Frank­reichs späte Selbst­kri­tik an seiner „Russland-zuerst”-Politik

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Prä­si­dent Macron bei seinem letzten Versuch, Putin umzu­stim­men, Kreml, 7. Februar 2022. Foto IMAGO

llu­sio­nen, Irr­glau­ben und Gehör­lo­sen-Dialoge: In einem scho­nungs­lo­sen Papier seziert die pro­mi­nente Russ­land-Exper­tin Marie Mendras die bis­he­rige Pariser Politik gegen­über Putin. Und nennt sechs Bedin­gun­gen für eine Neuausrichtung.

Dieses Paper ist im Rahmen des Pro­jekts „Expert Network Russia“ erschie­nen. Dort finden Sie auch das eng­li­sche Ori­gi­nal!

Was haben wir falsch gemacht? Diese ernste Frage müssen sich die Regie­run­gen von Frank­reich, Deutsch­land und anderen euro­päi­schen Ländern stellen. Wenn die Ukraine von der rus­si­schen Besat­zung befreit ist und die Men­schen dort mit dem Wie­der­auf­bau ihres Landes und ihrer Exis­ten­zen begin­nen können, wird es höchste Zeit, dass wir das euro­päi­sche Sicher­heits­kon­zept von Grund auf neu denken. Wir müssen eine gemein­same Stra­te­gie ent­wi­ckeln, wie man mit einem besieg­ten Staat und einer mut­lo­sen Gesell­schaft in der Rus­si­schen Föde­ra­tion umgehen soll. Nur wenn wir frühere Fehl­ein­schät­zun­gen und geschei­terte poli­ti­sche Linien gründ­lich ana­ly­sie­ren, können wir ein starkes, umfas­sen­des Sicher­heits­sys­tem für Europa und darüber hinaus aufbauen.

Portrait von Marie Mendras

Marie Mendras ist Pro­fes­so­rin an der Pariser Hoch­schule Sci­en­ces Po und eine der füh­ren­den Russ­land-Exper­ten Frankreichs.

Eigen­sin­nige Illu­sio­nen auf Kosten der euro­päi­schen Sicherheit

Wie Ulrich Speck in seinem Paper schreibt, gab es in Deutsch­land die Illu­sion, Russ­land „moder­ni­sie­ren“ zu können. Frank­reichs Illu­sion war es, mit Russ­land eine neue Sicher­heits­ar­chi­tek­tur zu bauen, die ein Gegen­ge­wicht zu den mäch­ti­gen USA bilden und Frank­reichs Füh­rungs­stel­lung in Europas stärken sollte. Beide Ziele waren uner­reich­bar und gingen von dem Irr­glau­ben aus, dass Wla­di­mir Putin die­sel­ben Inter­es­sen verfolgte.

Diese fran­zö­si­sche Posi­tion war ambi­va­lent und wider­sprüch­lich: Einer­seits hielt man an einem auf­rei­ben­den Zer­mür­bungs­dia­log mit Putin fest, um die eigenen Wirt­schafts­in­ter­es­sen und Ener­gie­im­porte zu schüt­zen, ande­rer­seits ver­hängte man immer mehr Sank­tio­nen, was gerade von Wirt­schafts­ver­tre­tern kri­ti­siert wurde. Diese Kom­bi­na­tion führte dazu, dass der Versuch einer smarten Abschre­ckung kra­chend schei­terte. Über­dies haben wir Putins fixe Ideen und Wider­sprüch­lich­kei­ten damit nur noch ver­stärkt. Der rus­si­sche Prä­si­dent betrach­tete Europa als schwa­che Vasal­len der USA und zugleich als teuf­li­schen Gegner, der Russ­lands Macht und „Sphäre pri­vi­le­gier­ter Inter­es­sen“ unmit­tel­bar bedroht.

