Wie sich der Westen auf die Zeit nach Putin vor­be­rei­ten sollte

Foto: IMAGO

Russ­lands Zukunft hängt immer mehr von uns ab. Ein ent­schei­den­der Sieg der Ukraine lässt das Ende des Putin-Regimes näher­rü­cken. Der Westen muss auf diesen Moment vor­be­rei­tet sein, denn dann bietet sich kurze Zeit die Chance, dass Russ­land den Weg von Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit ein­schlägt, schreibt Maria Domańska.

Dieses Paper ist im Rahmen des Pro­jekts „Expert Network Russia“ erschie­nen. Dort finden Sie auch das eng­lische Ori­gi­nal!

Das PDF der zwei Paper zu Russ­lands Zukunft gibt es auf Deutsch und auf Eng­lisch. 

ZUSAMMENFASSUNG

Solange Russ­land ein auto­ri­tä­res Land ist, stellt es für den Westen eine exis­ten­ti­elle Bedro­hung dar. Seine unver­hoh­le­nen Ver­stöße gegen inter­na­tio­na­les Recht sind die direkte Folge man­geln­der Rechts­staat­lich­keit. Durch die Groß­of­fen­sive gegen die Ukraine, die Kriegs­ver­bre­chen und die atomare Erpres­sung ist Russ­land zu einem Schur­ken­staat gewor­den. Es ist daher im urei­gens­ten Inter­esse des Westens, das aktu­elle rus­si­sche Regie­rungs­mo­dell dau­er­haft zu demontieren.

Portrait von Maria Domanska

Maria Domańska ist Senior Fellow am Centre for Eastern Studies (OSW) in Warschau.

Wenn Putins Prä­si­dent­schaft endet, wird sich ein schma­les Zeit­fens­ter für poli­ti­schen Wandel öffnen. Ent­ge­gen ver­brei­te­ter Befürch­tun­gen könnte das Ende von Russ­lands auto­kra­ti­scher „Sta­bi­li­tät“ weniger eine Bedro­hung sein als eine Chance zu nach­hal­ti­gem Frieden in Europa. Wenn dieser Moment kommt, muss der Westen gerüs­tet sein. Bevor die neue rus­si­sche Führung ihre Macht festigt, sollten wir uns vor­ran­gig bemühen, das Zeit­fens­ter so lange wie möglich offen zu halten, damit es sich nicht erneut auf Jahr­zehnte schließt.

I. Krieg als Fort­füh­rung innen­po­li­ti­scher Ziele

Vieles spricht dafür, dass die rus­si­sche Führung vor allem aus innen­po­li­ti­schen Gründen in die Ukraine ein­mar­schiert ist und einen Stell­ver­tre­ter­krieg gegen die NATO begon­nen hat. Der Ein­marsch war als „Vor­wärts­ver­tei­di­gung“ gegen die – von der rus­si­schen Staats­pro­pa­ganda als „Nazis­mus“ bezeich­nete – libe­rale Demo­kra­tie geplant. Denn der Kreml befürch­tet, dass sich die Russen vom poli­ti­sche Empower­ment der ukrai­ni­schen Gesell­schaft anste­cken lassen. Die letzte Warnung für Moskau kam ver­mut­lich Ende 2021, als die Zustim­mungs­werte des Regimes in Umfra­gen absack­ten.[i] Damit war klar, dass eine weitere Erosion von Putins Legi­ti­ma­tion nur eine Frage der Zeit war. Der Krieg sollte sowohl die „patrio­ti­sche“ Hys­te­rie gegen­über äußeren und inneren Feinden als auch das Syndrom der „besieg­ten Festung“ ent­fa­chen und die Russen dazu bringen, sich um den Dik­ta­tor zu scharen. Die inter­na­tio­nale Iso­la­tion wurde als annehm­ba­rer Preis und zugleich als Chance gesehen, um die Dik­ta­tur durch eine bei­spiel­lose innen­po­li­ti­sche Repres­sion zu festigen.

Die Ukraine muss jetzt alle mili­tä­ri­sche Hilfe erhal­ten, die sie braucht, um den Aggres­sor zu besie­gen und die eigene ter­ri­to­riale Inte­gri­tät umge­hend wie­der­her­zu­stel­len. Außer­dem muss das Land ange­mes­sene Repa­ra­ti­ons­zah­lun­gen erhal­ten und die Gewiss­heit haben, dass rus­si­sche Kriegs­ver­bre­cher vor inter­na­tio­nale Kriegs­tri­bu­nale gestellt werden, egal wie lange das dauert. Eine Straf­frei­heit für Russ­land hätte kata­stro­phale Kon­se­quen­zen für die globale Sicher­heit und die wirt­schafts­po­li­ti­sche Ordnung der kom­men­den Jahr­zehnte: Das Risiko einer Ver­brei­tung von Kern­waf­fen würde steigen, und China würde seine Lehren aus dem Kon­flikt ziehen und sich durch Moskaus Sieg ermu­tigt fühlen, eigene revan­chis­ti­sche Bestre­bun­gen durchzusetzen.

