Neue Ostpolitik? Russland und die Ukraine in der deutschen Debatte
Konstruktive Beziehungen mit Russland liegen im ureigenen Interesse deutscher Außenpolitik. Aber wir können sie nicht erkaufen, indem wir die normativen Grundlagen der europäischen Friedensordnung über Bord werfen. Die Annexion der Krim und die Intervention in der Ostukraine bleiben völkerrechtswidrig. So lange der Kreml die Unabhängigkeit des post-russischen Raums nicht respektiert, kann es kein „Business as ususal“ mit Moskau geben.
In den außenpolitischen Sondierungen für eine Jamaika-Koalition sprachen sich die Verhandler für gute Beziehungen mit Moskau und fortgesetzte Dialogbereitschaft aus. Gleichzeitig bekräftigten sie die Gültigkeit des Völkerrechts und die Notwendigkeit einer gemeinsamen Russland-Politik des Westens. Damit ist einstweilen nur das Spannungsfeld beschrieben, in dem sich die deutsche Ostpolitik bewegt. Ob das eine Fortsetzung der bisherigen Linie oder eine Kursänderung bedeutet, bleibt einstweilen offen. Das Reizwort „Sanktionen“ wurde im Sondierungsprotokoll ebenso gemieden wie eine klare Beschreibung der russischen Herausforderung, mit der sich Europa seit der Rückwendung Putins zum Autoritarismus nach innen und einer militärischen Großmachtpolitik nach außen konfrontiert sieht.
Jamaika ist in der Russlandpolitik uneins – das ist kein Geheimnis. Schon im Wahlkampf hatte FDP-Chef Christian Lindner einen Testballon steigen lassen, der auf eine Neuausrichtung der deutschen Russland-Politik abzielte. Sein Stellvertreter Kubicki legte kräftig nach. Es geht um lukrative Geschäfte und politische Zusammenarbeit mit Moskau. Dafür soll der Stolperstein Ukraine beiseite geräumt werden.
Mit dieser Haltung stehen die beiden keineswegs allein. Horst Seehofer demonstriert bei jeder Gelegenheit, dass er in der Russland-Frage mit Angela Merkel uneins ist. Ganz zu schweigen von Altkanzler Schröder, der seine lukrativen Jobs im Dienst russischer Staatskonzerne mit lautstarken politischen Empfehlungen verknüpft. Flankiert werden sie von ganz links und ganz rechts. Für AfD und Linkspartei bedeutet „Frieden in Europa“ vor allem Partnerschaft mit Russland. Die wegen der Annexion der Krim und der militärischen Intervention in der Ostukraine verhängten Sanktionen stören die strategische Partnerschaft mit dem Kreml. Also sollen sie fallen, ohne dass sich irgendetwas an dem zugrunde liegenden Sachverhalt geändert hätte.
Die Gegner der Sanktionspolitik treten gern mit dem Gestus des Tabubrechers und Realisten auf. Dabei besteht ihr Realismus in nichts anderem als in der Anerkennung der mit Gewalt geschaffenen Tatsachen. Sie fordern schlicht, der Westen möge sich mit der Einverleibung der Krim und der Errichtung eines russischen Protektorats im Donbas arrangieren, Völkerrecht hin oder her. Dass dabei die Fundamente der europäischen Friedensordnung – Gewaltverzicht, territoriale Integrität und gleiche Souveränität aller europäischen Staaten – gleich mit über Bord gehen, stört keinen großen Geist.
Das bestehende Sanktionsregime unterscheidet präzise zwischen der Krim und der russischen Intervention in der Ostukraine. Die Sanktionen gegen die Einverleibung der Krim sind rein lokaler Natur. Sie bekräftigen, dass diese Annexion völkerrechtswidrig ist und nicht anerkannt wird. Deshalb soll alles unterbunden werden, was zur Legitimierung dieses Gewaltakts beiträgt und die russische Herrschaft über die Krim befestigt. Das könnte der Kreml vermutlich wegstecken. Dagegen treffen die Sanktionen wegen des unerklärten Kriegs in der Ostukraine die russische Volkswirtschaft härter, insbesondere im Finanz- und Energiesektor.
Das zwischen Putin und Poroshenko ausgehandelte „Minsker Protokoll“ sieht eine Rückkehr des Donbas in die ukrainische Souveränität vor. In den jüngsten Äußerungen unseres amtierenden Außenministers ist davon keine Rede mehr. Sobald ein halbwegs stabiler Waffenstillstand herrscht, soll die EU den Wiederaufbau in den von Russland kontrollierten Gebieten finanzieren. Das läuft auf die Zementierung des Status quo hinaus. Was Sigmar Gabriel auf den letzten Metern seiner Amtszeit unternimmt, ist nichts weniger als eine Revision der Russland-Politik Europas.
Der Kreml will die Sanktionen loswerden, ohne seine Ukraine-Politik zu verändern. Er setzt auf die Russland-Lobby in Deutschland und auf die Spaltung des Westens. Wer sich auf dieses Spiel einlässt, ermutigt nicht eine Richtungsänderung der russischen Politik. Vielmehr bestärkt er Putin & Co in ihrem Kalkül, dass Europa früher oder später einknicken wird. Was der starke Mann im Kreml will, ist die Anerkennung einer russischen Interessensphäre, zu der selbstverständlich auch die Ukraine gehört. Das läuft auf eine Neuauflage der Breshnew-Doktrin von der „begrenzten Souveränität“ der Staaten in Moskaus Machtbereich hinaus. Soll das die Geschäftsgrundlage für eine Normalisierung der Zusammenarbeit sein? Das wäre Appeasement statt Realpolitik.
Der russische Schriftsteller Victor Jerufejew konstatierte dieser Tage auf einer Konferenz in Berlin, dass der Westen nicht versteht, was Putin allzu gut verstanden hat: Die Zukunft der Ukraine hat großen Einfluss auf die Zukunft Russlands. Wer ein modernes, demokratisches und europäisches Russland will, muss alles tun, um den Weg der Ukraine nach Europa zu unterstützen.
Konstruktive Beziehungen mit Russland liegen im ureigenen Interesse deutscher und europäischer Außenpolitik. Aber wir können sie nicht erkaufen, indem wir die normativen Grundlagen der europäischen Friedensordnung über Bord werfen. Das wäre die Rückkehr zu einer „Achse Berlin-Moskau“, an die sich unsere mittel-osteuropäischen Nachbarn nur mit Grausen erinnern. Unsere historische Verantwortung für den Vernichtungskrieg im Osten gilt nicht nur gegenüber Russland. Sie gilt nicht weniger gegenüber dem heutigen Polen, der Ukraine, Weißrussland und den baltischen Nationen. Das sollte man im Kopf haben, wenn man heute wieder glaubt, man könnte sich über die Köpfe dieser Länder hinweg mit dem Kreml arrangieren.
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