Wie sich der Westen auf die Zeit nach Putin vorbereiten sollte
Russlands Zukunft hängt immer mehr von uns ab. Ein entscheidender Sieg der Ukraine lässt das Ende des Putin-Regimes näherrücken. Der Westen muss auf diesen Moment vorbereitet sein, denn dann bietet sich kurze Zeit die Chance, dass Russland den Weg von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einschlägt, schreibt Maria Domańska.
ZUSAMMENFASSUNG
Solange Russland ein autoritäres Land ist, stellt es für den Westen eine existentielle Bedrohung dar. Seine unverhohlenen Verstöße gegen internationales Recht sind die direkte Folge mangelnder Rechtsstaatlichkeit. Durch die Großoffensive gegen die Ukraine, die Kriegsverbrechen und die atomare Erpressung ist Russland zu einem Schurkenstaat geworden. Es ist daher im ureigensten Interesse des Westens, das aktuelle russische Regierungsmodell dauerhaft zu demontieren.
Wenn Putins Präsidentschaft endet, wird sich ein schmales Zeitfenster für politischen Wandel öffnen. Entgegen verbreiteter Befürchtungen könnte das Ende von Russlands autokratischer „Stabilität“ weniger eine Bedrohung sein als eine Chance zu nachhaltigem Frieden in Europa. Wenn dieser Moment kommt, muss der Westen gerüstet sein. Bevor die neue russische Führung ihre Macht festigt, sollten wir uns vorrangig bemühen, das Zeitfenster so lange wie möglich offen zu halten, damit es sich nicht erneut auf Jahrzehnte schließt.
I. Krieg als Fortführung innenpolitischer Ziele
Vieles spricht dafür, dass die russische Führung vor allem aus innenpolitischen Gründen in die Ukraine einmarschiert ist und einen Stellvertreterkrieg gegen die NATO begonnen hat. Der Einmarsch war als „Vorwärtsverteidigung“ gegen die – von der russischen Staatspropaganda als „Nazismus“ bezeichnete – liberale Demokratie geplant. Denn der Kreml befürchtet, dass sich die Russen vom politische Empowerment der ukrainischen Gesellschaft anstecken lassen. Die letzte Warnung für Moskau kam vermutlich Ende 2021, als die Zustimmungswerte des Regimes in Umfragen absackten.[i] Damit war klar, dass eine weitere Erosion von Putins Legitimation nur eine Frage der Zeit war. Der Krieg sollte sowohl die „patriotische“ Hysterie gegenüber äußeren und inneren Feinden als auch das Syndrom der „besiegten Festung“ entfachen und die Russen dazu bringen, sich um den Diktator zu scharen. Die internationale Isolation wurde als annehmbarer Preis und zugleich als Chance gesehen, um die Diktatur durch eine beispiellose innenpolitische Repression zu festigen.
Die Ukraine muss jetzt alle militärische Hilfe erhalten, die sie braucht, um den Aggressor zu besiegen und die eigene territoriale Integrität umgehend wiederherzustellen. Außerdem muss das Land angemessene Reparationszahlungen erhalten und die Gewissheit haben, dass russische Kriegsverbrecher vor internationale Kriegstribunale gestellt werden, egal wie lange das dauert. Eine Straffreiheit für Russland hätte katastrophale Konsequenzen für die globale Sicherheit und die wirtschaftspolitische Ordnung der kommenden Jahrzehnte: Das Risiko einer Verbreitung von Kernwaffen würde steigen, und China würde seine Lehren aus dem Konflikt ziehen und sich durch Moskaus Sieg ermutigt fühlen, eigene revanchistische Bestrebungen durchzusetzen.
Russlands de facto-Krieg gegen die NATO ist jedoch mit einem ukrainischen Sieg auf dem Schlachtfeld nicht vorüber. Solange anschließend nicht eine schwere Wirtschaftskrise und das Regime gefährdende politische Entwicklungen in Russland folgen, bedeutet eine militärische Niederlage lediglich einen vorübergehenden Rückschlag für Moskaus Aggressionskurs. Der revanchistische Charakter des Putinismus macht eine friedliche Koexistenz mit Russland unmöglich. Nur ständige (und kostspielige) militärische Abschreckung könnte den russischen Militarismus davon abhalten, erneut die Landesgrenzen zu überschreiten. Bemühungen aus Berlin oder Paris, einen „Kompromiss“ mit Moskau zu finden, sind müßig. Die einzige „Sicherheitsgarantie“, die Putin akzeptiert, ist die Auflösung von NATO und EU als Zentren demokratischer Werte mit globalem politischen Einfluss.