Paris hat Putins Para­noia noch ver­schärft, da er die meisten fran­zöi­schen Bot­schaf­ten als Mani­pu­la­tion oder Zeichen von Schwä­che miss­ver­stand. Als der rus­si­sche Prä­si­dent 2019–20 von Emma­nuel Macron gedrängt wurde, Gesprä­che mit seinem ukrai­ni­schen Amts­kol­le­gen zu führen und einen Kom­pro­miss für den Donbass zu finden, ver­stärkte dies ledig­lich Putins Annahme, dass Paris bereit sei, die Beset­zung und Kon­trolle eines Teils der Ukraine durch Moskau zu akzep­tie­ren. Auf das Treffen von Macron und Putin im Fort de Bré­gan­çon Ende August 2019 folgte am 9. Dezem­ber das erfolg­lose Pariser Gip­fel­tref­fen im Nor­man­die-Format zum Minsker Abkom­men. Im März-April 2021 baute Putin eine Droh­ku­lisse auf und ließ 100.000 Sol­da­ten und schwe­res Geschütz an der Grenze zur Ukraine auf­fah­ren.[1]

Der fran­zö­si­sche Prä­si­dent hat Putins mili­tä­ri­sches Macht­stre­ben im Ausland nie offen kri­ti­siert. Er hegt aber einen starken Groll gegen die Söld­ner­truppe „Wagner“ im fran­ko­pho­nen Afrika, ins­be­son­dere in Mali, wo „Wagner“ die fran­zö­sisch geführte Anti­ter­ror-Ope­ra­tion Barkhane ver­drängt haben. In einem Inter­view, das Macron am 19. Novem­ber 2022 in Tune­sien gab, pran­gerte er ein „räu­be­ri­sches Projekt“ an, das Des­in­for­ma­tion mit bewaff­ne­ten Stör­ak­tio­nen vereine: „Gewisse Mächte, die ihren Ein­fluss in Afrika ver­grö­ßern wollen, tun dies, um Frank­reich und der fran­zö­si­schen Sprache zu schaden, um Zweifel zu säen, aber vor allem, um bestimmte Inter­es­sen zu ver­fol­gen.“ Das fran­zö­si­sche Ein­fluss­ge­biet in Afrika schrumpft seit Jahrzehnten.

Dessen unge­ach­tet wollte Macron den Kreml­chef dazu bringen, dass dieser den Krieg nicht auf die gesamte Ukraine aus­wei­tet. Vor und nach dem rus­si­schen Ein­marsch am 24. Februar 2022 inves­tierte der fran­zö­si­sche Prä­si­dent viel Zeit und Auto­ri­tät in aus­führ­li­che „Gehör­lo­sen-Dialoge“ mit Putin. Selbst nach den ent­setz­li­chen Ver­bre­chen in Butscha und anderen Städten, der Zer­stö­rung von Kran­ken­häu­sern und Wohn­ge­bäu­den setzte Macron weiter darauf, die Kom­mu­ni­ka­tion mit dem Kreml nicht abrei­ßen zu lassen, und zögerte einen Besuch in Kyjiw hinaus.

Am 10. und 11. März 2022 lud Macron seine euro­päi­schen Partner ins Ver­sailler Schloss ein. Die Abschluss­erklä­rung erwähnt weder Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukraine noch einen mög­li­chen EU-Kan­di­da­ten­sta­tus des Landes. Macron schlug statt­des­sen eine „Wartezimmer“-Alternative vor – eine Euro­päi­sche Poli­ti­sche Gemein­schaft aus den 27 EU-Ländern und 14 Nach­bar­staa­ten, dar­un­ter auch die Türkei.[2] Wenige Wochen später machte er eine Kehrt­wende und reiste Mitte Juni mit Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz, dem ita­lie­ni­schen Regie­rungs­chef Mario Draghi und dem rumä­ni­schen Prä­si­den­ten Klaus Johan­nis in die Ukraine. Am 23. Juni, eine Woche vor dem Ende der fran­zö­si­schen EU-Rats­prä­si­dent­schaft, stimm­ten alle 27 Mit­glied­staa­ten für die Ernen­nung der Ukraine und der Repu­blik Moldau zu Bei­tritts­kan­di­da­ten. Etwa zur selben Zeit bekräf­tig­ten Finn­land und Schwe­den ihren Bei­tritts­wil­len zur NATO.

Macrons Weg

Frank­reichs ambi­va­lente Posi­tion lässt sich nicht einfach mit Druck aus der Wirt­schaft, aus kon­ser­va­ti­ven Medien oder dem Drängen bestimm­ter poli­ti­scher Kreise nach einer „Rück­kehr zur Nor­ma­li­tät“ (retour à la normale) erklä­ren. Schon im März 2022 war klar, dass es mit Putins Leuten, von denen einige bereits im Ver­dacht standen, für Kriegs­ver­bre­chen ver­ant­wort­lich zu sein, nie wieder busi­ness as usual geben kann. Die meisten aus­län­di­schen Unter­neh­men hatten Russ­land da bereits den Rücken gekehrt, der aka­de­mi­sche Aus­tausch lag kom­plett auf Eis und die meisten euro­päi­schen und ame­ri­ka­ni­schen Expats waren nach Hause zurückgekehrt.

