Putinismus nach Putin? Russlands Nachfolgeproblem birgt Chancen und Risiken
Putin 2022 vor dem Minin-und-Poscharski-Denkmal am Roten Platz. Die Bronzeplastik erinnert an die Anführer des Volksaufstandes von 1612, der das Ende der „Zeit der Wirren“ markiert. Experten befürchten nach Putins Abtritt eine neue Zeit der Wirren.
Wie lange Putin an der Macht bleibt, weiß niemand. Laut der 2020 geänderten Verfassung kann er noch bis 2036 regieren – er wäre dann über 80 Jahre alt. Klar ist schon jetzt, dass wegen der Erosion der staatlichen Institutionen unter Putin ein reibungsloser Machtwechsel unwahrscheinlich ist. Das steigert aber auch die Chancen auf etwas Besseres als ein schlichter Putinismus 2.0.
Der offensichtlichste und unmittelbarste Risikofaktor für Putins Herrschaft ist der russisch-ukrainische Krieg. Wird er verloren, geraten Putins Legitimität und Regime unter Druck, ja könnten zusammenbrechen. Die rasche und weitgehend gewaltfreie Übernahme der Krim war der Höhepunkt seiner Herrschaft. Umgekehrt würde ein langwieriger und blutiger Verlust der geschätzten Halbinsel zu seinem Tiefpunkt und möglichen Ende führen.
Andere Risiken für das derzeitige russische Regime, beispielsweise im Kaukasus, kommen hinzu. Wirtschaftliche Rezession und ihre sozialen Auswirkungen, ökologische und industrielle Katastrophen oder innenpolitische Instabilität sind potenzielle Gefahrenquellen für Putins Herrschaft. Die überraschende Meuterei des Söldnerführers Jewgeni Prigoschin im Sommer 2023 und die antisemitischen Unruhen im nordkaukasischen Machatschkala im Herbst 2023 deuten auf internen Kontrollverlust hin, wie er zuvor nicht zu beobachten war. Auch Putins Gesundheitszustand könnte sich verschlechtern – obwohl Außenstehende dies nicht mit Sicherheit wissen können.
Wie auch immer: Aus dem einen oder anderen Grund wird Putin spätestens 2036 aus dem Amt sein – vielleicht viel früher. Die Millionen-Dollar-Frage wird dann sein, was aus dem Putinismus wird. Kann das derzeitige Regime mit einer neuen Führungsfigur oder kollektiven Führung überleben und Putins Erbe fortführen? Oder wird das „System Putin“ nach Fortgang seines Schöpfers mehr oder weniger spektakulär zusammenbrechen?
Dies ist nicht nur eine Gretchenfrage für Experten. Es ist weit mehr noch eine Herausforderung für die Bürger Russlands sowie für außen- und wirtschaftspolitische Entscheidungsträger rund um die Welt. Sollen sich Russen und Nicht-Russen, ausländische Regierungen und private Investoren, nationale und internationale Organisationen usw. auf politische Kontinuität oder radikale Veränderung im größten Land der Erde einstellen?
Auf dem Weg zu Putinismus 2.0?
Einige Russlandbeobachter erwarten eine geordneten Machtübergabe innerhalb der derzeitigen politischen Elite und Struktur. Dies würde wahrscheinlich eine Verlängerung der gegenwärtigen Regierungsform und Außenpolitik bedeuten. In diesem Szenario würde es zu einer Adaption des gegenwärtigen Systems – nicht aber zu seinem Sturz – kommen. Das Regime könnte sich entweder zu einem noch stärker zentralisierten und zunehmend neostalinistischen Regime entwickeln. Oder es könnte zur Proto-Demokratie der späten Präsidentschaft Boris Jelzins zurückkehren.
Sind historische Lehren und vergleichende Überlegungen, auf denen solche Annahmen beruhen, jedoch ohne weiteres anwendbar? Sowohl das zaristische als auch das sowjetische Russland haben freilich mehrfach Regierungsmacht in autoritären oder totalitären Kontexten an neue Führungsfiguren übertragen. Auch andere postsowjetische Regime schafften es, ihre Führer zwar auszuwechseln und dabei ihre autokratischen Systeme sowie hohe Elitenkontinuität zu sichern.
Solche früheren russischen oder anderen postsowjetischen Übergänge unterscheiden sich jedoch womöglich vom künftigen russischen Regierungswechsel. Vergangene und nichtrussische Machttransfers im postsowjetischen Raum erfolgten im Rahmen formeller oder informeller institutioneller Rahmen, welche aus ferner oder jüngster Vergangenheit geerbt wurden. Dazu gehören z.B. dynastische Prinzipien, Einparteiensysteme oder Konsensherrschaft regionaler Clanbündnisse. Monarchische, kommunistische, patriarchalische oder andere überkommen Traditionen gaben bestimmte Leitlinien für einen Regierungswechsel vor. Sie lenkten, begrenzten und sicherten an der Aushandlung und Durchführung des Machtwechsels beteiligte Akteure.