Russ­lands de facto-Krieg gegen die NATO ist jedoch mit einem ukrai­ni­schen Sieg auf dem Schlacht­feld nicht vorüber. Solange anschlie­ßend nicht eine schwere Wirt­schafts­krise und das Regime gefähr­dende poli­ti­sche Ent­wick­lun­gen in Russ­land folgen, bedeu­tet eine mili­tä­ri­sche Nie­der­lage ledig­lich einen vor­über­ge­hen­den Rück­schlag für Moskaus Aggres­si­ons­kurs. Der revan­chis­ti­sche Cha­rak­ter des Puti­nis­mus macht eine fried­li­che Koexis­tenz mit Russ­land unmög­lich. Nur stän­dige (und kost­spie­lige) mili­tä­ri­sche Abschre­ckung könnte den rus­si­schen Mili­ta­ris­mus davon abhal­ten, erneut die Lan­des­gren­zen zu über­schrei­ten. Bemü­hun­gen aus Berlin oder Paris, einen „Kom­pro­miss“ mit Moskau zu finden, sind müßig. Die einzige „Sicher­heits­ga­ran­tie“, die Putin akzep­tiert, ist die Auf­lö­sung von NATO und EU als Zentren demo­kra­ti­scher Werte mit glo­ba­lem poli­ti­schen Einfluss.

Um in Zukunft massive Ver­wer­fun­gen in Europa zu ver­hin­dern, muss man an die Wurzel der Sicher­heits­be­dro­hung gehen. In Russ­lands gegen­wär­ti­gem poli­ti­schen System trifft eine kleine Gruppe unter Umge­hung jeg­li­cher Kon­trolle durch die brei­tere Elite und Gesell­schaft Ent­schei­dun­gen, die sich unmit­tel­bar auf die inter­na­tio­nale Sicher­heit aus­wir­ken. Daher ist neben einem Wechsel der poli­ti­schen Führung in Russ­land auch eine nach­hal­tige Demon­tage der auto­ri­tä­ren Herr­schaft von­nö­ten. Lang­fris­ti­ges Ziel des Westens sollte sein, dass Ent­schei­dungs­pro­zesse im Kreml im Ein­klang mit inter­na­tio­na­lem Recht stehen und von innen­po­li­ti­schen Akteu­ren (Inter­es­sen­grup­pen in den herr­schen­den Eliten und der Öffent­lich­keit) kon­trol­liert werden. Selbst wenn sich Russ­land west­li­chen Inter­es­sen und Zielen nie anschlie­ßen sollte, so müssen doch min­des­tens Aggres­sion und Kriegs­ver­bre­chen aus seinem außen­po­li­ti­schen Arsenal verschwinden.

Bis heute hat der Westen nie wirk­lich ver­sucht, Russ­land zu ver­än­dern, und seine Russ­land-Politik zudem auf drei irrigen Annah­men begrün­det: Erstens glaubte man, ein auto­ri­tä­res System durch wirt­schaft­li­che Zusam­men­ar­beit beein­flus­sen zu können. Tat­säch­lich hat das Geld aus dem Westen nur dem Regime gehol­fen, die wenigen Keime demo­kra­ti­scher Insti­tu­tio­nen, die in der Gor­bat­schow-Jelzin-Ära ent­stan­den sind, zu ersti­cken. Zwei­tens herrscht noch immer der Glaube, dass Russ­lands poli­ti­sche und stra­te­gi­sche Kultur, die auf Gewalt und Null­sum­men­spiel-Logik beruht, durch eine demo­kra­ti­sche Kultur des Dialogs neu gestal­tet werden kann. Drit­tens hat man die Men­schen­rechte in Russ­land nicht als essen­ti­ell für die euro­päi­sche Sta­bi­li­tät erach­tet – west­li­che Ent­schei­dungs­trä­ger haben den Zusam­men­hang von Innen- und Außen­po­li­tik sträf­lich unter­schätzt. Der Westen übt sich gegen­über Russ­land wei­ter­hin in Zurück­hal­tung, da eine „Ein­mi­schung in Russ­lands innen­po­li­ti­sche Ange­le­gen­hei­ten“ für viele west­li­che Exper­ten und Poli­ti­ker ein Tabu bleibt. Doch diese Denk­weise macht unsere Demo­kra­tien nur wehr­lo­ser gegen­über auto­ri­tä­ren Regimen in Europa und darüber hinaus.

Die Russen müssen den Puti­nis­mus als neo­im­pe­ria­les Projekt klar schei­tern sehen. 

Solange Putin an der Macht bleibt, kommt eine frei­wil­lige Kapi­tu­la­tion in der Ukraine oder eine poli­ti­sche Öffnung Russ­lands nicht in Frage. Doch man kann schon jetzt die nötigen Vor­be­rei­tun­gen für eine künf­tige Trans­for­ma­tion des Landes treffen. Zual­ler­erst müssen die Russen den Puti­nis­mus als neo­im­pe­ria­les Projekt klar schei­tern sehen. Nur eine rasche und voll­stän­dige mili­tä­ri­sche Nie­der­lage kann das poli­ti­sche Estab­lish­ment in Russ­land über­zeu­gen, dass Krieg kon­tra­pro­duk­tiv ist, sowohl als außen­po­li­ti­sches Instru­ment als auch als Mittel zum Aufbau innen­po­li­ti­scher Legi­ti­ma­tion. Zudem müssen die wirt­schaft­li­che und finan­zi­elle Basis des Regimes durch schär­fere Sank­tio­nen kon­se­quent geschwächt werden, damit die Regie­rung ihr Mili­tär­po­ten­tial nicht wieder auf­sto­cken kann. Momen­tan sind die Sank­tio­nen sowohl was Umfang als auch was Durch­set­zung angeht, höchst inkonsequent.

Zwei­tens muss die Ukraine so schnell wie möglich wie­der­auf­ge­baut werden. Das Land muss zu einer starken, sta­bi­len Demo­kra­tie und Markt­wirt­schaft inner­halb der EU und NATO werden. Ein NATO-Schutz­schirm über der Ukraine wird dafür sorgen, dass EU-Wie­der­auf­bau-Gelder nicht in einem wei­te­ren Angriffs­krieg ver­puf­fen. Eine EU-Mit­glied­schaft ermög­licht es, Aus­ga­ben zu kon­trol­lie­ren und mög­li­che Kor­rup­tion im großen Stil zu verhindern.

