„Die Eskalation mobilisiert die europäische Staatengemeinschaft“
Steht ein russischer Einmarsch in der Ukraine unmittelbar bevor? Wie soll der Westen Putin stoppen? Und was würde eine Zerschlagung von Memorial bedeuten? Mit dem Grünen-Europaabgeordneten Sergey Lagodinsky haben wir über diese und andere Themen gesprochen.
Russland verstehen: Herr Lagodinsky, Russland hat wieder knapp 100.000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine in Stellung gebracht. Vorige Woche hat Wladimir Putin von US-Präsident Biden gefordert, die Ukraine nicht in die NATO zu lassen und dann einen „Genozid“ an Russen in der Ostukraine beklagt. Wie besorgt müssen wir über einen neuerlichen russischen Einmarsch in die Ukraine sein?
Lagodinsky: Besorgt muss man eigentlich immer sein. Allerdings wurde Putins Völkermord-Zitat etwas zugespitzt. Er hat ja gesagt, dass das was im Donbas passiert, sehr an Genozid erinnert und dass Russenhass („Russophobie“) immer ein erster Schritt dahin ist.
Aber die Gefahr eines russischen Einmarsches – gerade unter dieser fadenscheinigen Begründung – ist nicht neu, schon 2008 ist Russland in Georgien einmarschiert und zwar mit der Begründung, dass in Zchinwali (Südossetien) Völkermord zu verhindern sei. Insofern ist „Völkermord“ im Munde von Putin auch ein Signalwort, was uns alle aufhorchen lassen muss.
Sergey Lagodinsky wurde 1975 im russischen Astrachan geboren. 1993 übersiedelte seine Familie nach Kassel. Nach einem Studium in Harvard arbeitete er für das American Jewish Committee in Berlin und trat in die SPD ein. 2011 wechselte er zu den Grünen. Nach kurzer Anwaltsätigkeit wurde er Referatsleiter EU/Nordamerika in der Heinrich-Böll-Stiftung. Seit 2019 sitzt er im EU-Parlament, wo er stellvertretender Vorsitzender des Rechtsausschusses und stellvertretendes Mitglied im Innen- und Außenausschuss ist.
Also ist der Aufmarsch diesmal kein Bluff?
Lagodinsky: Ich denke, dass Putin das in erster Linie macht, um uns in der EU und der Ukraine alle nervös zu machen und um dann den Anblick zu genießen. Der Kreml kostet das medial aus, wie er das auch während der von Belarus provozierten Migrationskrise an der EU-Grenze tat. Wie damals denke ich aber, dass die sich verkalkuliert haben.
Denn die provozierte Eskalation mobilisierten doch gerade die europäische Staatengemeinschaft und zwingt uns, sich zusammenzuraufen – auch um die EU und die NATO nicht schwach aussehen zu lassen.
Was sollten die EU und der Westen tun?
Lagodinsky: Ich hoffe, dass die EU „so nicht“ sagt. Wichtig ist, dass wir nicht in Panik oder Aktionismus verfallen, denn das ist genau das, was Putin möchte und genießt. Wir sollten ruhig und nicht kriegstreiberisch erklären, dass wir an der Seite der Ukraine stehen. Und wir müssen klar signalisieren, dass eine militärische Intervention für Russland ernste Konsequenzen hätte, indem man Pakete mit entsprechenden Maßnahmen schnürt.
Muss ein Abschneiden vom Zahlungssystem SWIFT da hinein?
Lagodinsky: Grundsätzlich können wir darüber reden. Wie realistisch das technisch wäre, müsste noch geklärt werden. Ich bin etwas vorsichtig. Jedenfalls würde das nur mit Zustimmung der EU funktionieren, da SWIFT ein europäisches Unternehmen ist. Aber diese Option sollte auf jeden Fall ernsthaft evaluiert werden. Es gibt auch andere Optionen, etwa Restriktionen für die russische Regierung sich auf internationalen Finanzmärkten zu refinanzieren. Im Gespräch ist auch das Verbot für Rubel-Konversion außerhalb Russlands, dies könnte aber auch die ausländischen Geschäftspartner russischer Unternehmen treffen. Denkbar wäre auch ein direktes Abschneiden aller russischen Banken von der Nutzung ausländischer Banken, etwa durch Verbot der Korrespondenzkonten. Wir sollen uns über solche einschneidenden Maßnahmen ernsthaft beraten.