Mög­li­cher­weise liefern die fran­zö­si­schen Prä­si­dent­schafts- und Par­la­ments­wah­len eine Erklä­rung für Macrons Zick­zack-Kurs. Am 24. April wurde er zwar in der Stich­wahl gegen Marine Le Pen wie­der­ge­wählt, doch zwei Wochen vorher hatten 55 Prozent der Wähler ihre Stimme Putin-freund­li­chen Kan­di­da­ten gegeben.[3] Am 16. Juni wurde eine neue Natio­nal­ver­samm­lung gewählt, in der das Par­tei­en­bünd­nis des Prä­si­den­ten seine Mehr­heit verlor.

Gefragt, ob er wei­ter­hin auf Putin zugehen wolle, ant­wor­tete Macron in einem Fern­seh­in­ter­view Mitte Oktober 2022, dass die Zeit kommen werde, um „an einem Tisch zu sitzen“ und im Beisein der Ukraine mit Russ­land zu ver­han­deln. Doch das ist ein Wider­spruch in sich, denn Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj hat seine Posi­tion klar for­mu­liert: Frie­dens­ver­hand­lun­gen wird es erst mit einer neuen rus­si­schen Regie­rung geben, wenn die Ukraine voll­stän­dig befreit ist und Vor­schläge für Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen auf dem Tisch liegen. Eine Woche zuvor in Prag hatte sich der fran­zö­si­sche Prä­si­dent noch posi­ti­ver zu einer umfas­sen­den Unter­stüt­zung der Ukraine durch die euro­päi­schen Ver­bün­de­ten bis zur Nie­der­lage des Aggres­sors geäu­ßert. Das zeigt, wie unter­schied­lich die Bot­schaf­ten sind, die nach außen und an das hei­mi­sche Publi­kum gesen­det werden. Im Élysée-Palast geht man – zu Recht oder zu Unrecht – davon aus, dass die Fran­zo­sen unbe­dingt ein Ende des Krieges wollen, selbst wenn die Ukraine teil­weise besetzt bliebe.

Macron bleibt bei seiner „Ja, aber“-Haltung, die der von Olaf Scholz ähnelt. Von Sep­tem­ber bis Novem­ber 2022 lautete die offi­zi­elle Bot­schaft aus Berlin und Paris im Kern: „Ja, die Ukraine muss den Krieg gewin­nen und ihre ter­ri­to­riale Inte­gri­tät zurück­er­hal­ten, aber Russ­land darf nicht gede­mü­tigt werden. Ja, die Euro­päer müssen die Ukraine in ihrem Kampf unter­stüt­zen, aber wir können nicht unsere natio­nale Ver­tei­di­gung schwä­chen, indem wir zu viele eigene Waffen abgeben.“ Dabei haben beide Regie­run­gen die Lie­fe­rung von Waffen hoch­ge­fah­ren, die von der ukrai­ni­schen Armee zur Ver­tei­di­gung und zum Schutz der Bevöl­ke­rung und Infra­struk­tur drin­gend benö­tigt werden. Während der kriegs­be­dingte Aus­nah­me­zu­stand das mehr­deu­tige poli­ti­sche Nar­ra­tiv über­wiegt, beherrscht dieses wei­ter­hin die Innen­po­li­tik und die mediale Berichterstattung.

Warum sollte man einem auto­ri­tä­ren, kor­rup­ten Staats­chef trauen, der längst bewie­sen hat, dass er grund­los Kriege führt? Schließ­lich wurde Russ­land weder von Tsche­tsche­nen noch von Geor­gi­ern, Ukrai­nern oder NATO-Truppen bedroht.

„Natür­lich trauen wir Putin nicht“, lautete stets die Antwort off the record aus dem Élysée-Palast, wenn Jour­na­lis­ten und Exper­ten nach­hak­ten. Aber Emma­nuel Macron blieb zuver­sicht­lich, dass er mit dem Auto­kra­ten im Kreml einen Deal machen könne. Er igno­rierte Putins Unfä­hig­keit zuzu­hö­ren, zu ver­han­deln oder ratio­nal zu denken. Es dauerte gut sechs Monate, bis die fran­zö­si­sche Regie­rung von „Putins ver­bre­che­ri­schem Krieg“ sprach statt von der „rus­si­schen Aggres­sion“. Damit war der lang­ersehnte erste Schritt hin zur Ein­sicht in Putins rechts­wid­rige Schur­ken­me­tho­den und ver­bre­che­ri­sche Ziele getan.