Schließ­lich sollten – als Teil einer breit ange­leg­ten, lang­fris­ti­gen Stra­te­gie gegen­über Moskau – auch die rus­si­sche Zivil­ge­sell­schaft und unab­hän­gige Exil-Medien umfas­send unter­stützt werden. Das ist ein wich­ti­ger Bau­stein, um poli­ti­schen Wandel in Russ­land und damit auch Sta­bi­li­tät in Europa zu errei­chen. Zwar können poli­ti­sche Emi­gran­ten alleine kaum den Zusam­men­bruch des Regimes her­bei­füh­ren, doch können sie nach ihrer Rück­kehr eine unschätz­bare ideo­lo­gisch-orga­ni­sa­to­ri­sche Basis für Refor­men bilden.

II. Chancen für die Zeit nach Putin

Das Ende von Putins Herr­schaft wird nicht auto­ma­tisch zu tief­grei­fen­den Ver­än­de­run­gen im poli­ti­schen System führen. Bisher hat sich der rus­si­sche Auto­ri­ta­ris­mus stets pro­blem­los repro­du­ziert, denn er ruht auf einem sta­bi­len Fun­da­ment: zum einen auf der patri­mo­nia­len Vor­stel­lung, dass der Staat das per­sön­li­che Eigen­tum des Herr­schers ist, zum anderen auf der Logik, dass bei sozio­po­li­ti­schen Inter­ak­tio­nen der Staat als Schutz­pa­tron wahr­ge­nom­men wird .[ii] Darüber hinaus zeigen Studien, dass der Über­gang von einer per­so­na­lis­ti­schen Herr­schaft (wie der in Russ­land) weniger wahr­schein­lich in eine Demo­kra­tie mündet als der Über­gang von anderen Formen auto­ri­tä­rer Staats­füh­rung.[iii]

Doch mit Putins Abgang wird sich ein schma­les Zeit­fens­ter für poli­ti­schen Wandel öffnen. Das Trauma des Krieges und seine nega­ti­ven wirt­schaft­li­chen und sozia­len Folgen können einen frucht­ba­ren Boden für wirt­schafts­po­li­ti­sche Refor­men bilden. Die neue Führung wird im Ver­gleich zur jet­zi­gen geschwächt und damit anfäl­li­ger für Druck von innen und außen sein. Das Streben nach einem bes­se­ren inter­na­tio­na­len Image, nach exter­ner Legi­ti­ma­tion und einer breiten Unter­stüt­zer­ba­sis im eigenen Land führt mög­li­cher­weise zu zwei qua­li­ta­ti­ven Rich­tungs­wech­seln: Erstens könnte Russ­land seine aggres­sive Außen­po­li­tik im Tausch gegen die Auf­he­bung von Sank­tio­nen zeit­wei­lig ein­stel­len; zwei­tens kommt es wahr­schein­lich zu einer Libe­ra­li­sie­rung der neo­to­ta­li­tä­ren Innen­po­li­tik. Letz­tere gründet sich heute auf Per­so­nen­kult, Mas­sen­in­dok­tri­na­tion, Kriegs­zen­sur und die Ein­mi­schung des Staates in das Pri­vat­le­ben seiner Bürger.

Auf­grund der schwe­ren Bürde der auto­ri­tä­ren Pfad­ab­hän­gig­keit ist eine Demo­kra­ti­sie­rung Russ­lands in abseh­ba­rer Zukunft unrea­lis­tisch. Doch plu­ra­lis­ti­sche Struk­tu­ren ließen sich in einem frühen Stadium relativ unkom­pli­ziert in das poli­ti­sche System inte­grie­ren. Bevor die neue Führung ihre Macht festigt, sollte sich der Westen vor­ran­gig bemühen, das Zeit­fens­ter für Refor­men weit auf­zu­sto­ßen und so lange wie möglich geöff­net zu halten, damit es sich nicht erneut auf Jahr­zehnte schließt. Dagegen ist natür­lich Wider­stand von den­je­ni­gen Gruppen zu erwar­ten, die unmit­tel­bar ver­ant­wort­lich für Kriegs­ver­bre­chen und poli­ti­sche Repres­sio­nen sind, so dass Refor­men ohne kon­stan­ten Druck von unten und außen lange ver­hin­dert werden können. Der Westen muss die Lehren aus den Fehlern ziehen, die er in den 1990er Jahren gegen­über Russ­land began­gen hat.

Unsere Mittel sollten auf trans­pa­ren­ten Ver­gleichs­grö­ßen beruhen und eine sorg­fäl­tig kon­zi­pierte Mischung aus Zucker­brot und Peit­sche ent­hal­ten. Die Ein­zel­hei­ten sollten vorher aus­dis­ku­tiert werden und die Inter­es­sen und Bedürf­nisse der gesam­ten rus­si­schen Gesell­schaft berück­sich­ti­gen. Die EU-und NATO-Staaten sollten eine neue rus­si­sche Regie­rung erst dann aner­ken­nen, wenn diese die Zensur und andere poli­tisch moti­vierte repres­sive Gesetze aufhebt, alle poli­ti­schen Gefan­ge­nen frei­lässt, unab­hän­gige Medien wieder erlaubt und freie Wahlen unter inter­na­tio­na­ler Beob­ach­tung zulässt. Wenn die neue Führung wei­ter­hin gegen Men­schen­rechte ver­stößt, sollten wir ein neues Sank­ti­ons­pa­ket schnü­ren. Die Kosten neuer Ein­schrän­kun­gen wären für den Westen unbe­deu­tend, da wir bis dahin nicht mehr abhän­gig von rus­si­schen Roh­stof­fen sind. Umge­kehrt sollte die erfolg­rei­che Umset­zung von Refor­men unter anderem zu einer schritt­wei­sen Libe­ra­li­sie­rung des Han­dels­sys­tems mit Russ­land führen. Lang­fris­tig sollte sich der Westen um den Aufbau eines insti­tu­tio­nel­len Rahmens bemühen, um eine kon­ti­nu­ier­li­che Trans­for­ma­tion sicher­zu­stel­len und die poli­ti­schen Frei­hei­ten der Oppo­si­tion und Zivil­ge­sell­schaft zu garantieren.

