Wieso Putin so verrückt geworden ist
Mit seinem Krieg gegen die Ukraine hat sich Wladimir Putin schwer verkalkuliert. Der russische Staatschef ist Opfer seiner eigenen propagandistischen Visionen geworden und ist von der Reaktion des Westens überrascht worden.
Drei Wochen nach Beginn des russischen Angriffkrieges gegen die Ukraine ist offensichtlich, dass Präsident Putin sich schwer verkalkuliert hat. Das ukrainische Volk steht geschlossen gegen den Feind, der russische Vormarsch verläuft schleppend, und niemand weiß, was der Kreml nach einer Einnahme Kyjiws zu tun gedenkt. Angesichts der beispiellosen westlichen Sanktionen und des massenhaften Rückzugs internationaler Unternehmen scheint der Schaden für Russlands Wirtschaft und sein internationales Ansehen enorm.
Vor dem Krieg waren die meisten Experten, darunter auch ich, der Ansicht, dass Putin die Ukraine nicht angreifen wird, entweder weil er nicht über die notwendigen strategischen Kräfte verfügt, um das gesamte Land zu besetzen, oder weil eine mögliche militärische Niederlage seine Macht zu Hause gefährdet. Der Beginn der russischen Offensive hat viele Menschen zu der Annahme veranlasst, dass Putin wahnsinnig geworden ist und den Sinn für die Realität verloren hat. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte bereits 2014, dass der russische Staatschef „in einer anderen Welt“ lebt.
Wie konnte das passieren? Ich würde dafür drei Hauptfaktoren nennen.
Putin als Opfer seiner eigenen Propaganda
Erstens war Putin wohl schon immer ein russischer Imperialist, der vom Untergang der Sowjetunion schockiert war und glaubt, dass die Ukraine dabei eine Schlüsselrolle spielte. Das stimmt zumindest teilweise: Die Ukraine war die größte Sowjetrepublik, die sich im Sommer 1991 weigerte, einen neuen Unionsvertrag zu unterzeichnen; sie ratifizierte nicht einmal die lose Charta der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; sie lehnte Russlands Kandidaten im Präsidentschaftsmarathon 2004/05 ab; sie entschied sich gegen die Zoll- bzw. Eurasische Union mit Russland, und lehnte sich schließlich 2014 gegen die von Moskau auferlegte Kündigung des EU-Assoziierungsabkommens auf.
Putin bemühte sich nach Kräften, die Ukraine auf seine Seite zu ziehen, und wurde durch die Orangene Revolution 2004 und die Revolution der Würde 2014 gedemütigt; es gelang ihm nicht, das Land zu spalten und die von ihm geliebten Minsker Vereinbarungen durchzusetzen. Er versuchte wie wahnsinnig zu beweisen, dass Ukrainer und Russen entweder dasselbe Volk oder kulturell und historisch untrennbar miteinander verbunden sind. Als er begriff, dass ihm die Zeit davonlief, ging er das Risiko einer Invasion ein, weil er von seinen eigenen – primitiven und irreführenden – Argumenten besessen war. So wurde er ein Opfer seiner eigenen Propaganda-Bilder und ‑Visionen. Er glaubte aufrichtig, dass Russland alle Demütigungen der postsowjetischen Ära wiedergutmachen sollte – und kann – und wurde süchtig danach und war bereit, sich um fast jeden Preis zu rächen.
Putin hat sich im Westen getäuscht
Zweitens hat sich Putin bei der Einschätzung der Reaktion des Westens auf die russische Invasion gewaltig geirrt. Hier würde ich sagen, dass sein Irrtum nicht so gewaltig war, denn den westlichen Staaten waren seine Abenteuer seit Jahren ziemlich gleichgültig. Nach dem Einmarsch in Georgien 2008 und der Anerkennung Abchasiens und Südossetiens als „unabhängige“ Staaten, wurden fast keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Nach der Annexion der Krim, dem Krieg in der Ostukraine (Donbas) und dem Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH-17 wurden vor allem symbolische Sanktionen verhängt – fragt man Russen auf der Straße nach deren Auswirkungen, antworten sie, dass nur das Lebensmittelembargo spürbar ist, was aber eine russische und keine westliche Maßnahme ist.
Angesichts der Tatsache, dass der Krieg im Donbas mehr als 14.000 Menschenleben gefordert hat, aber keine entscheidenden Auswirkungen auf die russische Wirtschaft hatte, konnte Putin mit Fug und Recht erwarten, dass ein erneuter Vorstoß in die Ukraine keine nennenswerten Sanktionen nach sich ziehen würde. Hätte sich der Westen bereits vorher glaubhaft für einen Stopp von Nord Stream 2, einen SWIFT-Rauswurf sowie die Sperrung der russischen Zentralbankreserven ausgesprochen, wäre Putin vielleicht nicht so stark motiviert gewesen. Doch leider haben sich nicht nur er sich verrechnet, sondern auch alle seine Berater.
Die Putinsche Machtvertikale funktioniert nicht
Das dritte Element ist wohl am wenigsten von Putins Denkweise abhängig, ist aber die Folge seiner langjährigen Herrschaft. In den vergangenen 22 Jahren hat er eine äußerst loyale, aber nicht sehr effektive „Machtvertikale“ geschaffen, die aus unprofessionellen Leuten besteht, die überwiegend damit beschäftigt sind, sich entweder selbst zu bereichern oder Karriere zu machen, was beides die bedingungslose Unterwerfung unter den Willen ihres Chefs erfordert.
Sehr aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Geschichte des 5. Dienstes innerhalb des Inlandgeheimdienstes FSB, der für die Überwachung des postsowjetischen Raums zuständig ist. Am 11. März berichteten zwei investigative Journalisten, dass der Chef des Dienstes und sein Stellvertreter unter Hausarrest gestellt wurden, offenbar weil Putin über die Qualität der Informationen über die militärischen Fähigkeiten der Ukraine verärgert war.
Das Gleiche gilt für das russische Militär, das als modern und gut ausgerüstet galt, aber mit Lastwagen sowjetischer Bauart in die Ukraine fuhr, ohne dass die Soldaten wussten, wohin und zu welchem Zweck. Diese Fehler sind wenig überraschend, weil Putin extrem abhängig ist von Informationen, die ihm von seinen Leuten präsentiert werden – es handelte sich also nicht um Wahnsinn im eigentlichen Sinn, sondern um eine Folge des dysfunktionalen Charakters des von ihm geschaffenen Systems.
Der Krieg in der Ukraine ist übrigens ein massiver und seltener Beweis für Putins Konflikt mit der Realität. In fast allen anderen Bereichen hat er bisher viel erfolgreicher (oder glücklicher) agiert als hier. Eigentlich ist ihm die russische Wirtschaft fast egal – aber alle aktuellen Krisen wurden einigermaßen bewältigt. So konnte die Lebensqualität von 2013 im Großen und Ganzen bis heute aufrechterhalten werden. Er nutzt die einfachsten Mittel, um die politische Opposition zu zerschlagen, und es sieht so aus, als hätte er den richtigen Weg gewählt, um keinen Dialog mit seinen Gegnern aufzunehmen, da die Zahl derjenigen, die zu offenem Widerstand bereit sind, insgesamt sehr gering ist.
Putin hat sonst oft mit den richtigen Mitteln und kohärenten Antworten auf Krisen reagiert – aber die „ukrainische Frage“ hat ihn verrückt gemacht und wird mit großer Sicherheit das Ende seiner Herrschaft herbeiführen.
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