Am 30. Novem­ber 2022 ver­ab­schie­dete die Natio­nal­ver­samm­lung eine his­to­ri­sche Reso­lu­tion, die Frank­reichs Posi­tion klar umreißt: Die Abge­or­den­ten ver­ur­tei­len Russ­land wegen des Akts der Aggres­sion und rufen zur Unter­stüt­zung der Ukraine auf. [4] Am selben Tag erklärte das Außen­mi­nis­te­rium in Paris, dass Frank­reich die inter­na­tio­na­len Bemü­hun­gen zur Schaf­fung eines Son­der­tri­bu­nals gegen Russ­land unter­stützt. [5]

Warum dauerte diese Ein­sicht so lange? Aus dem Kreml waren schon viele Zeichen von rea­li­täts­fer­nen, in Racher­he­to­rik ver­pack­ten Ange­bo­ten gekom­men. Die poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Eska­la­tion im Laufe des Jahres 2021 erreichte ihren Höhe­punkt in den aggres­si­ven „Ver­trä­gen“, die Moskau den USA und der NATO im Dezem­ber 2021 unter­brei­tete. Darin wurde die sofor­tige Demi­li­ta­ri­sie­rung der ost­eu­ro­päi­schen Mit­glied­staa­ten und die ver­bind­li­che Zusage, dass die Ukraine niemals der NATO bei­tre­ten würde, gefor­dert. Schon damals warnten die USA ihre euro­päi­schen Ver­bün­de­ten, dass Russ­land sich aktiv auf einen Krieg vorbereite.

Deutsch­lands und Frank­reichs nach­sich­tige Haltung ver­lei­tete Putin zu dem Glauben, er könne die beiden Länder zum Narren halten, weil sie um jeden Preis eine Eini­gung mit ihm finden wollten. Und er erzählte seine Lüge jedem, der sie hören wollte: „Russ­land wird die Ukraine nicht angrei­fen.“ Nicht wenige fran­zö­si­sche Ent­schei­dungs­trä­ger wollten gerne glauben, dass die Ukraine Teil von Russ­lands Welt, Kultur, Raum, Sprache und „his­to­ri­scher post­so­wje­ti­scher Sphäre“ sei. Es war bequem für uns Euro­päer, die Sicher­heit und das Wohl­erge­hen von Ukrai­nern, Bela­rus­sen, Arme­ni­ern und Geor­gi­ern außer Acht zu lassen. Nicht direkt ein­mi­schen, lautete das Motto. Damit sollte den Kreml-Poli­ti­kern die Furcht vor unserem Ein­fluss in ihren frü­he­ren Repu­bli­ken genom­men werden.

Hinzu kommt, dass viele ein­fluss­rei­che fran­zö­si­sche Poli­ti­ker, „Exper­ten“, Jour­na­lis­ten und Unter­neh­mer die Ukraine mit ihren 45 Mil­lio­nen Ein­woh­nern lange Zeit ledig­lich als viel­ver­spre­chen­des Land sahen, das Europa von großem Nutzen sein kann, wenn es gemein­sam mit seinen west­li­chen Nach­barn den Weg zu voll­stän­di­ger Unab­hän­gig­keit, Good Gover­nance und wirt­schaft­li­cher Pro­spe­ri­tät beschrei­tet. Keine Partei des poli­ti­schen Spek­trums hat ernst­haft Kritik am Umgang mit Putins Russ­land geübt. Aber die Ansich­ten ändern sich. Während einer Debatte in der fran­zö­si­schen Natio­nal­ver­samm­lung am 11. Oktober 2022 unter­stützte die linke Partei La France inso­u­mise die For­de­rung der Grünen, Hilfen und Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukraine aufzustocken.

Die gute Nach­richt ist, dass die fran­zö­si­sche Öffent­lich­keit die Ukraine über­wie­gend unter­stützt und Geflüch­tete will­kom­men heißt. Macrons ambi­va­lente Politik trifft dort auf wenig Ver­ständ­nis, denn sie führt zur Ver­un­si­che­rung darüber, was von Moskau zu erwar­ten ist und was gesche­hen würde, wenn Teile der Ukraine dau­er­haft unter rus­si­scher Besat­zung, bezie­hungs­weise Anne­xion blieben.