Die west­li­che Stra­te­gie sollte weniger auf eine bestimmte poli­ti­sche Figur (einen „neuen Jelzin”) setzen als viel­mehr auf flä­chen­de­cken­den Dialog mit allen poli­ti­schen Kräften – mit Aus­nahme der­je­ni­gen, die in Kriegs­ver­bre­chen und poli­ti­sche Repres­sio­nen ver­strickt sind. Außer­dem muss der Westen inten­sive Kon­takte zur breiten Öffent­lich­keit auf­bauen, auch als Puffer gegen mög­li­che künf­tige poli­ti­sche Spannungen.

Doch bevor sich die west­li­che Politik wandelt, müssen wir unser Denken über Russ­land revo­lu­tio­nie­ren. Dieses beruht häufig auf Ängsten und Irr­tü­mern, die von der Kreml-Pro­pa­ganda ver­brei­tet werden. Sie führen dazu, dass sich der Westen bei der mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zung für die Ukraine und in Dis­kus­sio­nen über die eigene Rolle bei der künf­ti­gen poli­ti­schen Trans­for­ma­tion Russ­lands zurückhält.

III. Der Fetisch vom sta­bi­len Russ­land: Nur eine schlaue Manipulation

Viele west­li­che Exper­ten und Poli­ti­ker äußern den fata­lis­ti­schen Glauben, dass der Unter­gang des rus­si­schen Auto­ri­ta­ris­mus zum Zusam­men­bruch des Staates und einer tief­grei­fen­den Desta­bi­li­sie­rung der gesam­ten Region führen würde. Doch zwi­schen Dik­ta­tur und gefähr­li­chem Chaos liegt ein breites Spek­trum an Optio­nen. Diese von vorn­her­ein aus­zu­schlie­ßen bedeu­tet, Putins Spiel mit­zu­spie­len, das seit Jahren funk­tio­niert. Es beruht auf dem Dogma, dass Putins Russ­land das einzig mög­li­che Russ­land ist; da es unmög­lich (oder zumin­dest extrem riskant) ist, dieses Russ­land zu ver­än­dern, hat man keine andere Wahl, als „prag­ma­ti­sche“ Deals mit dem aggres­si­ven Regime zu schlie­ßen. Den Preis für diese Art der Mani­pu­la­tion zahlen wir seit dem 24. Februar 2022. Die Ver­fech­ter der „Sta­bi­li­tät über alles”-Doktrin ver­ges­sen, dass Russ­land noch nie so „stabil“ war wie unmit­tel­bar vor dem Krieg, als das Regime die gesamte poli­ti­sche Oppo­si­tion zer­stört hatte. „Per­fekte Sta­bi­li­tät” (die eigent­lich künst­lich ist, siehe unten) war nötig, um den mili­tä­ri­schen Angriff auf die Ukraine zu starten.

Inner­halb des breiten Spek­trums an poli­ti­schen Sze­na­rien ist eine wirk­li­che Föde­ra­tion mit einer starken lokalen Selbst­ver­wal­tung das erstre­bens­wer­teste und rea­lis­tischste. Gewalt­lose Mecha­nis­men zur Benen­nung und Lösung von Kon­flik­ten können sich nur in einem dezen­tra­li­sier­ten poli­ti­schen System her­aus­bil­den. Eine Dezen­tra­li­sie­rung poli­ti­scher Macht und finan­zi­el­ler Res­sour­cen würden Russ­land also in Zukunft bere­chen­ba­rer, sta­bi­ler und rechts­staat­li­cher machen. Die rus­si­sche Öffent­lich­keit ver­bin­det „Demo­kra­tie” nicht unbe­dingt mit einem System von Werten, Insti­tu­tio­nen und Pro­zes­sen, doch Sozio­lo­gen, Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler und Bür­ger­recht­ler berich­ten seit Jahren, dass For­de­run­gen nach Selbst­ver­wal­tung und mehr Ver­ant­wort­lich­keit von Beamten auch in den Pro­vin­zen immer lauter werden.

Ein Empower­ment der Bevöl­ke­rung, ein­schließ­lich eth­ni­scher Min­der­hei­ten, auf lokaler und regio­na­ler Ebene ist ein wirk­sa­mer Impf­stoff gegen das Wie­der­auf­flam­men des rus­si­schen impe­ria­len Revan­chis­mus. Geheilt werden kann die Groß­manns­sucht, indem man den Bürgern die Mög­lich­keit gibt, ein „nor­ma­les“ Leben zu führen und sich als „Mit­ei­gen­tü­mer“ ihres Staates zu fühlen. Das geschieht durch freie Wahlen und eine breite öffent­li­che Dis­kus­sion darüber, wie die neue Ver­fas­sung aus­se­hen soll. Bislang hat der Westen Russ­lands eth­ni­sche und kul­tu­relle Viel­falt kom­plett igno­riert und dadurch eine kolo­nia­lis­ti­sche Men­ta­li­tät an den Tag gelegt (die bis 2022 in Form der „Russ­land zuerst“-Politik auch gegen­über der Ukraine üblich war).