Um in Zukunft massive Verwerfungen in Europa zu verhindern, muss man an die Wurzel der Sicherheitsbedrohung gehen. In Russlands gegenwärtigem politischen System trifft eine kleine Gruppe unter Umgehung jeglicher Kontrolle durch die breitere Elite und Gesellschaft Entscheidungen, die sich unmittelbar auf die internationale Sicherheit auswirken. Daher ist neben einem Wechsel der politischen Führung in Russland auch eine nachhaltige Demontage der autoritären Herrschaft vonnöten. Langfristiges Ziel des Westens sollte sein, dass Entscheidungsprozesse im Kreml im Einklang mit internationalem Recht stehen und von innenpolitischen Akteuren (Interessengruppen in den herrschenden Eliten und der Öffentlichkeit) kontrolliert werden. Selbst wenn sich Russland westlichen Interessen und Zielen nie anschließen sollte, so müssen doch mindestens Aggression und Kriegsverbrechen aus seinem außenpolitischen Arsenal verschwinden.
Bis heute hat der Westen nie wirklich versucht, Russland zu verändern, und seine Russland-Politik zudem auf drei irrigen Annahmen begründet: Erstens glaubte man, ein autoritäres System durch wirtschaftliche Zusammenarbeit beeinflussen zu können. Tatsächlich hat das Geld aus dem Westen nur dem Regime geholfen, die wenigen Keime demokratischer Institutionen, die in der Gorbatschow-Jelzin-Ära entstanden sind, zu ersticken. Zweitens herrscht noch immer der Glaube, dass Russlands politische und strategische Kultur, die auf Gewalt und Nullsummenspiel-Logik beruht, durch eine demokratische Kultur des Dialogs neu gestaltet werden kann. Drittens hat man die Menschenrechte in Russland nicht als essentiell für die europäische Stabilität erachtet – westliche Entscheidungsträger haben den Zusammenhang von Innen- und Außenpolitik sträflich unterschätzt. Der Westen übt sich gegenüber Russland weiterhin in Zurückhaltung, da eine „Einmischung in Russlands innenpolitische Angelegenheiten“ für viele westliche Experten und Politiker ein Tabu bleibt. Doch diese Denkweise macht unsere Demokratien nur wehrloser gegenüber autoritären Regimen in Europa und darüber hinaus.
Die Russen müssen den Putinismus als neoimperiales Projekt klar scheitern sehen.
Solange Putin an der Macht bleibt, kommt eine freiwillige Kapitulation in der Ukraine oder eine politische Öffnung Russlands nicht in Frage. Doch man kann schon jetzt die nötigen Vorbereitungen für eine künftige Transformation des Landes treffen. Zuallererst müssen die Russen den Putinismus als neoimperiales Projekt klar scheitern sehen. Nur eine rasche und vollständige militärische Niederlage kann das politische Establishment in Russland überzeugen, dass Krieg kontraproduktiv ist, sowohl als außenpolitisches Instrument als auch als Mittel zum Aufbau innenpolitischer Legitimation. Zudem müssen die wirtschaftliche und finanzielle Basis des Regimes durch schärfere Sanktionen konsequent geschwächt werden, damit die Regierung ihr Militärpotential nicht wieder aufstocken kann. Momentan sind die Sanktionen sowohl was Umfang als auch was Durchsetzung angeht, höchst inkonsequent.
Zweitens muss die Ukraine so schnell wie möglich wiederaufgebaut werden. Das Land muss zu einer starken, stabilen Demokratie und Marktwirtschaft innerhalb der EU und NATO werden. Ein NATO-Schutzschirm über der Ukraine wird dafür sorgen, dass EU-Wiederaufbau-Gelder nicht in einem weiteren Angriffskrieg verpuffen. Eine EU-Mitgliedschaft ermöglicht es, Ausgaben zu kontrollieren und mögliche Korruption im großen Stil zu verhindern.