Wie stark sind russischen formale Prozeduren und informelle Verhaltensregeln für politische Übergangszeiten heute? Welche Bedeutung haben etwa die Verfassung und Gesetze Russlands auf der einen Seite und der Korpsgeist sowie gegenseitige Respekt innerhalb der derzeitigen Elite auf der anderen Seite? Ist eine dieser formellen und informellen Institutionen oder ihre Kombination in der Lage, eine geordnete Transition zu moderieren und ein neues Gleichgewicht zu stabilisieren? Diese Fragen sind für die Zukunft Russlands von entscheidender Bedeutung, aber schwer zu beantworten.
Institutioneller Missbrauch und Niedergang
In den letzten 24 Jahren haben Putin & Co. die meisten offiziellen russischen Institutionen systematisch verwässert, unterminiert oder pervertiert. Ob nationale Wahlen oder Privateigentum, die Russisch-Orthodoxe Kirche oder das Verfassungsgericht, Massenmedien oder politische Parteien – diese und andere russische Strukturen und Milieus sind alle mehr oder minder kompromittiert. Sie erlitten Manipulation, Instrumentalisierung, Aushöhlung, Unterwanderung und ähnliches. Selbst die prominenteste und mächtigste Institution Russlands, das Präsidentenamt, hat seit der seltsamen Präsidentschaft Dmitrij Medwedjews 2008–2012 einen unklaren Status.
Die letzten drei Machtwechsel an der Spitze Russlands waren alle nicht vollständig vorherbestimmt. Die Ernennung Michail Gorbatschows zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU im Jahr 1985 erfolgte erst nach erheblichen Querelen innerhalb des Politbüros. 1991 bewarb sich Boris Jelzin um das neue Amt des russischen Präsidenten in Wahlen, bei denen es alternative Kandidaten gab – von Wadim Bakatin bis Wladimir Schirinowski. In den folgenden Jahren stand Jelzin mehrmals kurz davor, aus seinem Amt gedrängt zu werden. Ende 1999 sahen sich Wladimir Putin und seine neue Partei „Einheit“ bei den Duma-Wahlen mit der damaligen Vaterlandspartei einem zunächst potenten politischen Konkurrenten gegenüber. Erst nach dem schlechten Abschneiden der Vaterlandspartei bei den Parlamentswahlen stellten sich Russlands größte Oligarchenclans 2000 hinter Putin als Präsidentschaftskandidaten.
Diese Machtübertragungen geschahen alle mittels Mischung formaler Prozeduren mit informellen Interaktionen. Sie wurden durch bestimmte ererbte und akzeptierte Verfahren kanalisiert, darunter mehr oder weniger bedeutsame Wahlen in den Jahren 1991 und 1999. Die Frage ist heute: Wie werden die informellen Methoden und öffentlichen Mechanismen zur Bestimmung von Putins Nachfolger oder Erbengemeinschaft aussehen? Das russische Nachfolgeproblem ist vielschichtig und seine Lösung in mehrfacher Hinsicht unklar.
Drei Herausforderungen für Putinismus 2.0
Erstens ist unklar, was für jeden Akteur mit politischem und wirtschaftlichem Einfluss auf dem Spiel steht. Welche Auswirkungen wird die Wahl dieser oder jener neuen Führung für die beteiligten Protagonisten in den oberen Etagen der Machtelite haben? Können sie ihre Positionen, Besitzstände oder/und Freiheiten verbessern, behalten oder verlieren? Wie hoch ist ihr Einsatz? Könnten einige gar ihr Leben verlieren?
Solche Fragen sind nicht nur für Beobachter, sondern auch für die Teilnehmer selbst schwer zu beantworten. Unter Putin war das Verhalten des russischen Staates immer mehr von Willkür geprägt. Einige Akteure könnten daher die Nachfolgefrage als existenziell betrachten. Sie werden dementsprechend mit Nachdruck sich selbst oder ihre Kandidaten für die neue Führungsriege protegieren.
Zweitens ist unklar, welche Personen in der Lage und willens sind, sich um die Präsidentschaft oder wenigstens Aufnahme in eine neue kollektive Führung zu bemühen, und welche nicht. Es mag heute etliche Männer und Frauen in der russischen Elite geben, die ihre Kandidatur in Erwägung ziehen. Einige verfügen über ausreichende politische und/oder wirtschaftliche Ressourcen, um sich um einen Spitzenposten zu bewerben. Andere haben vielleicht Ehrgeiz, aber nicht genug Geld und Einfluss hierfür.
Wem werden die Geheimdienste und anderen bewaffneten Verbände, Dienste und Ministerien Russlands erlauben, an einem Nachfolgewettbewerb teilzunehmen? Werden sich die verschiedenen „Machtorgane“ innerhalb ihrer eigenen Abteilungen und untereinander einigen können, wer sich bewerben kann und wer nicht? Und was geschieht, wenn sich kein Konsens herstellen lässt?