Es gibt keine logi­sche Erklä­rung für die Befürch­tung, dass Insta­bi­li­tät auf­grund von poli­ti­schem Wandel, inter­nen Macht­kämp­fen der Elite oder nega­ti­ven wirt­schaft­li­chen Folgen der Refor­men zum Zusam­men­bruch des rus­si­schen Staates führen könnte. Keine der von eth­ni­schen Min­der­hei­ten bewohn­ten Regio­nen hat das Poten­tial zur Abspal­tung, denn erfolg­rei­che sepa­ra­tis­ti­sche Ten­den­zen werden durch einen oder mehrere Fak­to­ren ver­hin­dert. Erstens sind die regio­na­len Regie­run­gen weder legi­ti­miert noch ver­tre­ten sie wirk­lich die Inter­es­sen der lokalen Bevöl­ke­rung. Zwei­tens hat das Modell des „Staats­ka­pi­ta­lis­mus” dazu geführt, dass die regio­na­len Haus­halte finan­zi­ell massiv vom Haus­halt auf föde­ra­ler oder Bun­des­ebene abhän­gen und die Regio­nen wirt­schaft­lich unter­ent­wi­ckelt bleiben. Drit­tens grenzen die meisten dieser Regio­nen nicht direkt an andere Länder. Und schließ­lich bilden die nicht­rus­si­schen eth­ni­schen Gruppen oft eine Min­der­heit in ihrer eigenen „natio­na­len Repu­blik“, oder es fehlt ihnen an einer sta­bi­len his­to­ri­schen, kul­tu­rel­len und sprach­li­chen Iden­ti­tät, da diese vom föde­ra­len Zentrum gezielt unter­drückt worden ist. Auch wenn in den Regio­nen schon lange mos­kauf­eind­li­che Stim­mun­gen spürbar sind, bedeu­tet das noch keine sepa­ra­tis­ti­schen Bestre­bun­gen. Sie richten sich viel­mehr zumeist gegen die föde­rale Mos­kauer Büro­kra­tie mit ihren aus­ufern­den Macht­be­fug­nis­sen und ihrer Gier nach lokalen Res­sour­cen. Auch nega­tive Erin­ne­run­gen an den Zerfall der Sowjet­union wirken radi­ka­len Sze­na­rien ent­ge­gen.[iv] Para­do­xer­weise könnte die Furcht vor dem Zusam­men­bruch des Staates und das Gefühl, „Russ­land könnte weg sein“, die Reform­ten­den­zen zur Lösung föderal-regio­na­ler Span­nun­gen sogar bestärken.

Eine andere ver­brei­tete Sorge unter west­li­chen Exper­ten und Poli­ti­kern ist die, dass im Falle innen­po­li­ti­scher Unruhen jemand an die Macht kommen könnte, der „noch schlim­mer als Putin” ist. Es ist jedoch schwer vor­stell­bar, was noch schlim­mer sein soll als jemand, der mitten in Europa einen Angriffs­krieg ent­fes­selt sowie Russ­land in einen bru­ta­len, gesetz­lo­sen Schur­ken­staat ver­wan­delt hat und noch dazu auf atomare Erpres­sung zurück­greift, um einer Strafe zu ent­ge­hen. Nach dem Ende von Putins Prä­si­dent­schaft wird man sich wahr­schein­lich auf eine Kom­pro­miss­füh­rung einigen, damit sich die Lage beru­higt und nicht noch weiter ange­heizt wird. Die übli­chen Schreck­ge­spens­ter – wie der kampf­lus­tige Tsche­tsche­nen­füh­rer Ramsan Kadyrow, oder der berüch­tigte Pate der „Wagner“- Söld­ner­truppe, Jewgeni Pri­go­schin – sind eher Putins Werk­zeuge als auto­nome poli­ti­sche Akteure. Selbst wenn sie ver­su­chen sollten, sich mit ihren Pri­vat­ar­meen am Macht­spiel zu betei­li­gen, werden sie keine Unter­stüt­zung aus dem brei­te­ren wirt­schafts­po­li­ti­schen Estab­lish­ment erhal­ten. Auch ist es unwahr­schein­lich, dass sich der mäch­tige, doch tief gespal­tene Repres­si­ons­ap­pa­rat (die Silo­viki) vereint und eine unab­hän­gige Rolle im Kampf um die Macht spielt; aller­dings könnte ein Teil davon durch­aus zum Züng­lein an der Waage werden. Wenn es zu gewalt­sa­men Macht­kämp­fen zwi­schen den wirt­schafts­po­li­ti­schen Clans kommt, sollte die Haupt­sorge des Westens der Sicher­heit von Russ­lands Atom­waf­fen­ar­se­nal gelten. Dieses muss – anders, als es jetzt unter Putin der Fall ist – in zuver­läs­sige Hände gegeben werden.