Schließlich sollten – als Teil einer breit angelegten, langfristigen Strategie gegenüber Moskau – auch die russische Zivilgesellschaft und unabhängige Exil-Medien umfassend unterstützt werden. Das ist ein wichtiger Baustein, um politischen Wandel in Russland und damit auch Stabilität in Europa zu erreichen. Zwar können politische Emigranten alleine kaum den Zusammenbruch des Regimes herbeiführen, doch können sie nach ihrer Rückkehr eine unschätzbare ideologisch-organisatorische Basis für Reformen bilden.
II. Chancen für die Zeit nach Putin
Das Ende von Putins Herrschaft wird nicht automatisch zu tiefgreifenden Veränderungen im politischen System führen. Bisher hat sich der russische Autoritarismus stets problemlos reproduziert, denn er ruht auf einem stabilen Fundament: zum einen auf der patrimonialen Vorstellung, dass der Staat das persönliche Eigentum des Herrschers ist, zum anderen auf der Logik, dass bei soziopolitischen Interaktionen der Staat als Schutzpatron wahrgenommen wird .[ii] Darüber hinaus zeigen Studien, dass der Übergang von einer personalistischen Herrschaft (wie der in Russland) weniger wahrscheinlich in eine Demokratie mündet als der Übergang von anderen Formen autoritärer Staatsführung.[iii]
Doch mit Putins Abgang wird sich ein schmales Zeitfenster für politischen Wandel öffnen. Das Trauma des Krieges und seine negativen wirtschaftlichen und sozialen Folgen können einen fruchtbaren Boden für wirtschaftspolitische Reformen bilden. Die neue Führung wird im Vergleich zur jetzigen geschwächt und damit anfälliger für Druck von innen und außen sein. Das Streben nach einem besseren internationalen Image, nach externer Legitimation und einer breiten Unterstützerbasis im eigenen Land führt möglicherweise zu zwei qualitativen Richtungswechseln: Erstens könnte Russland seine aggressive Außenpolitik im Tausch gegen die Aufhebung von Sanktionen zeitweilig einstellen; zweitens kommt es wahrscheinlich zu einer Liberalisierung der neototalitären Innenpolitik. Letztere gründet sich heute auf Personenkult, Massenindoktrination, Kriegszensur und die Einmischung des Staates in das Privatleben seiner Bürger.
Aufgrund der schweren Bürde der autoritären Pfadabhängigkeit ist eine Demokratisierung Russlands in absehbarer Zukunft unrealistisch. Doch pluralistische Strukturen ließen sich in einem frühen Stadium relativ unkompliziert in das politische System integrieren. Bevor die neue Führung ihre Macht festigt, sollte sich der Westen vorrangig bemühen, das Zeitfenster für Reformen weit aufzustoßen und so lange wie möglich geöffnet zu halten, damit es sich nicht erneut auf Jahrzehnte schließt. Dagegen ist natürlich Widerstand von denjenigen Gruppen zu erwarten, die unmittelbar verantwortlich für Kriegsverbrechen und politische Repressionen sind, so dass Reformen ohne konstanten Druck von unten und außen lange verhindert werden können. Der Westen muss die Lehren aus den Fehlern ziehen, die er in den 1990er Jahren gegenüber Russland begangen hat.
Unsere Mittel sollten auf transparenten Vergleichsgrößen beruhen und eine sorgfältig konzipierte Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche enthalten. Die Einzelheiten sollten vorher ausdiskutiert werden und die Interessen und Bedürfnisse der gesamten russischen Gesellschaft berücksichtigen. Die EU-und NATO-Staaten sollten eine neue russische Regierung erst dann anerkennen, wenn diese die Zensur und andere politisch motivierte repressive Gesetze aufhebt, alle politischen Gefangenen freilässt, unabhängige Medien wieder erlaubt und freie Wahlen unter internationaler Beobachtung zulässt. Wenn die neue Führung weiterhin gegen Menschenrechte verstößt, sollten wir ein neues Sanktionspaket schnüren. Die Kosten neuer Einschränkungen wären für den Westen unbedeutend, da wir bis dahin nicht mehr abhängig von russischen Rohstoffen sind. Umgekehrt sollte die erfolgreiche Umsetzung von Reformen unter anderem zu einer schrittweisen Liberalisierung des Handelssystems mit Russland führen. Langfristig sollte sich der Westen um den Aufbau eines institutionellen Rahmens bemühen, um eine kontinuierliche Transformation sicherzustellen und die politischen Freiheiten der Opposition und Zivilgesellschaft zu garantieren.
