und die Forderungen von Präsident Selenskyj. Er ist ein hervorragender Staatsmann, und seine Vorgehensweise hat sich als richtig erwiesen. Die Ukraine handelt geschlossen.
Zweitens muss das russische Militär die besetzten und unrechtmäßig annektierten Gebiete räumen und einer bedingungslosen Waffenruhe zustimmen.
Drittens akzeptiert die ukrainische Seite ein Verhandlungsformat und eine Agenda, unter anderem für die Frage der von Moskau zu zahlenden Reparationen.
Viertens übernimmt die russische Seite die Verantwortung für den Beginn und Fortgang des Krieges und erkennt eine unabhängige internationale Untersuchung der verübten Kriegsverbrechen an.
Fünftens liegt der Fokus auf dem Wiederaufbau der Ukraine und der Rückkehr der Geflüchteten. Die EU setzt sich in enger Kooperation mit Kyjiw, Moldau (und Georgien) für ein erfolgreiches Beitrittsverfahren ein und unterstützt die Menschen in Belarus und Armenien in ihrem Kampf für eine demokratische Regierung. Die NATO startet den Beitrittsprozess für die Ukraine.
Sechstens müssen sich die Europäer und ihre transatlantischen Partner auf eine komplizierte Nachkriegskrise und Übergangszeit in der Russischen Föderation einstellen. Europa wird erst dann sicher sein, wenn Russland ein Rechtsstaat ist. Wir brauchen ein abgestimmtes Vorgehen in Bezug auf die russischen alternativen Eliten und die russische Gesellschaft, sowohl innerhalb als auch außerhalb Russlands.
[1] Marie Mendras, « Chantage à la guerre en Ukraine », Esprit, Mai 2021.
[2] Am ersten Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft, das am 6. Oktober 2022 in Prag stattfand, nahmen einschließlich der Türkei 44 Staaten teil. Die politische Bedeutung der Staatengemeinschaft war zu diesem Zeitpunkt bereits geschwunden, da die EU die Ukraine und Moldau im Juni 2022 zu Beitrittskandidaten ernannt hatte.
[3] Marie Mendras, « Voter avec la tête à l’endroit », Desk Russie Newsletter, 15. April 2022, https://desk-russie.eu/2022/04/15/voter-avec-la-tete-a-lendroit.html
[4] «Résolution no 39, affirmant le soutien de l’Assemblée nationale à l’Ukraine et condamnant la guerre menée par la Fédération de Russie», vom 30. November 2022. Enthaltungen gab es aus den Reihen der rechtspopulistischen Rassemblement National sowie der linkspopulistischen La France insoumise. Aus der letzteren Fraktion gab es auch eine Gegenstimme.
[5] Erklärung des Außenministeriums: https://www.diplomatie.gouv.fr/en/country-files/ukraine/news/article/ukraine-special-tribunal-on-russian-crimes-of-aggression-30-nov-22
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung der Autorin wider.
Deutsche Übersetzung von Hanne Wiesner