Die Bedeu­tung des Nawalny-Phänomens

Alexej Nawalny, Moskau 2020, Gregory Stein /​ Shut­ter­stock

Obwohl Alexej Nawalny für viele Euro­päer keine ideale Alter­na­tive zu Putin dar­stellt, ist seine poli­ti­sche Rele­vanz für die Zukunft Europas hoch. Sein Auf­stieg in den letzten Monaten unter­gräbt das System Putin und birgt die Chance auf eine Wie­der­her­stel­lung von poli­ti­schem Plu­ra­lis­mus in Russland.

Die Ver­wand­lung Alexej Nawal­nys von einem Mos­kauer Anti­kor­rup­ti­ons-Akti­vis­ten in eine zeit­his­to­ri­sche Figur Russ­lands seit Mitte 2020 hat welt­weit Inter­esse für seine Bio­gra­fie ent­facht. Die Beschäf­ti­gung mit Nawal­nys Ver­gan­gen­heit ver­an­lasst jedoch viele Beob­ach­ter dazu, dem rus­si­schen Oppo­si­ti­ons­po­li­ti­ker skep­tisch gegen­über zu stehen. Eine Reihe älterer, ein­deu­tig natio­na­lis­ti­scher Äuße­run­gen Nawal­nys werden in Pres­se­be­rich­ten und poli­ti­schen Kom­men­ta­ren immer wieder zitiert. Unter ukrai­ni­schen Kom­men­ta­to­ren etwa hat Nawal­nys unklare Posi­tion zur Unab­hän­gig­keit der Ukraine und Zukunft der von Russ­land annek­tier­ten Krim erheb­li­chen Pes­si­mis­mus hin­sicht­lich der Aus­wir­kun­gen seines mög­li­chen wei­te­ren poli­ti­schen Auf­stiegs ausgelöst. 

Portrait von Andreas Umland

Andreas Umland ist Analyst am Stock­holm Centre for Eastern Euro­pean Studies und Senior Expert am Ukrai­ni­schen Insti­tut für die Zukunft in Kyjiw.

Nicht nur in Kyjiw, sondern auch in vielen west­li­chen Haupt­städ­ten gibt es heute zwar eine all­ge­meine Sym­pa­thie, jedoch weniger volle poli­ti­sche Unter­stüt­zung für Nawalny. Er wäre, heißt es oft, sicher ein bes­se­rer rus­si­scher Prä­si­dent als Putin. Doch ange­sichts der ambi­va­len­ten poli­ti­schen Bio­gra­fie Nawal­nys als Natio­na­list würde Russ­land unter seiner mög­li­chen künf­ti­gen Führung wei­ter­hin keine libe­rale Demo­kra­tie dar­stel­len. Aus­län­di­sche Unter­stüt­zung für Nawalny kann unter diesem Gesichts­punkt nur von all­ge­mei­ner Sorge um die Rechte der poli­ti­schen Oppo­si­tion in Russ­land moti­viert sein. Sie würde und sollte aber nicht von wei­ter­ge­hen­den illu­so­ri­schen Hoff­nun­gen auf ein grund­le­gend anderes Russ­land unter Nawalny bestimmt werden.

Ange­sichts frü­he­rer natio­na­lis­ti­scher und impe­ria­lis­ti­scher Äuße­run­gen Nawal­nys gibt es gute Gründe, ihn auf diese Weise wahr­zu­neh­men. In der Ukraine sagt ein altes poli­ti­sches Sprich­wort: „Der rus­si­sche Libe­ra­lis­mus endet dort, wo die ukrai­ni­sche Unab­hän­gig­keit beginnt.“ Viele rus­si­sche Poli­ti­ker und Intel­lek­tu­elle unter­stüt­zen Demo­kra­tie und Frei­heit für das rus­si­sche Volk. Doch sie werden weniger tole­rant, wenn es um die Rechte und Selb­stän­dig­keit anderer Völker in und um Russ­land geht. Im Zweifel, so eine bittere Lehre aus der rus­si­schen Geschichte, geht das Impe­rium vor Frei­heit – sei es in der Innen- oder Außenpolitik. 