Die wahren Gefah­ren für Russ­lands Nach­barn gehen nicht von einer mög­li­chen „Desta­bi­li­sie­rung“ des Landes aus, sondern von Putins Pseudo-Sta­bi­li­tät, die auf Repres­sion, Mas­sen­in­dok­tri­na­tion und der Kri­mi­na­li­sie­rung des Staates von oben beruht. Der Kreml hat das staat­li­che Gewalt­mo­no­pol ganz bewusst an kri­mi­nelle Gruppen und Pri­vat­ar­meen (ein­schließ­lich der berüch­tig­ten „Wagner“-Truppe) „out­ges­ourct“. Die Bana­li­tät der Gewalt und die Abwer­tung des mensch­li­chen Lebens werden noch lange ein sozia­les Problem bleiben: Die Erfah­rung, dass Bezie­hun­gen in Russ­land haupt­säch­lich mit Gewalt gere­gelt werden, ist ein grund­le­gen­des Element der kol­lek­ti­ven Iden­ti­tät gewor­den. Der mas­sen­hafte Zufluss von Waffen und trau­ma­ti­sier­ten Kriegs­ve­te­ra­nen aus der Ukraine ver­schärft dieses Problem weiter. Zudem sind die Russen von der Kreml-Pro­pa­ganda ver­gif­tet, die Genozid-Aufrufe und Hate-Speech ver­brei­tet. Das hat die Sprache als Werk­zeug zur Erklä­rung der Wirk­lich­keit zer­stört, damit die zu „Zombies” gewor­de­nen Bürger die Exis­tenz der Wahr­heit grund­sätz­lich in Frage stellen. Keins dieser Geschwüre kann unter einem „sta­bi­len“ Auto­ri­ta­ris­mus geheilt werden – sie eitern nur, je mehr Zeit vergeht und je stärker sich Russ­land von der Außen­welt abschottet.

IV. Die rus­si­sche Gesell­schaft: fata­lis­tisch aber nicht „gene­tisch autoritär“

Dass die rus­si­sche Öffent­lich­keit so emp­fäng­lich für den impe­ria­len Diskurs ist, lässt sich vor allem auf zwei Fak­to­ren zurück­füh­ren: erstens auf feh­lende Medi­en­viel­falt und die abso­lute Domi­nanz von Staats­pro­pa­ganda im öffent­li­chen Raum; zwei­tens auf die Tat­sa­che, dass his­to­ri­sche Pro­pa­ganda, Groß­macht­rhe­to­rik und geo­po­li­ti­scher Revan­chis­mus seit Jahr­zehn­ten als Kom­pen­sa­tion für die poli­ti­sche Ent­mach­tung der Bürger, wirt­schaft­li­che Not und feh­lende Zukunfts­vi­sio­nen dienen. Doch dieser Teu­fels­kreis kann durch­bro­chen warden, und zwar durch poli­ti­sche Öffnung, freie Wahlen und Wirtschaftswachstum.

Eines der größten Hin­der­nisse bei der Ent­wick­lung einer Kom­mu­ni­ka­ti­ons­stra­te­gie gegen­über der rus­si­schen Gesell­schaft ist, dass es keine zuver­läs­si­gen Instru­mente gibt, mit denen die öffent­li­che Meinung gemes­sen werden kann. Zuwei­len wird gar die Sinn­haf­tig­keit von Mei­nungs­um­fra­gen unter Putins neo­to­ta­li­tä­rer Herr­schaft grund­sätz­lich in Frage gestellt. Aber die vor­han­de­nen sozio­lo­gi­schen Daten zeigen, dass die rus­si­sche Gesell­schaft kein Mono­lith ist. Scho­ckie­rende Bei­spiele für kreml­treuen Hurra-Patrio­tis­mus sind bloß eine Seite der Medaille. Auch wenn darüber in den Medien viel berich­tet wird, sind solche Ansich­ten doch nur für eine Min­der­heit cha­rak­te­ris­tisch, die geschätzt weniger als 20 Prozent der Bevöl­ke­rung aus­ma­chen. Radi­kale Kreml-Gegner stellen weitere 20 Prozent, während der Rest einfach abwar­tet und hofft, die schwie­ri­gen Zeiten „aus­sit­zen“ zu können. Auch zwi­schen den Gene­ra­tio­nen sind die Russen poli­tisch gespal­ten: Junge Men­schen sind viel pro-west­li­cher ein­ge­stellt und haben eine viel stär­kere Anti-Putin- und Anti­kriegs­hal­tung als die Gene­ra­tion 50+.

Nichts­des­to­trotz bewegt sich die erklärte öffent­li­che Zustim­mung bzw. passive Akzep­tanz des vom Kreml geführ­ten Krieges wei­ter­hin auf hohem Niveau (etwa 70 Prozent). Auch die stei­gen­den Ver­luste der rus­si­schen Armee und das zuneh­mende Bewusst­sein, dass die „mili­tä­ri­sche Son­der­ope­ra­tion“ nicht nach Plan läuft, haben nicht zu einem wesent­li­chen Stim­mungs­wech­sel im Land geführt. Ein großer Teil der Gesell­schaft distan­ziert sich vom Kriegs­thema und erst recht von aktiven Anti­kriegs­pro­tes­ten. Das vor­herr­schende Gefühl von Macht­lo­sig­keit führt noch mehr als die Angst vor Repres­sio­nen dazu, dass die Men­schen die Situa­tion einfach „aus­sit­zen“. Außer­dem sind Sozi­al­leis­tun­gen vom Staat für Mil­lio­nen von Fami­lien oft die letzte Hoff­nung, sich finan­zi­ell über Wasser zu halten. Das ver­rin­gert zusätz­lich ihre Bereit­schaft, sich regie­rungs­kri­tisch zu äußern.

