„Ich würde mich freuen, wenn Deutschland einen zweiten Churchill hervorbringt“
Bei der öffentlichen Diskussion des Zentrums Liberale Moderne „Russland und der Westen – Was auf dem Spiel steht“ gab es viel Kritik an der zögerlichen Haltung Deutschlands seit Beginn der russischen Vollinvasion und der von Bundeskanzler Olaf Scholz erklärten „Zeitenwende“. Abgeordnete von SPD, CDU und Grünen waren sich einig, dass mehr getan werden müsse, um die Bevölkerung vom Ernst der Lage zu überzeugen.
Das deutsche Zögern bei der militärischen Unterstützung der Ukraine erzeugt bei manchen Verbündeten viel Frust. Das wurde in den Beiträgen der schwedischen Expertin Charlotta Rodhe und des litauischen Europapolitikers Andrius Kubilius klar. Beide kritisierten, dass der Grund für die deutsche Gehemmtheit offenbar Furcht vor einer Eskalation des Krieges und vor einem Zerfall Russlands sei. Beide Ängste seien aber falsch und dürften keine politische Triebkraft sein, erklärte Rodhe. Was ihr wirklich Angst mache, sei die Aussicht auf eine Niederlage der Ukraine. Denn dann drohten massive Flüchtlingsströme und die NATO-Militärausgaben müssten angesichts eines ermutigten und aggressiven Russlands massiv steigen – auf vielleicht 2 Billionen Euro, sagte Rodhe (2023 waren es rund 1,2 Billionen).
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Mehr InformationenAngesichts dessen forderte Kubilius eine „kühne Doppelstrategie“ des Westens: Zum einen eine militärische, um der Ukraine zu einem Sieg über Russland zu verhelfen. Zum anderen eine politische Offensive, um klarere Perspektiven für einen Regimewechsel in Russland zu schaffen. Denn es sei im Interesse sowohl der russischen Bevölkerung als auch Europas, dass Russland ein normales Land werde, von dem keine Gefahr für seine Nachbarn ausgeht: „Wir haben die Verpflichtung, Russland dabei zu unterstützen, anders zu werden,“ betonte Kubilius. Ohne eine solche Perspektive komme der Westen in einen Teufelskreis, weil die Politik, Putin nicht zu provozieren stets das Gegenteil bewirkt hätte.
Der Europaparliamentarier, der von 2008 bis 2012 litauischer Premierminister war, äußerte die Hoffnung, dass Berlin mehr Führungsverantwortung übernimmt: „Ich würde mich sehr freuen, wenn Deutschland einen zweiten Churchill hervorbringt“, erklärte er.
Russland hat alle rote Linien überschritten
Kubilius und seine Vorrednerin, die polnische Spitzendiplomatin Malgorzata Kosiura-Kazmierska forderten ein Umdenken im Westen angesichts der Tatsache, dass Russland sich im Krieg gegen den Westen sehe. „Russland hat alle rote Linien überschritten und wir sollten auch unsere roten Linien im Denken überwinden und uns nicht länger fürchten, unsere Kräfte auszuspielen, erklärte Kosiura-Kazmierska, die Abteilungsleiterin Osteuropa im Warschauer Außenministerium ist.
Am drastischsten wurde der russische Putin-Gegner Michail Chodorkowski, der das Szenario einer militärischen Niederlage der Ukraine beschrieb. Der im Londoner Exil lebende Geschäftsmann rechnete vor, dass die Militärausgaben der Ukraine ohne massive Steigerung der ausländischen Hilfen schlicht zu klein seien: Während Russland zuletzt 120 Milliarden US-Dollar oder 5,4 Prozent seiner Wirtschaftsleistung für den Krieg aufgewendet habe, habe die EU zuletzt gerade mal 0,25 Prozent seiner Wirtschaftsleistung zur Unterstützung der Ukraine aufgewendet.
Angesichts des militärischen Ungleichgewichts könnte Kyjiw noch dieses Jahr die Stadt Charkiw an Russland verlieren, im kommenden Jahr Odesa. 2026 sei die Ukraine möglicherweise nur noch zu einem Partisanenkrieg im Stande. Wer das zulasse und auf Verhandlungen mit Russland setze, der müsse den Ukrainern ehrlich sagen: „Wir haben euch verraten, hört auf, sinnlosen Widerstand zu leisten,“ konstatierte Chodorkowski.
Nicht verordnen, sondern die Menschen begeistern
Den zweiten Teil des Abends, in dem Bundestagsabgeordnete auf die Erwartungen der Verbündeten reagierten, eröffnete der SPD-Politiker Diemtar Nietan, der sehr emotional dafür warb, Mehrheiten in der Bevölkerung für mehr Unterstützung der Ukraine zu gewinnen. „Am Ende können wir den Kampf für die Freiheit nicht verordnen, sondern müssen die Menschen dafür begeistern,“ betonte Nietan, der auch Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit ist. Leider hätten sich weite Teile der Bevölkerung „ins Biedermeier“ zurückgezogen.
Nietan, der 2025 nicht mehr zur Wiederwahl antritt, betonte, dass dies nur möglich sei, wenn die großen demokratischen Lager mehr Einigkeit zeigten. Er beklagte, dass „eingeübte Rhetorik“ der Parteien und eine Kultur der Schuldzuweisungen das verhinderten. „Ich habe den Eindruck, dass die politischen Eliten die Chance verbaseln, alle hinter der Freiheit zu versammeln,“ warnte er.
Der CDU-Politiker Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion, ignorierte allerdings Nietans Wunsch nach einem Austausch ohne parteipolitische Rituale. Stattdessen argumentierte er, dass Teile der SPD und Bundeskanzler Olaf Scholz die Hauptschuld treffe, dass die „Zeitenwende“ nicht richtig umgesetzt werde. Hardt betonte, dass FDP, Grüne und Union hinter Kyjiw stünden. „Wir haben eine klare demokratische Mehrheit für mehr Hilfe für die Ukraine, die kommt aber nicht zum Tragen, weil in der Koalition eine Gruppe angeführt vom Kanzler, das verhindert.“
Robin Wagener von der Bündnisgrünen pflichtete Nietan bei, dass in der Außenpolitik zu oft innerdeutsche Politdebatten hochkochten und dass starke demokratische Allianzen nötig seien. Neben der Solidarität mit der Ukraine müssten auch Deutschlands Eigeninteressen in den Vordergrund gestellt werden. Das sei angesichts andauernder hybrider Angriffe Moskaus mehr als gerechtfertigt. Wagener forderte auch, die Schuldenbremse zu lösen und die in Europa eingefrorenen russischen Zentralbankgelder für die Unterstützung der Ukraine zu nutzen. Es sei nicht einsehbar, dass westliche Steuerzahler für die von Russland angerichteten Schäden bezahlen müssten, sagte er.
Hoffnung auf eine Koalition der Willigen
Zum Schluss der Runde äußerte Marieluise Beck (Zentrum Liberale Moderne) die Hoffnung, dass sich eine bereits von Kubilius angedeutete „Koalition der Willigen“ aus Ländern wie Polen, Litauen und Tschechien bildet, die dann Deutschland vor sich hertreiben werde. „Angesicht des Zeitdrucks, unter dem die Ukraine steht, halte ich das für eine strategische Möglichkeit,“ resümierte die langjährige Grünen-Bundestagsabgeordnete.
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