Die westliche Strategie sollte weniger auf eine bestimmte politische Figur (einen „neuen Jelzin”) setzen als vielmehr auf flächendeckenden Dialog mit allen politischen Kräften – mit Ausnahme derjenigen, die in Kriegsverbrechen und politische Repressionen verstrickt sind. Außerdem muss der Westen intensive Kontakte zur breiten Öffentlichkeit aufbauen, auch als Puffer gegen mögliche künftige politische Spannungen.
Doch bevor sich die westliche Politik wandelt, müssen wir unser Denken über Russland revolutionieren. Dieses beruht häufig auf Ängsten und Irrtümern, die von der Kreml-Propaganda verbreitet werden. Sie führen dazu, dass sich der Westen bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine und in Diskussionen über die eigene Rolle bei der künftigen politischen Transformation Russlands zurückhält.
III. Der Fetisch vom stabilen Russland: Nur eine schlaue Manipulation
Viele westliche Experten und Politiker äußern den fatalistischen Glauben, dass der Untergang des russischen Autoritarismus zum Zusammenbruch des Staates und einer tiefgreifenden Destabilisierung der gesamten Region führen würde. Doch zwischen Diktatur und gefährlichem Chaos liegt ein breites Spektrum an Optionen. Diese von vornherein auszuschließen bedeutet, Putins Spiel mitzuspielen, das seit Jahren funktioniert. Es beruht auf dem Dogma, dass Putins Russland das einzig mögliche Russland ist; da es unmöglich (oder zumindest extrem riskant) ist, dieses Russland zu verändern, hat man keine andere Wahl, als „pragmatische“ Deals mit dem aggressiven Regime zu schließen. Den Preis für diese Art der Manipulation zahlen wir seit dem 24. Februar 2022. Die Verfechter der „Stabilität über alles”-Doktrin vergessen, dass Russland noch nie so „stabil“ war wie unmittelbar vor dem Krieg, als das Regime die gesamte politische Opposition zerstört hatte. „Perfekte Stabilität” (die eigentlich künstlich ist, siehe unten) war nötig, um den militärischen Angriff auf die Ukraine zu starten.
Innerhalb des breiten Spektrums an politischen Szenarien ist eine wirkliche Föderation mit einer starken lokalen Selbstverwaltung das erstrebenswerteste und realistischste. Gewaltlose Mechanismen zur Benennung und Lösung von Konflikten können sich nur in einem dezentralisierten politischen System herausbilden. Eine Dezentralisierung politischer Macht und finanzieller Ressourcen würden Russland also in Zukunft berechenbarer, stabiler und rechtsstaatlicher machen. Die russische Öffentlichkeit verbindet „Demokratie” nicht unbedingt mit einem System von Werten, Institutionen und Prozessen, doch Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler und Bürgerrechtler berichten seit Jahren, dass Forderungen nach Selbstverwaltung und mehr Verantwortlichkeit von Beamten auch in den Provinzen immer lauter werden.
Ein Empowerment der Bevölkerung, einschließlich ethnischer Minderheiten, auf lokaler und regionaler Ebene ist ein wirksamer Impfstoff gegen das Wiederaufflammen des russischen imperialen Revanchismus. Geheilt werden kann die Großmannssucht, indem man den Bürgern die Möglichkeit gibt, ein „normales“ Leben zu führen und sich als „Miteigentümer“ ihres Staates zu fühlen. Das geschieht durch freie Wahlen und eine breite öffentliche Diskussion darüber, wie die neue Verfassung aussehen soll. Bislang hat der Westen Russlands ethnische und kulturelle Vielfalt komplett ignoriert und dadurch eine kolonialistische Mentalität an den Tag gelegt (die bis 2022 in Form der „Russland zuerst“-Politik auch gegenüber der Ukraine üblich war).