Alte Gewohn­hei­ten, neue Probleme

Der Krieg gegen die Ukraine hat das insta­bile Gleich­ge­wicht in der fran­zö­si­schen Stra­te­gie gegen­über Putins Russ­land zer­stört. Rück­bli­ckend ist es bestür­zend, dass wir erst auf­ge­wacht sind, als ein großes Land mitten in Europa auf voller Fläche ange­grif­fen wurde und zivile Gebäude, Schulen, Kran­ken­häu­ser und lebens­not­wen­dige Infra­struk­tur sys­te­ma­tisch zer­stört wurden.

Die fran­zö­si­schen Prä­si­den­ten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy waren „Freunde von Wla­di­mir“ und Gäste auf seinen Geburts­tags­par­tys. Prä­si­dent Hol­lande hatte zwar keine unan­ge­mes­sen per­sön­li­che Bezie­hun­gen zum Kreml­chef, leitete jedoch auch keine grund­le­gende Neu­ge­stal­tung der Bezie­hun­gen zwi­schen Paris und Moskau ein, obwohl das drin­gend nötig gewesen wäre. Emma­nuel Macron schließ­lich redete sich ein, dass Putin ein ver­nünf­ti­ger Mann sei, der einer prag­ma­ti­schen Politik des Dialogs nicht im Wege stehen würde.

Jah­re­lang stand die „Wirt­schaft zuerst“-Haltung von Deutsch­land, Frank­reich, Italien, Belgien und anderen Regie­run­gen einer „Politik und Sicher­heit zuerst“-Position Groß­bri­tan­ni­ens, der bal­ti­schen Staaten, Finn­lands und Polens gegen­über. Unter letz­te­ren gab es einen ein­fa­chen Konsens: „Putins Dik­ta­tur hat zum Krieg geführt, und Krieg bedeu­tet mehr Will­kür­herr­schaft und Son­der­rechte für die Silo­viki und für Putin selbst.“ Ihr stra­te­gi­sches Ver­ständ­nis und ihre Sicht­weise haben sich als absolut richtig erwiesen.

Seit Anfang 2021 ringt der fran­zö­si­sche Prä­si­dent mit der Russ­land-Ukraine-The­ma­tik, und das zu einer Zeit, in der viele Fran­zo­sen unzu­frie­den mit seiner Prä­si­dent­schaft waren und seine Partei nur nied­rige Zustim­mungs­werte erhielt. In einer Analyse für das Zentrum Libe­rale Moderne habe ich 2020 beschrie­ben, welche Vor­teile sich Paris trotz des gefähr­li­chen Cha­rak­ters des Putin-Regimes fälsch­li­cher­weise von einer engen Bezie­hung zu Moskau ver­sprach. Die poli­ti­schen und wirt­schaft­li­chen Eliten in Frank­reich haben oft ein Faible für die Geschichte eins­ti­ger Reiche, große Staaten, starke Führer, mili­tä­ri­sche Macht und natio­nale „Aus­strah­lung“ (ray­on­ne­ment), also die Reich­weite der fran­zö­si­schen Sprache, Kultur, mode de vie und eta­tis­ti­scher Tra­di­tio­nen. Diese Ein­stel­lung hat den Blick für harsche Rea­li­tä­ten und dro­hende Gefah­ren getrübt. Hinzu kommt ein tief­sit­zen­des Miss­trauen gegen­über den Ambi­tio­nen der USA und dem ame­ri­ka­nisch-bri­ti­schen libe­ra­len Konzept des „Westens“.

Seit den 1950er Jahren träumen fran­zö­si­sche Prä­si­den­ten davon, dass ihr Land die Mitte zwi­schen Ost und West bildet, als „aus­glei­chen­den Akteur“ zwi­schen zwei Super­mäch­ten. Zur Euro­päi­schen Gemein­schaft waren sie posi­ti­ver ein­ge­stellt als zur NATO und deren mili­tä­ri­schen Struk­tu­ren. Moskau kam den fran­zö­si­schen Vor­be­hal­ten in den 1960er und 70ern nur allzu gern ent­ge­gen, um einen Keil zwi­schen die trans­at­lan­ti­schen Ver­bün­de­ten zu treiben. Darüber hinaus hat Paris nach wie vor ein Problem mit seinem Status als Atom­macht und Stän­di­ges Mit­glied im Sicher­heits­rat der Ver­ein­ten Natio­nen. Diese domi­nie­rende Stel­lung fördert eine gewisse Blind­heit in Bezug auf Frank­reichs tat­säch­li­chen Platz in Europa und der Welt – das Land ist in Europa nicht mehr primus inter pares, und führt zu einer kon­tra­pro­duk­ti­ven Haltung, die die Wahrung des eigenen Status über die Suche nach neuem Denken und Refor­men stellt.