Über­große Skepsis über­tüncht Nawal­nys Potential

Gene­relle Skepsis nicht nur gegen­über Nawalny, sondern auch bezüg­lich der gesam­ten rus­si­schen Oppo­si­tion mag daher ange­bracht sein. Auf der anderen Seite kann das die ange­mes­sene Wür­di­gung der hohen poli­ti­schen Rele­vanz des Phä­no­mens Nawalny behin­dern. Zwar ist seine poli­ti­sche Zukunft unklar. Im schlimms­ten Fall könnte er im Gefäng­nis sterben, im für ihn güns­tigs­ten Fall könnte er Russ­lands nächs­ter Prä­si­dent werden. Unab­hän­gig von diesen polaren Per­spek­ti­ven hat der jüngste Anstieg seiner Popu­la­ri­tät jedoch in jedem Fall einen mehr oder minder destruk­ti­ven Effekt für das der­zei­tige rus­si­sche poli­ti­sche Regime. Eine schein­bar gesunde, jedoch über­große Vor­sicht gegen­über der Ideo­lo­gie der rus­si­schen Oppo­si­tion läuft Gefahr, den spe­zi­fi­schen Kontext, das Ent­wick­lungs­po­ten­zial und die trans­for­ma­tive Kraft des Nawalny-Phä­no­mens zu übertünchen.

Erstens: Während eine Reihe von Nawal­nys natio­na­lis­ti­schen Äuße­run­gen – etwa in Bezug auf Geor­gien – unent­schuld­bar sind, müssen andere im heu­ti­gen Kontext Russ­lands gesehen werden. Zum Bei­spiel ist Nawal­nys Ableh­nung einer sofor­ti­gen Rück­gabe der Krim an die Ukraine, sollte er rus­si­scher Prä­si­dent werden, für viele Ukrai­ner inak­zep­ta­bel. Der Kontext solcher Aus­sa­gen ist jedoch die weit ver­brei­tete neo­im­pe­riale Tag­träu­me­rei vieler Russen als Ergeb­nis der Putin‘schen Pro­pa­ganda der letzten zwanzig Jahre. 

Unmit­tel­bar nach dem rus­si­schen Anschluss der Krim im März 2014 erklärte Nawalny in einem Gast­bei­trag für die „New York Times“ dass „Putin auf zyni­sche Weise die natio­na­lis­ti­sche Auf­wal­lung [in Russ­land] auf einen Fie­ber­pe­gel gebracht hat; die impe­ria­lis­ti­sche Anne­xion ist eine stra­te­gi­sche Ent­schei­dung, um das Über­le­ben seines Regimes zu sichern.“ Nawal­nys Plan, auf der Krim ein zweites Refe­ren­dum über die Zukunft der Halb­in­sel abzu­hal­ten, ist für Kyjiw ein unbe­frie­di­gen­der Vor­schlag. Doch allein der Plan dele­gi­ti­miert Putins Land­nahme von 2014, da diese sich auf ein Pseudo-Refe­ren­dum berief, welches die Satra­pen des Kremls im März jenes Jahres auf der Krim durch­ge­führt hatten. Nawal­nys Idee eines echten Refe­ren­dums ist im poli­ti­schen Kontext des heu­ti­gen Russ­lands einfach blas­phe­misch. Andere ambi­va­lente Äuße­run­gen Nawal­nys wirken eben­falls weniger besorg­nis­er­re­gend, wenn sie richtig im aktu­el­len öffent­li­chen Diskurs Russ­lands kon­tex­tua­li­siert werden.

Zwei­tens durch­läuft Nawalny derzeit eine rasante Evo­lu­tion von einem bloßen Anti­kor­rup­ti­ons­ak­ti­vis­ten zu einer natio­na­len Füh­rungs­per­sön­lich­keit. Es ist zwar schwer vor­her­zu­sa­gen, in welche Rich­tung und wie weit in diese Enwick­lung schließ­lich bringt. Aber er könnte – so darf man hoffen – all­mäh­lich reifer, gemä­ßig­ter und aus­ge­wo­ge­ner werden. Zwar geben seine ver­schie­de­nen frühen natio­na­lis­ti­schen Äuße­run­gen Grund zur Sorge. Doch könnte ihn seine künf­tige poli­ti­sche Ent­fal­tung trotz­dem nicht zu einem zweiten Putin oder Lukaschenka werden lassen, so er jemals die rus­si­sche Prä­si­dent­schaft übernimmt. 

Putins Auf­ent­halt in Ost­deutsch­land in den Jahren 1985–1990 hat den künf­ti­gen Prä­si­den­ten nicht dazu gebracht, ein poli­ti­scher Libe­ra­ler zu werden. Dagegen könnte Nawal­nys unfrei­wil­li­ger Auf­ent­halt als ein Patient im ver­ein­ten Deutsch­land im Jahr 2020 andere Aus­wir­kun­gen haben. Da er sich Russ­land eher als Teil des euro­päi­schen denn des eura­si­schen Raums vor­stellt, ist zu erwar­ten, dass Nawal­nys weitere poli­ti­sche Ent­wick­lung – sollte er je in hohe Posi­tio­nen auf­stei­gen – von EU-Normen und ‑Stan­dards beein­flusst werden wird. 