Es gibt keine logische Erklärung für die Befürchtung, dass Instabilität aufgrund von politischem Wandel, internen Machtkämpfen der Elite oder negativen wirtschaftlichen Folgen der Reformen zum Zusammenbruch des russischen Staates führen könnte. Keine der von ethnischen Minderheiten bewohnten Regionen hat das Potential zur Abspaltung, denn erfolgreiche separatistische Tendenzen werden durch einen oder mehrere Faktoren verhindert. Erstens sind die regionalen Regierungen weder legitimiert noch vertreten sie wirklich die Interessen der lokalen Bevölkerung. Zweitens hat das Modell des „Staatskapitalismus” dazu geführt, dass die regionalen Haushalte finanziell massiv vom Haushalt auf föderaler oder Bundesebene abhängen und die Regionen wirtschaftlich unterentwickelt bleiben. Drittens grenzen die meisten dieser Regionen nicht direkt an andere Länder. Und schließlich bilden die nichtrussischen ethnischen Gruppen oft eine Minderheit in ihrer eigenen „nationalen Republik“, oder es fehlt ihnen an einer stabilen historischen, kulturellen und sprachlichen Identität, da diese vom föderalen Zentrum gezielt unterdrückt worden ist. Auch wenn in den Regionen schon lange moskaufeindliche Stimmungen spürbar sind, bedeutet das noch keine separatistischen Bestrebungen. Sie richten sich vielmehr zumeist gegen die föderale Moskauer Bürokratie mit ihren ausufernden Machtbefugnissen und ihrer Gier nach lokalen Ressourcen. Auch negative Erinnerungen an den Zerfall der Sowjetunion wirken radikalen Szenarien entgegen.[iv] Paradoxerweise könnte die Furcht vor dem Zusammenbruch des Staates und das Gefühl, „Russland könnte weg sein“, die Reformtendenzen zur Lösung föderal-regionaler Spannungen sogar bestärken.
Eine andere verbreitete Sorge unter westlichen Experten und Politikern ist die, dass im Falle innenpolitischer Unruhen jemand an die Macht kommen könnte, der „noch schlimmer als Putin” ist. Es ist jedoch schwer vorstellbar, was noch schlimmer sein soll als jemand, der mitten in Europa einen Angriffskrieg entfesselt sowie Russland in einen brutalen, gesetzlosen Schurkenstaat verwandelt hat und noch dazu auf atomare Erpressung zurückgreift, um einer Strafe zu entgehen. Nach dem Ende von Putins Präsidentschaft wird man sich wahrscheinlich auf eine Kompromissführung einigen, damit sich die Lage beruhigt und nicht noch weiter angeheizt wird. Die üblichen Schreckgespenster – wie der kampflustige Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow, oder der berüchtigte Pate der „Wagner“- Söldnertruppe, Jewgeni Prigoschin – sind eher Putins Werkzeuge als autonome politische Akteure. Selbst wenn sie versuchen sollten, sich mit ihren Privatarmeen am Machtspiel zu beteiligen, werden sie keine Unterstützung aus dem breiteren wirtschaftspolitischen Establishment erhalten. Auch ist es unwahrscheinlich, dass sich der mächtige, doch tief gespaltene Repressionsapparat (die Siloviki) vereint und eine unabhängige Rolle im Kampf um die Macht spielt; allerdings könnte ein Teil davon durchaus zum Zünglein an der Waage werden. Wenn es zu gewaltsamen Machtkämpfen zwischen den wirtschaftspolitischen Clans kommt, sollte die Hauptsorge des Westens der Sicherheit von Russlands Atomwaffenarsenal gelten. Dieses muss – anders, als es jetzt unter Putin der Fall ist – in zuverlässige Hände gegeben werden.