Wie andere Atom­mächte auch ist Frank­reich drin­gen­den Fragen nach einer Neu­be­wer­tung der Ver­tei­di­gungs­po­li­tik und der ato­ma­ren Abschre­ckung im Rahmen der natio­na­len und inter­na­tio­na­len Sicher­heit aus dem Weg gegan­gen. Man scheut sich, das Thema Sicher­heit neu zu denken, das heute alle Berei­che mensch­li­chen Exis­tenz und den Schutz des Staates vor Umsturz und Cyber­at­ta­cken, wirt­schaft­li­cher und Energie-Erpres­sung, Ungleich­hei­ten und Migra­ti­ons­be­we­gun­gen, Kor­rup­tion und trans­na­tio­na­ler Kri­mi­na­li­tät, tyran­ni­schen und revan­chis­ti­schen Regimen, Söld­nern und ille­ga­len Armeen umfasst. Viel­leicht hat Russ­lands schel­ler Absturz in eine mili­ta­ri­sierte Dik­ta­tur dazu geführt, dass wir an über­hol­ten Model­len und Stra­te­gien fest­ge­hal­ten haben.

Der Schat­ten von Minsk

Selbst nach der Anne­xion der Krim und der Beset­zung des öst­li­chen Donbas-Gebiets durch rus­sisch kon­trol­lierte Kräfte hat die fran­zö­si­sche Regie­rung nicht das volle Ausmaß der radi­ka­len Regel­ver­let­zung erfasst, die zu einer gefähr­li­chen Unsi­cher­heits­lage in der Ukraine und Europa führte. Fran­zö­si­sche Poli­ti­ker brauch­ten eine Weile, um zu akzep­tie­ren, dass Frank­reich nur noch eine Mit­tel­macht ist, die eng mit anderen euro­päi­schen Staaten zusam­men­ar­bei­ten muss. Die rus­si­schen Inter­ven­tio­nen auf der Krim und im Donbass 2014 brach­ten Frank­reich dazu, die toxi­sche Rolle Moskaus in den ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken anzu­er­ken­nen. Endlich räumte Paris ein, dass die Sicher­heit der ost­eu­ro­päi­schen Gesell­schaf­ten nicht dem Kreml anver­traut werden könne und dass EU und NATO umfas­sende Ver­ant­wor­tung bei der Unter­stüt­zung von demo­kra­ti­schen, sou­ve­rä­nen Staaten in der Ukraine, Belarus, Moldau, Geor­gien, Arme­nien und Aser­bai­dschan über­neh­men müssten. Bis dahin haben wir die Sicher­heit dieser Mit­tel­staa­ten, die von Moskau gesteu­er­ten Umsturz­ver­su­chen und mili­tä­ri­schen Inter­ven­tio­nen schutz­los aus­ge­setzt sind, ver­nach­läs­sigt. Es man­gelte an klugen Ana­ly­sen, die den Weg der bal­ti­schen Staaten, Polens und anderer Länder nach­zeich­ne­ten – Länder, die im und nach dem Zweiten Welt­krieg Opfer der bru­ta­len sowje­ti­schen Herr­schaft wurden und die 1999, 2004 und 2007 zur Zufrie­den­heit aller Partner der NATO und der EU beitraten.

Frank­reich, das nicht so abhän­gig von rus­si­schem Gas war wie Deutsch­land, Litauen, die Slo­wa­kei oder Ungarn, hätte es weitaus besser machen können. Es hätte sich für eine sys­te­ma­ti­sche Erneue­rung der euro­päi­schen Ener­gie­stra­te­gie und, über die reine Gas­be­schaf­fung hinaus, für eine umfas­sende Revi­sion der euro­päi­schen Sicher­heit ange­sichts eines unbe­re­chen­ba­ren rus­si­schen Regimes ein­set­zen können. 2017 hielt Emma­nuel Macron an der Sor­bonne eine inspi­rie­rende Rede zur Zukunft Europas. Leider for­der­ten danach innen­po­li­ti­sche Themen ihren Tribut, und der fran­zö­si­sche Prä­si­dent küm­merte sich mehr um kurz­fris­tige natio­nale Pro­bleme als um gemein­same euro­päi­sche Herausforderungen.