Ein Groß­teil der rus­si­schen Öffent­lich­keit hat offen­bar keine klare Haltung zum Krieg und nickt die Ent­schei­dun­gen der Regie­rung einfach ab. Würde der Kreml morgen eine poli­ti­sche Kehrt­wende machen, wären die Men­schen auch damit ein­ver­stan­den. Ende 2022 hat das unab­hän­gige Umfra­ge­insti­tut Russian Field fest­ge­stellt, dass weit über die Hälfte der Befrag­ten sowohl einen neuen Angriff auf Kyjiw (58 Prozent) als auch die Unter­zeich­nung eines Frie­dens­ab­kom­mens (70 Prozent) befür­wor­ten würden.

Ein großer Teil der rus­si­schen Bevöl­ke­rung greift nicht auf alter­na­tive Infor­ma­ti­ons­quel­len zurück – nicht unbe­dingt wegen der ver­schärf­ten Zensur, sondern einfach, um kogni­tive Dis­so­nanz zu ver­mei­den. Seit Jahr­zehn­ten sind die rus­si­schen Macht­ha­ber bestrebt, die Gesell­schaft zu ato­mi­sie­ren und hori­zon­tale Ver­knüp­fun­gen zwi­schen den Bürgern zu zer­stö­ren. Zur feh­len­den Auf­ar­bei­tung des sowje­ti­schen Tota­li­ta­ris­mus ist in den letzten Jahren eine unver­hoh­lene Glo­ri­fi­zie­rung der impe­ria­len Idee hin­zu­ge­tre­ten, was die Rolle des Staates für den Zusam­men­halt der Nation end­gül­tig fest­ge­schrie­ben hat. Die natio­na­lis­ti­sche Kreml-Pro­pa­ganda hat der Öffent­lich­keit die mes­sia­ni­sche Bot­schaft ein­ge­flüs­tert, dass die Russen anderen Natio­nen mora­lisch über­le­gen seien, weil sie 1945 den Natio­nal­so­zia­lis­mus (das „absolut Böse“) ver­nich­tet haben. Eine Aus­ein­an­der­set­zung mit den schwe­ren Kriegs­ver­bre­chen, die von der rus­si­schen Armee in der Ukraine verübt worden sind, würde die kol­lek­tive und indi­vi­du­elle Selbst­ach­tung zer­stö­ren und die Frage nach der kol­lek­ti­ven poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung auf­wer­fen. Da das Staats­fern­se­hen eine viel beque­mere Inter­pre­ta­tion der Gescheh­nisse liefert als unab­hän­gige Medien, bleibt es für zwei Drittel der Russen Haupt­in­for­ma­ti­ons­quelle – und das, obwohl (laut den unab­hän­gi­gen Mei­nungs­for­schungs­in­sti­tu­ten Lewada-Zentrum und Russian Field) nur 50 Prozent den Staats­me­dien ver­trauen und 60 Prozent den offi­zi­el­len Angaben über die mili­tä­ri­schen Ver­luste Russ­lands nicht glauben.

Darüber hinaus geben sich die Behör­den große Mühe, den Bürger weis zu machen, dass Wider­stand zweck­los sei und die über­wäl­ti­gende Mehr­heit der Bevöl­ke­rung aus bedin­gungs­lo­sen Putin-Anhän­gern bestehe. Regie­rungs­kri­ti­sche Oppo­si­tion wird mit dem Verstoß gegen soziale Normen oder „Verrat” gleich­ge­setzt. Nicht zufäl­lig ist eins der am häu­figs­ten bemüh­ten Pro­pa­ganda-Kli­schees die Ver­un­glimp­fung von „Staats­fein­den”.

V. Eine neue „Zeit der Wirren“ ist nicht zwingend

Russ­lands Trans­for­ma­tion wird ein müh­sa­mer und nicht-linea­rer Prozess, doch die nega­ti­ven Aus­wir­kun­gen wirt­schaft­li­cher und poli­ti­scher Tur­bu­len­zen können durch ver­schie­dene Fak­to­ren abge­mil­dert werden. Auch wenn die rus­si­sche Wirt­schaft über­wie­gend vom Staat kon­trol­liert wird, funk­tio­niert sie doch groß­teils noch immer nach markt­wirt­schaft­li­chen Prin­zi­pien. Kleine und mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men haben gezeigt, dass sie auch den Druck­wel­len des räu­be­ri­schen Staats­ka­pi­ta­li­mus stand­hal­ten. Auf föde­ra­ler und regio­na­ler Ebene gibt es genü­gend kom­pe­tente Büro­kra­ten, um Reform­ent­würfe in die Tat umzu­set­zen, die vor langer Zeit von füh­ren­den Exper­ten ent­wi­ckelt worden sind. Zudem verfügt Russ­land über bedeu­tende intel­lek­tu­elle Res­sour­cen im Ausland. Je früher sich die Gele­gen­heit zur Trans­for­ma­tion ergibt, desto besser stehen die Chancen, dass die Emi­gran­ten zurück­keh­ren und sich der Brain Drain, der 2022[v] womög­lich bis zu eine halbe Million Men­schen erfasst hat, teil­weise umkehrt.