Sollte Putin plötzlich zurücktreten, amtsunfähig werden oder sterben, wird der russische Ministerpräsident, derzeit Michail Mischustin, gemäß Verfassung zum amtierenden Präsidenten. Angesichts des Musters von Putins einstigem Aufstieg vom Ministerpräsidenten zum amtierenden und dann gewählten Präsidenten in den Jahren 1999–2000 würde Mischustin plötzlich zu einem politischen Schwergewicht. Doch Mischustin ist weder ein gut vernetzter „Silowik“ (wörtlich: Kraftmensch, d. h. mit einem Hintergrund in einem bewaffneten Dienst) noch eine prominente öffentliche Person.
Es steht zu vermuten, dass seine geringe Hausmacht und Popularität genau jene Gründe sind, weshalb er sein Amt erhalten hat und bislang ausübt. Mögliche andere künftige Ministerpräsidenten unter Putin würden könnten ähnliche „Qualitäten“ haben. Falls ein neuer Premierminister mit hoher Hausmacht und/oder Bekanntheit ernannt werden würde, wäre dies ein wahrscheinlicher Nachfolger Putins. Diese Person müsste – wie bei der Nominierung des Präsidentschaftskandidaten selbst – es allerdings erreichen, eine breite Koalition hinter sich zu bringen.
Die damit im Zusammenhang stehende dritte Frage lautet: Wer wird die „Auswahlkommission“ bilden, die den Präsidentschaftskandidaten oder einen neuen Premierminister zur Akklamation durchs Volk nominiert? Das Ergebnis einer gesamtnationalen Scheinwahl wäre, wie üblich, im Voraus festgelegt. Wird dieses Komitee der Sicherheitsrat oder ein kleinerer bzw. größerer Kreis von Personen sein? Wer wird wie die Grenzen des Zirkels der Königsmacher ziehen?
Selbst wenn sich auf die eine oder andere Weise ein konsolidiertes Selektorat formiert: Was geschieht, wenn die Selektoren keinen Konsens über den von ihnen bevorzugten neuen Präsidenten oder kollektiven Führungskreis erzielen können? Und insbesondere: Was passiert, wenn ganze Clans, Ministerien oder Behörden unterschiedliche Kandidaten favorisieren? Könnte es gar passieren, dass einflussreiche Mitglieder des Selektorats gegensätzliche ideologische Positionen einnehmen?
Normalerweise würde man in einer solchen Situation empfehlen, das Volk entscheiden zu lassen. Doch Volksabstimmungen sind in Russland seit mehr als zwei Jahrzehnten nicht mehr demokratisch. Putinistische „Wahlen“ zielen darauf ab, nationale Bestätigung des vorbestimmten Führers zu erreichen, und nicht einen freien, fairen Wettbewerb zwischen unabhängigen politischen Parteien zu ermöglichen.
Der Gewinner einer russischen Präsidentschaftswahl wird im Voraus und nicht im Ergebnis einer Abstimmung bestimmt. Die plötzliche Abhaltung landesweiter Wahlen mit ungewissem Ausgang würde Verhaltensmustern entgegenlaufen, die Tausende von Staatsbediensteten, Parteifunktionären und Polizeibeamten über zwei Jahrzehnte eingeübt haben. Für nationale, regionale und lokale Bürokraten könnte es ohne vorherige Vorbereitung oder/und Hilfe von außen schlichtweg unmöglich sein, echte Wahlen durchzuführen.
Droht eine neue Zeit der Wirren?
Russlands Führungswechsel ist mit dreifacher Unsicherheit behaftet. Unklar ist sowohl die Höhe des Einsatzes für die gegenwärtige Herrschaftselite als auch der Kreis möglicher Präsidentschaftskandidaten als auch der Kreis des Selektorats, welches den Nachfolger bestimmt. Eine Lösung dieser Fragen ist derzeit institutionell nicht vorgezeichnet. Weder ein Zentralkomitee oder eingeübter Clankonsens noch ein dynastisches Prinzip oder Wahlverfahren können dies autoritativ und nachhaltig regeln.
Solche Unbestimmtheit bedeutet nicht zwangsläufig eine chaotische Machtübergabe oder gar einen Bürgerkrieg. Sie macht jedoch ein ungeordnetes Interregnum wahrscheinlicher als ein sanftes Hinübergleiten zum Putinismus 2.0. Wie weit mögliche Konfrontationen zwischen mächtigen Akteuren eskalieren werden, ist zwar nicht vorhersehbar. Die Annahme, dass Konfliktsituationen während des Machtwechsels vermieden werden können, scheint nichtsdestoweniger allzu optimistisch.
Vielmehr könnte es, wie etwa im Russland des 17. Jahrhunderts nach Ende der Rurikiden-Dynastie, zu einer neuen „Zeit der Wirren“ kommen. Russlands Institutionenschwäche ist für alle Beteiligten potenziell gefährlich. Russen und Nicht-Russen sollten sich daher auf einen unübersichtlichen Nachfolgeprozess einstellen. Sollte der Weggang vom Putinismus 1.0 ungeordnet oder gar gewaltsam verlaufen, ist es unwahrscheinlich, dass darauf ein schlichter Putinismus 2.0 folgt. Wahrscheinlich wird sich Russlands künftiges politisches Regime auf die eine oder andere Weise vom heutigen unterscheiden.
Dr. Andreas Umland ist Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (UI).
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de