Auch die Haltung der USA zum Minsker Abkom­men war nicht gerade hilf­reich: Sie führte zu Span­nun­gen zwi­schen den Ver­bün­de­ten, ins­be­son­dere zwi­schen War­schau, Paris und Berlin. Es sei daran erin­nert, dass Washing­ton 2014 nicht an den Donbas-Ver­hand­lun­gen teil­neh­men wollte und Deutsch­land und Frank­reich die OSZE in Minsk vertraten.

Der ame­ri­ka­ni­sche Faktor

Mehrere US-Regie­run­gen konnten die Meinung der Öffent­lich­keit und der herr­schen­den Kreise in Frank­reich zur ame­ri­ka­ni­schen Politik nicht beru­hi­gen. Die Trump-Jahre waren kata­stro­phal für die Nord­at­lan­ti­sche Allianz, die Bezie­hun­gen zwi­schen der EU und den USA und für weitere Schlüs­sel­the­men wie der Kli­ma­wan­del und der Kampf gegen den Ter­ro­ris­mus. Doch auch die Prä­si­dent­schaft von Barack Obama führte nicht zu einer Ver­bes­se­rung, da sich die Euro­päer wie zweit­ran­gige Ver­bün­dete behan­delt fühlten. Auch die ame­ri­ka­ni­sche Methode, Pro­bleme ent­spre­chend natio­na­ler Rele­vanz zu „prio­ri­sie­ren“, haben eine ein­heit­li­che west­li­che Politik gegen­über Russ­land, China und dem Nahen Osten erschwert. Die Euro­päer konnten sich nicht einfach auf China kon­zen­trie­ren und Russ­land aufs Abstell­gleis schie­ben. Und auch bei Washing­tons nicht immer grad­li­ni­gem Enga­ge­ment in – bzw Rückzug aus – Kriegs­ge­bie­ten kamen sie nicht hin­ter­her. In Frank­reich und ver­mut­lich in anderen euro­päi­schen Ländern ist man der Meinung, dass das US-Debakel in Afgha­ni­stan 2021 Moskaus Kriegs­lust gestärkt hat. Eine von Putins Schwä­chen ist sein Glaube an die Illu­sion, dass Washing­ton ihn als großen Staats­mann an der Spitze einer neuen Super­macht auf Augen­höhe mit den USA bestä­ti­gen würde. Neben Deutsch­land und Frank­reich haben auch die letzten US-Regie­run­gen eine Mit­ver­ant­wor­tung für Putins idio­ti­sche Mili­tär­pläne seit dem Nach­spiel des Geor­gien-Kriegs und der Inter­ven­tion in Assads ver­bre­che­ri­schen Krieg gegen das syri­sche Volk.

Gemein­sa­mes Vor­ge­hen für Frieden und Sicher­heit in der Ukraine

Die Agenden von Frank­reich, Deutsch­land oder den USA zeigen, dass die Politik von Natio­nal­staa­ten immer mehr an Bedeu­tung ver­liert. Natio­nale und per­sön­li­che Eigen­hei­ten haben wir hinter uns gelas­sen. Wie Bun­des­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­ner nach seinem Kyjiw-Besuch im Oktober gesagt hat, würde ein Schein­friede Putins Hunger nur noch ver­grö­ßern. Damit sprach er öffent­lich aus, was alle euro­päi­schen Poli­ti­ker denken. Bei diesem Thema herrscht Einig­keit: In Europa wird Krieg geführt, und über 50 Staaten unter­stüt­zen das ukrai­ni­sche Volk in seinem Wider­stand gegen den Aggres­sor und in seinen Wie­der­auf­bau­be­mü­hun­gen. Die Nie­der­lage der rus­si­schen Armee und Söldner ist sicher – die Frage ist nur, wann und wie sie besiegt werden und wie wir uns auf das Ende des Krieges und ein Leben danach vor­be­rei­ten können.

Unsere gemein­same Posi­tion muss klar und struk­tu­riert prä­sen­tiert werden, damit sich die Fehler des Minsker Pro­to­kolls nicht wie­der­ho­len. Wir werden künftig keine Grau­zone der Unsi­cher­heit zwi­schen uns und Russ­land mehr tole­rie­ren. Die Sou­ve­rä­ni­tät der Ukraine, der Repu­blik Moldau und anderer Mit­tel­staa­ten darf nicht mehr so geschwächt sein, dass der Kreml sie in Gei­sel­haft nehmen kann.