All­ge­mein unter­schätzt und doch von unbe­zahl­ba­rem Wert ist auch die rus­si­sche Zivil­ge­sell­schaft, die eine orga­ni­sa­to­ri­sche Basis für poli­ti­sche Trans­for­ma­tion bilden kann. Putins Herr­schaft hat sie lan­des­weit unter­drückt, doch sie hat – wie auch kleine und mit­tel­stän­di­sche Unter­neh­men – durch ihre lang­jäh­rige Vita­li­tät gezeigt, dass sie unter güns­ti­ge­ren Umstän­den fähig ist, sich rasch zu rege­ne­rie­ren. Zudem sind die Ver­tre­ter der rus­si­schen Zivil­ge­sell­schaft, die ins Exil getrie­ben wurden, gerade dabei, sich neu auf­zu­stel­len. Viele von ihnen setzen ihr zivil­ge­sell­schaft­li­ches Enga­ge­ment fort und wenden sich dabei an Russen im In- und Ausland. Die meisten beab­sich­ti­gen, nach Russ­land zurück­zu­keh­ren, sobald es wieder sicher ist. Dann werden sie ein­zig­ar­ti­ges Wissen über Best Prac­ti­ces west­li­cher Gras­wur­zel­de­mo­kra­tie, Selbst­ver­wal­tung, Wahl­sys­teme und effek­tive Staats­füh­rung dabei­ha­ben, das sie an die rus­si­schen Gege­ben­hei­ten anpas­sen können. Aller­dings unter­schät­zen demo­kra­ti­sche Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker in Russ­land und im Exil oft das Poten­tial zivil­ge­sell­schaft­li­cher Gruppen als ihre natür­li­chen Ver­bün­de­ten und Basis.

Viele Russen im Exil betei­li­gen sich an Anti-Kriegs-Demons­tra­tio­nen und orga­ni­sie­ren Hilfe für die Ukraine oder ukrai­ni­sche Geflüch­tete. Viele Akti­vis­ten und Jour­na­lis­ten (rus­si­scher und nicht­rus­si­scher Her­kunft) setzen sich aktiv für die Neu­ge­stal­tung des aktu­el­len Dis­kur­ses über Russ­land und seine Nach­barn ein und dekon­stru­ie­ren dabei impe­riale, kolo­niale und patri­ar­cha­li­sche Kli­schees. Sollte eine Ver­söh­nung zwi­schen Russ­land und der Ukraine jemals möglich sein, dann vor allem dank diesen Men­schen. Und zu Hause erwar­tet sie die nächste schwie­rige Aufgabe: ihre Mit­bür­ger durch eine schmerz­hafte, tief­grei­fende Trans­for­ma­tion der kol­lek­ti­ven Men­ta­li­tät und Iden­ti­tät auf einen nicht-impe­ria­len Weg zu führen.

Fazit

Wie wird Russ­land nach Putin aus­se­hen? Das hängt zum großen Teil von der Bereit­schaft des Westens ab, ernst­haft Ein­fluss auf das Land aus­zu­üben. Eine ver­gleich­bare Her­aus­for­de­rung hat es nur beim Aufbau der euro­päi­schen Sicher­heits­ar­chi­tek­tur nach dem 2. Welt­krieg gegeben: 1945 bestand kein Zweifel daran, dass die Welt nur siche­rer werden kann, wenn Deutsch­land von Grund auf neu erfun­den wird. 2023 sollten wir uns nicht davor scheuen, eine Stra­te­gie für die Neu­erfin­dung Russ­lands zu ent­wi­ckeln. Genau wie in Deutsch­land wird die Auf­ar­bei­tung der tota­li­tä­ren, impe­ria­len Ver­gan­gen­heit Jahr­zehnte dauern – doch möglich wird sie nur mit einem Impuls von außen.

 

Dr. Maria Domańska ist Senior Fellow am Centre for Eastern Studies (OSW) in War­schau.

 

[i] Nach den Par­la­ments­wah­len im Sep­tem­ber haben Umfra­gen des unab­hän­gi­gen Lewada-Zen­trums gezeigt, dass die Unter­stüt­zung für Putins Regime schwand. Genaue­res s. Maria Domańska, „Russia 2021: Con­so­li­da­tion of a dic­ta­tor­ship“, OSW Com­men­tary, 8. Dezem­ber 2021, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/osw-commentary/2021–12-08/russia-2021-consolidation-a-dictatorship

[ii] Maria Domańska, „Puti­nism after Putin. The deep struc­tures of Russian aut­ho­ri­ta­ria­nism“, OSW Studies, 25. Oktober 2019, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/osw-studies/2019–10-25/putinism-after-putin

[iii] Andrea Kendall-Taylor, Erica Frantz, „How Auto­cra­cies Fall“, The Washing­ton Quar­terly 37:1, 2014, S. 35–47.

[iv] Демократия вместо распада. Александр Кынев – о России регионов („Demo­kra­tie statt Zerfall. Alek­sandr Kynev über ein Russ­land der Regio­nen“), Radio Svoboda, 3. August 2022, https://www.svoboda.org/a/demokratiya-vmesto-raspada-aleksandr-kynev—o‑rossii-regionov/31968400.html

[v] Демограф Алексей Ракша — ЕАН: потери от мобилизации в стране пока меньше, чем от COVID („Demo­graph Aleksej Rakša auf der Nach­rich­ten­seite EAN [Euro­pä­isch-asia­ti­sche Nach­rich­ten]: Ver­luste durch rus­si­sche Mobil­ma­chung bisher gerin­ger als durch Corona“), 12. Dezem­ber 2022, https://eanews.ru/news/demograf-aleksey-raksha-poteri-ot-mobilizatsii-v-strane-poka-menshe-chem-ot-covid_12-12–2022

Textende

Dieses Paper ist im Rahmen des vom Aus­wär­ti­gen Amt geför­der­ten Pro­jekts „Russ­land und der Westen“: Euro­päi­sche Nach­kriegs­ord­nung und die Zukunft der Bezie­hun­gen zu Russ­land“ erschie­nen. Sein Inhalt gibt die per­sön­li­che Meinung des Autors wieder.

Deut­sche Über­set­zung von Hanne Wiesner

Ver­wandte Themen

News­let­ter


Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.