Die wahren Gefahren für Russlands Nachbarn gehen nicht von einer möglichen „Destabilisierung“ des Landes aus, sondern von Putins Pseudo-Stabilität, die auf Repression, Massenindoktrination und der Kriminalisierung des Staates von oben beruht. Der Kreml hat das staatliche Gewaltmonopol ganz bewusst an kriminelle Gruppen und Privatarmeen (einschließlich der berüchtigten „Wagner“-Truppe) „outgesourct“. Die Banalität der Gewalt und die Abwertung des menschlichen Lebens werden noch lange ein soziales Problem bleiben: Die Erfahrung, dass Beziehungen in Russland hauptsächlich mit Gewalt geregelt werden, ist ein grundlegendes Element der kollektiven Identität geworden. Der massenhafte Zufluss von Waffen und traumatisierten Kriegsveteranen aus der Ukraine verschärft dieses Problem weiter. Zudem sind die Russen von der Kreml-Propaganda vergiftet, die Genozid-Aufrufe und Hate-Speech verbreitet. Das hat die Sprache als Werkzeug zur Erklärung der Wirklichkeit zerstört, damit die zu „Zombies” gewordenen Bürger die Existenz der Wahrheit grundsätzlich in Frage stellen. Keins dieser Geschwüre kann unter einem „stabilen“ Autoritarismus geheilt werden – sie eitern nur, je mehr Zeit vergeht und je stärker sich Russland von der Außenwelt abschottet.
IV. Die russische Gesellschaft: fatalistisch aber nicht „genetisch autoritär“
Dass die russische Öffentlichkeit so empfänglich für den imperialen Diskurs ist, lässt sich vor allem auf zwei Faktoren zurückführen: erstens auf fehlende Medienvielfalt und die absolute Dominanz von Staatspropaganda im öffentlichen Raum; zweitens auf die Tatsache, dass historische Propaganda, Großmachtrhetorik und geopolitischer Revanchismus seit Jahrzehnten als Kompensation für die politische Entmachtung der Bürger, wirtschaftliche Not und fehlende Zukunftsvisionen dienen. Doch dieser Teufelskreis kann durchbrochen warden, und zwar durch politische Öffnung, freie Wahlen und Wirtschaftswachstum.
Eines der größten Hindernisse bei der Entwicklung einer Kommunikationsstrategie gegenüber der russischen Gesellschaft ist, dass es keine zuverlässigen Instrumente gibt, mit denen die öffentliche Meinung gemessen werden kann. Zuweilen wird gar die Sinnhaftigkeit von Meinungsumfragen unter Putins neototalitärer Herrschaft grundsätzlich in Frage gestellt. Aber die vorhandenen soziologischen Daten zeigen, dass die russische Gesellschaft kein Monolith ist. Schockierende Beispiele für kremltreuen Hurra-Patriotismus sind bloß eine Seite der Medaille. Auch wenn darüber in den Medien viel berichtet wird, sind solche Ansichten doch nur für eine Minderheit charakteristisch, die geschätzt weniger als 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Radikale Kreml-Gegner stellen weitere 20 Prozent, während der Rest einfach abwartet und hofft, die schwierigen Zeiten „aussitzen“ zu können. Auch zwischen den Generationen sind die Russen politisch gespalten: Junge Menschen sind viel pro-westlicher eingestellt und haben eine viel stärkere Anti-Putin- und Antikriegshaltung als die Generation 50+.
Nichtsdestotrotz bewegt sich die erklärte öffentliche Zustimmung bzw. passive Akzeptanz des vom Kreml geführten Krieges weiterhin auf hohem Niveau (etwa 70 Prozent). Auch die steigenden Verluste der russischen Armee und das zunehmende Bewusstsein, dass die „militärische Sonderoperation“ nicht nach Plan läuft, haben nicht zu einem wesentlichen Stimmungswechsel im Land geführt. Ein großer Teil der Gesellschaft distanziert sich vom Kriegsthema und erst recht von aktiven Antikriegsprotesten. Das vorherrschende Gefühl von Machtlosigkeit führt noch mehr als die Angst vor Repressionen dazu, dass die Menschen die Situation einfach „aussitzen“. Außerdem sind Sozialleistungen vom Staat für Millionen von Familien oft die letzte Hoffnung, sich finanziell über Wasser zu halten. Das verringert zusätzlich ihre Bereitschaft, sich regierungskritisch zu äußern.