Erstens ver­trauen wir auf die Stra­te­gie und die For­de­run­gen von Prä­si­dent Selen­skyj. Er ist ein her­vor­ra­gen­der Staats­mann, und seine Vor­ge­hens­weise hat sich als richtig erwie­sen. Die Ukraine handelt geschlossen.

Zwei­tens muss das rus­si­sche Militär die besetz­ten und unrecht­mä­ßig annek­tier­ten Gebiete räumen und einer bedin­gungs­lo­sen Waf­fen­ruhe zustimmen.

Drit­tens akzep­tiert die ukrai­ni­sche Seite ein Ver­hand­lungs­for­mat und eine Agenda, unter anderem für die Frage der von Moskau zu zah­len­den Reparationen.

Vier­tens über­nimmt die rus­si­sche Seite die Ver­ant­wor­tung für den Beginn und Fort­gang des Krieges und erkennt eine unab­hän­gige inter­na­tio­nale Unter­su­chung der ver­üb­ten Kriegs­ver­bre­chen an.

Fünf­tens liegt der Fokus auf dem Wie­der­auf­bau der Ukraine und der Rück­kehr der Geflüch­te­ten. Die EU setzt sich in enger Koope­ra­tion mit Kyjiw, Moldau (und Geor­gien) für ein erfolg­rei­ches Bei­tritts­ver­fah­ren ein und unter­stützt die Men­schen in Belarus und Arme­nien in ihrem Kampf für eine demo­kra­ti­sche Regie­rung. Die NATO startet den Bei­tritts­pro­zess für die Ukraine.

Sechs­tens müssen sich die Euro­päer und ihre trans­at­lan­ti­schen Partner auf eine kom­pli­zierte Nach­kriegs­krise und Über­gangs­zeit in der Rus­si­schen Föde­ra­tion ein­stel­len. Europa wird erst dann sicher sein, wenn Russ­land ein Rechts­staat ist. Wir brau­chen ein abge­stimm­tes Vor­ge­hen in Bezug auf die rus­si­schen alter­na­ti­ven Eliten und die rus­si­sche Gesell­schaft, sowohl inner­halb als auch außer­halb Russlands.

 

[1] Marie Mendras, « Chan­tage à la guerre en Ukraine », Esprit, Mai 2021.

[2] Am ersten Gip­fel­tref­fen der Euro­päi­schen Poli­ti­schen Gemein­schaft, das am 6. Oktober 2022 in Prag statt­fand, nahmen ein­schließ­lich der Türkei 44 Staaten teil. Die poli­ti­sche Bedeu­tung der Staa­ten­ge­mein­schaft war zu diesem Zeit­punkt bereits geschwun­den, da die EU die Ukraine und Moldau im Juni 2022 zu Bei­tritts­kan­di­da­ten ernannt hatte.

[3] Marie Mendras, « Voter avec la tête à l’endroit », Desk Russie News­let­ter, 15. April 2022, https://desk-russie.eu/2022/04/15/voter-avec-la-tete-a-lendroit.html

[4] «Réso­lu­tion no 39, affir­mant le soutien de l’Assem­blée natio­nale à l’Ukraine et con­dam­nant la guerre menée par la Fédé­ra­tion de Russie», vom 30. Novem­ber 2022. Ent­hal­tun­gen gab es aus den Reihen der rechts­po­pu­lis­ti­schen Ras­sem­blem­ent Natio­nal sowie der links­po­pu­lis­ti­schen La France inso­u­mise. Aus der letz­te­ren Frak­tion gab es auch eine Gegenstimme.

[5] Erklä­rung des Außen­mi­nis­te­ri­ums: https://www.diplomatie.gouv.fr/en/country-files/ukraine/news/article/ukraine-special-tribunal-on-russian-crimes-of-aggression-30-nov-22

Textende

Dieses Paper ist im Rahmen des vom Aus­wär­ti­gen Amt geför­der­ten Pro­jekts „Russ­land und der Westen“: Euro­päi­sche Nach­kriegs­ord­nung und die Zukunft der Bezie­hun­gen zu Russ­land“ erschie­nen. Sein Inhalt gibt die per­sön­li­che Meinung der Autorin wider.

Deut­sche Über­set­zung von Hanne Wiesner

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