Drit­tens ist der poli­tisch wich­tigste Aspekt des Nawalny-Phä­no­mens weniger sein ideo­lo­gi­scher Inhalt.  Ent­schei­dend sind die bereits heute sub­ver­si­ven Aus­wir­kun­gen einer poli­ti­schen Figur wie Nawalny auf Putins System staat­li­cher Macht, per­sön­li­cher Patro­nage, öffent­li­cher Domi­nanz und sozia­len Ein­flus­ses. Der Auf­stieg Nawal­nys in den letzten Monaten hat ein auf­kei­men­des alter­na­ti­ves poli­ti­sches Zentrum geschaf­fen, welches nicht den all­ge­gen­wär­ti­gen Kli­en­tel­be­zie­hun­gen inner­halb des Putin-Regimes ent­sprun­gen ist. Statt­des­sen hat Nawalny beträcht­li­che popu­läre Unter­stüt­zung außer­halb rus­si­scher Regie­rungs­struk­tu­ren, par­al­lel zu den Netz­wer­ken der herr­schen­den Elite und völlig unab­hän­gig von Putin aufgebaut. 

Ein poten­ti­ell töd­li­cher Virus für das System Putin

Nawal­nys Auf­stieg unter­schei­det sich somit von der pal­lia­ti­ven Prä­si­dent­schaft Dmitri Med­we­dews in den Jahren 2008 bis 2012. Obwohl Nawalny Med­wed­jew scharf ange­grif­fen hat, sind die poli­ti­schen Visio­nen der beiden Poli­ti­ker von Russ­land als ein euro­päi­sches, moder­nes und demo­kra­ti­sches Land nicht weit von­ein­an­der ent­fernt. Med­wed­jew ist zwar auch ein Refor­mer, aber er ist ein Produkt und eine Geisel des Putin­schen Systems, das ihn nicht über sich hin­aus­wach­sen ließ. Das außer­sys­te­mi­sche Phä­no­men Nawalny hin­ge­gen ist ein poten­zi­ell töd­li­cher Virus für das System Putin – selbst wenn Nawalny nie Prä­si­dent wird. 

Indem das Phä­no­men Nawalny die Logik von Putins Macht­py­ra­mide und Metho­den sozia­ler Kon­trolle unter­läuft, birgt es die Chance, sub­stan­zi­el­len Plu­ra­lis­mus in der Par­tei­en­land­schaft, den Mas­sen­me­dien und dem poli­ti­schen Leben Russ­lands im All­ge­mei­nen wie­der­zu­be­le­ben. Die Bedeu­tung einer solchen Trans­for­ma­tion in der Bezie­hung zwi­schen rus­si­scher Elite und Gesell­schaft kann kaum über­schätzt werden. Sobald bei­spiels­weise die natio­na­len Fern­seh­sen­der wieder zu Platt­for­men für wirk­li­chen Jour­na­lis­mus und poli­ti­sche Debat­ten werden, dürften viele ent­schei­dende Epi­so­den in Putins Bio­gra­fie und Herr­schaft neu unter die Lupe geraten – von seinem anfäng­li­chen Auf­stieg in den späten 1990ern bis hin zu Russ­lands Aus­lands­es­ka­pa­den in den letzten fünf­zehn Jahren.

Zurück­hal­tung gegen­über Nawalny wird ange­bracht sein, sollte er jemals aus dem Gefäng­nis ent­las­sen werden und staat­li­che Macht erlan­gen. Heute jedoch fun­giert sein poli­ti­scher Auf­stieg und die um ihn ent­ste­hende Bewe­gung als Eis­bre­cher für das kor­rupte rus­si­sche poli­ti­sche Regime im All­ge­mei­nen und Putins zuneh­mend repres­sive auto­ri­täre Herr­schaft im Beson­de­ren. Ein plu­ra­lis­ti­sche­res und demo­kra­ti­sche­res rus­si­sches System würde das innen- und außen­po­li­ti­sche Ver­hal­ten jeder künf­ti­gen rus­si­schen Regie­rung mäßigen – auch einer, die von Nawalny selbst geführt wird. In Erman­ge­lung eines alter­na­ti­ven Weges zu tief­grei­fen­den Refor­men in Russ­land ver­dient Nawalny nicht nur unsere rhe­to­ri­sche Sym­pa­thie. Er und seine im Ent­ste­hen begrif­fene lan­des­weite Oppo­si­ti­ons­be­we­gung sollten die volle poli­ti­sche Unter­stüt­zung aller haben, die auf eine neue rus­si­sche Demo­kra­ti­sie­rung hoffen.

 

Dieser Artikel ist – in gekürz­ter Fassung – am 10. Februar 2021 in der „Neuen Zürcher Zeitung“ erschie­nen.

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