Ein Großteil der russischen Öffentlichkeit hat offenbar keine klare Haltung zum Krieg und nickt die Entscheidungen der Regierung einfach ab. Würde der Kreml morgen eine politische Kehrtwende machen, wären die Menschen auch damit einverstanden. Ende 2022 hat das unabhängige Umfrageinstitut Russian Field festgestellt, dass weit über die Hälfte der Befragten sowohl einen neuen Angriff auf Kyjiw (58 Prozent) als auch die Unterzeichnung eines Friedensabkommens (70 Prozent) befürworten würden.
Ein großer Teil der russischen Bevölkerung greift nicht auf alternative Informationsquellen zurück – nicht unbedingt wegen der verschärften Zensur, sondern einfach, um kognitive Dissonanz zu vermeiden. Seit Jahrzehnten sind die russischen Machthaber bestrebt, die Gesellschaft zu atomisieren und horizontale Verknüpfungen zwischen den Bürgern zu zerstören. Zur fehlenden Aufarbeitung des sowjetischen Totalitarismus ist in den letzten Jahren eine unverhohlene Glorifizierung der imperialen Idee hinzugetreten, was die Rolle des Staates für den Zusammenhalt der Nation endgültig festgeschrieben hat. Die nationalistische Kreml-Propaganda hat der Öffentlichkeit die messianische Botschaft eingeflüstert, dass die Russen anderen Nationen moralisch überlegen seien, weil sie 1945 den Nationalsozialismus (das „absolut Böse“) vernichtet haben. Eine Auseinandersetzung mit den schweren Kriegsverbrechen, die von der russischen Armee in der Ukraine verübt worden sind, würde die kollektive und individuelle Selbstachtung zerstören und die Frage nach der kollektiven politischen Verantwortung aufwerfen. Da das Staatsfernsehen eine viel bequemere Interpretation der Geschehnisse liefert als unabhängige Medien, bleibt es für zwei Drittel der Russen Hauptinformationsquelle – und das, obwohl (laut den unabhängigen Meinungsforschungsinstituten Lewada-Zentrum und Russian Field) nur 50 Prozent den Staatsmedien vertrauen und 60 Prozent den offiziellen Angaben über die militärischen Verluste Russlands nicht glauben.
Darüber hinaus geben sich die Behörden große Mühe, den Bürger weis zu machen, dass Widerstand zwecklos sei und die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung aus bedingungslosen Putin-Anhängern bestehe. Regierungskritische Opposition wird mit dem Verstoß gegen soziale Normen oder „Verrat” gleichgesetzt. Nicht zufällig ist eins der am häufigsten bemühten Propaganda-Klischees die Verunglimpfung von „Staatsfeinden”.
V. Eine neue „Zeit der Wirren“ ist nicht zwingend
Russlands Transformation wird ein mühsamer und nicht-linearer Prozess, doch die negativen Auswirkungen wirtschaftlicher und politischer Turbulenzen können durch verschiedene Faktoren abgemildert werden. Auch wenn die russische Wirtschaft überwiegend vom Staat kontrolliert wird, funktioniert sie doch großteils noch immer nach marktwirtschaftlichen Prinzipien. Kleine und mittelständische Unternehmen haben gezeigt, dass sie auch den Druckwellen des räuberischen Staatskapitalimus standhalten. Auf föderaler und regionaler Ebene gibt es genügend kompetente Bürokraten, um Reformentwürfe in die Tat umzusetzen, die vor langer Zeit von führenden Experten entwickelt worden sind. Zudem verfügt Russland über bedeutende intellektuelle Ressourcen im Ausland. Je früher sich die Gelegenheit zur Transformation ergibt, desto besser stehen die Chancen, dass die Emigranten zurückkehren und sich der Brain Drain, der 2022[v] womöglich bis zu eine halbe Million Menschen erfasst hat, teilweise umkehrt.