Welche Rolle kann Deutschland spielen?
Lagodinsky: Wir sollten jetzt überlegen, wie wir einen Stopp Nord Stream 2 organisieren. Das ist ja auch die klare Position des Europäischen Parlaments. Es gibt da ja offenbar ein Umdenken bei der SPD. Ich bin sehr gespannt!
War es richtig von US-Präsident Joe Biden, jetzt ein zweites Gipfeltreffen mit Putin abzuhalten?
Lagodinsky: Ich verstehe, dass Biden versucht, Vorhersehbarkeit der Beziehungen und Verlässlichkeit des Dialogs herzustellen. Ich war aber schon beim ersten Treffen in Genf skeptisch, weil das ja schon mit einem Truppenaufmarsch erzwungen war – und jetzt haben wir das wieder. Das kann zu einer Spirale der Erpressung führen. Außerdem kommt es zu einer Täter-Opfer-Vertauschung. Plötzlich ist die Ukraine dran und soll Zugeständnisse machen. Das ist moralisch und geostrategisch nicht in Ordnung. Denn es ist doch ganz klar, wer hier besetzt und annektiert hat und wer das Opfer der Aggression ist.
Seit November wird vor dem Obersten Gericht Russlands ein Prozess um die Auflösung von „Memorial“ geführt. Wie bewerten Sie den Versuch des Staates, die wohl wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes zu zerschlagen?
Lagodinsky: Leider ist das eine geradezu typische Entwicklung. Alle, die Russland und die Anwendung der sogenannten Agenten- und Extremismusgesetze einigermaßen kennen, werden darüber nicht überrascht sein. Nach allem was in den letzten Jahren passiert ist – die Verfolgung der Zeugen Jehovas, der Krimtataren oder der Anhänger von Alexej Nawalny, kann man sich über gar nichts mehr wundern.
Memorial steht für den Cut, das Abschwören der sowjetischen Vergangenheit. Bei ihrer Gründung 1989 stand Memorial für ein neues Russland, das ein Gegenentwurf zum Stalinismus und den sowjetischen Verbrechen war. Jetzt wird diese Organisation zum 30. Jahrestag des Endes der Sowjetunion bewusst demontiert. Dass in Russland so etwas überhaupt möglich ist, ist Ergebnis einer „Volksfeinde 2.0“-Politik – der zunehmenden Hexenjagd gegen alle Andersdenkenden.
Was kann der Westen angesichts dieser Misere tun?
Lagodinsky: Ein wichtiges Signal zur Unterstützung der Zivilgesellschaft wäre die Ausgabe von humanitären Visen und ein Asyl für NGOs, dass solchen Organisationen etwa den Umzug in ein sicheres Land ermöglicht. Auch Finanzhilfen für betroffene Organisationen können helfen, auch wenn das die Mühlen der Propaganda befördert. Wir müssen uns aber darüber klar sein, dass unsere Klaviatur sehr beschränkt ist.
Was bedeutet in dieser Situation die Verleihung des Sacharow-Preises des Europaparlaments an Alexej Nawalny? Seine Tochter wird den Preis an diesem Mittwoch stellvertretend für ihren inhaftierten Vater entgegennehmen.
Lagodinsky: Der Preis ist eine Anerkennung für Nawlany und seiner Bewegung, die ihn mitträgt. Es ist auch eine Anerkennung einer neuen Generation, die Demokratie will.
Natürlich sind nicht alle einverstanden mit dem, was Nawalny in der Vergangenheit gesagt hat. Und nicht alle in Nawalnys Team sind grün-progressiv. Es ist auch kein Geheimnis, dass die Grünen im Europaparlament afghanische Frauen nominiert haben. Aber was Nawalny in den letzten Jahren gemacht hat, um Korruption in Russland aufzudecken und gegen Autoritarismus, ja mittlerweile Totalitaritarismus aufzustehen, ist einzigartig und deshalb stehen wir an seiner Seite.
Die Fragen stellte Nikolaus von Twickel.
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