Allgemein unterschätzt und doch von unbezahlbarem Wert ist auch die russische Zivilgesellschaft, die eine organisatorische Basis für politische Transformation bilden kann. Putins Herrschaft hat sie landesweit unterdrückt, doch sie hat – wie auch kleine und mittelständische Unternehmen – durch ihre langjährige Vitalität gezeigt, dass sie unter günstigeren Umständen fähig ist, sich rasch zu regenerieren. Zudem sind die Vertreter der russischen Zivilgesellschaft, die ins Exil getrieben wurden, gerade dabei, sich neu aufzustellen. Viele von ihnen setzen ihr zivilgesellschaftliches Engagement fort und wenden sich dabei an Russen im In- und Ausland. Die meisten beabsichtigen, nach Russland zurückzukehren, sobald es wieder sicher ist. Dann werden sie einzigartiges Wissen über Best Practices westlicher Graswurzeldemokratie, Selbstverwaltung, Wahlsysteme und effektive Staatsführung dabeihaben, das sie an die russischen Gegebenheiten anpassen können. Allerdings unterschätzen demokratische Oppositionspolitiker in Russland und im Exil oft das Potential zivilgesellschaftlicher Gruppen als ihre natürlichen Verbündeten und Basis.
Viele Russen im Exil beteiligen sich an Anti-Kriegs-Demonstrationen und organisieren Hilfe für die Ukraine oder ukrainische Geflüchtete. Viele Aktivisten und Journalisten (russischer und nichtrussischer Herkunft) setzen sich aktiv für die Neugestaltung des aktuellen Diskurses über Russland und seine Nachbarn ein und dekonstruieren dabei imperiale, koloniale und patriarchalische Klischees. Sollte eine Versöhnung zwischen Russland und der Ukraine jemals möglich sein, dann vor allem dank diesen Menschen. Und zu Hause erwartet sie die nächste schwierige Aufgabe: ihre Mitbürger durch eine schmerzhafte, tiefgreifende Transformation der kollektiven Mentalität und Identität auf einen nicht-imperialen Weg zu führen.
Fazit
Wie wird Russland nach Putin aussehen? Das hängt zum großen Teil von der Bereitschaft des Westens ab, ernsthaft Einfluss auf das Land auszuüben. Eine vergleichbare Herausforderung hat es nur beim Aufbau der europäischen Sicherheitsarchitektur nach dem 2. Weltkrieg gegeben: 1945 bestand kein Zweifel daran, dass die Welt nur sicherer werden kann, wenn Deutschland von Grund auf neu erfunden wird. 2023 sollten wir uns nicht davor scheuen, eine Strategie für die Neuerfindung Russlands zu entwickeln. Genau wie in Deutschland wird die Aufarbeitung der totalitären, imperialen Vergangenheit Jahrzehnte dauern – doch möglich wird sie nur mit einem Impuls von außen.
Dr. Maria Domańska ist Senior Fellow am Centre for Eastern Studies (OSW) in Warschau.
[i] Nach den Parlamentswahlen im September haben Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums gezeigt, dass die Unterstützung für Putins Regime schwand. Genaueres s. Maria Domańska, „Russia 2021: Consolidation of a dictatorship“, OSW Commentary, 8. Dezember 2021, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/osw-commentary/2021–12-08/russia-2021-consolidation-a-dictatorship
[ii] Maria Domańska, „Putinism after Putin. The deep structures of Russian authoritarianism“, OSW Studies, 25. Oktober 2019, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/osw-studies/2019–10-25/putinism-after-putin
[iii] Andrea Kendall-Taylor, Erica Frantz, „How Autocracies Fall“, The Washington Quarterly 37:1, 2014, S. 35–47.
[iv] Демократия вместо распада. Александр Кынев – о России регионов („Demokratie statt Zerfall. Aleksandr Kynev über ein Russland der Regionen“), Radio Svoboda, 3. August 2022, https://www.svoboda.org/a/demokratiya-vmesto-raspada-aleksandr-kynev—o‑rossii-regionov/31968400.html
[v] Демограф Алексей Ракша — ЕАН: потери от мобилизации в стране пока меньше, чем от COVID („Demograph Aleksej Rakša auf der Nachrichtenseite EAN [Europäisch-asiatische Nachrichten]: Verluste durch russische Mobilmachung bisher geringer als durch Corona“), 12. Dezember 2022, https://eanews.ru/news/demograf-aleksey-raksha-poteri-ot-mobilizatsii-v-strane-poka-menshe-chem-ot-covid_12-12–2022
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
Deutsche Übersetzung von Hanne Wiesner