Warum Diplomatie allein den Krieg nicht beenden kann
Putin mit den moskautreuen Führern der vier annektierten ukrainischen Gebiete während einer Feier im Kreml, September 2022. Foto: Imago
Forderungen, den russisch-ukrainischen Krieg mit Verhandlungen zu stoppen, verkennen, dass beide Länder sehr hohe Hürden für eine Anerkennung der gegnerischen Position haben. Das macht eine diplomatische Lösung praktisch unmöglich, schreibt Andreas Umland.
Beobachter des Russisch-Ukrainischen Krieges sind sich einig, dass er so schnell wie möglich beendet werden muss. Die meisten Ukrainer könnten nicht mehr zustimmen. Auch viele Russen, so steht zu vermuten, hätten heute nichts dagegen, wenn das Gemetzel aufhören würde. Warum gibt es dann immer noch keinen Verhandlungsfrieden und wird es wahrscheinlich auch in nächster Zeit keinen geben?
Es gibt mindestens sechs Umstände, die einen Kompromiss zwischen Kyjiw und Moskau behindern: Die heutigen Verfassungen und innenpolitischen Verhältnisse der Ukraine und Russland, die besondere Rolle der Krim sowie das historische Gedächtnis in Ostmitteleuropa. Jedes dieser sechs Hindernisse für einen Waffenstillstand ist für sich genommen hoch. Ihr kombinierter Einfluss auf Entscheidungsträger in Moskau und Kyjiw ist groß.
Zum jetzigen Zeitpunkt auf einen ausgehandelten Waffenstillstand von Dauer – ganz zu schweigen von einem stabilen Frieden – zwischen der Ukraine und Russland zu drängen, ist daher aussichtslos. Eine solche Strategie ist nicht nur nicht zielführend, sie würde auch Ressourcen binden, die zur Verfolgung vielversprechenderer Wege einer Konfliktlösung benötigt werden.
Verfassungen müssten geändert werden
Grundlagen des Völkerrechts – die Unverletzlichkeit von Grenzen und territoriale Integrität von Staaten, werden häufig als Hindernisse für einen Kompromiss zwischen Kyjiw und Moskau genannt. Diese Feststellung ist zweifellos richtig. Doch ist das Völkerrecht nicht das größte rechtliche Hindernis für erfolgreiche russisch-ukrainische Verhandlungen und Kompromisse.
In der Vergangenheit verfolgte Moskau die Strategie, separatistische Bewegungen zu schaffen oder zu unterstützen. Scheinbare oder echte Bürgerkriege wurden entfacht oder geschürt. Der Kreml schuf „Republiken“ oder „Volksrepubliken“ in seinem beanspruchten Hinterhof. Vor fast zehn Jahren ging Moskau über diese eher informelle Methode der Zerstörung unabhängiger Staaten, die aus seinem ehemaligen Imperium hervorgegangen waren, hinaus.
Im März 2014 annektierte Russland formell die Krim und machte sie offiziell zu einem Teil seiner Pseudoföderation. Im September 2022 wiederholte Moskau diesen außergewöhnlichen Schritt und erklärte vier südostukrainische Festlandregionen ebenfalls zum Teil der Russischen Föderation. Die interne Gesetzgebung Russlands wurde geändert, um die Kriegsbeute vollständig in den russischen Staats- und Politikbetrieb einzubeziehen. Infolgedessen gibt es nun fünf Verwaltungseinheiten der Ukraine, auf die die russische Verfassung und eine Vielzahl unterer russischer Rechtsakte wie Gesetze, Dekrete, Beschlüsse usw. Anspruch erheben.
Nach ukrainischem und internationalem Recht ist dieser Anspruch Moskaus null und nichtig. Entgegen einer weit verbreiteten Meinung in Russland und einiger irregeleiteter Beobachter außerhalb ist der von Russland verkündete Anspruch auf die fünf besetzten ukrainischen Regionen auch historisch dubios. Diese Gebiete wurden vom modernen Zaren- und Sowjetimperium kolonisiert und waren nicht im Besitz des russisch-moskowitischen Ursprungsstaats. Nichtsdestotrotz ist Moskaus illegaler und ahistorischer Anspruch auf die fünf ukrainischen Regionen nun vollständig in der russischen Verfassung, föderalen Gesetzgebung und staatlichen Struktur verankert. Insbesondere auf der Krim hat dies bereits tiefe materielle und psychologische Auswirkungen auf das tägliche wirtschaftliche, soziale, kulturelle und private Leben der dortigen Bevölkerung.
Weder die ukrainische noch die russische Verfassung lassen sich einfach ändern. Theoretisch kann die ukrainische Verfassung mit einer Zweidrittelmehrheit des ukrainischen Einkammerparlaments, der Werchowna Rada, schnell geändert werden. Eine solche Verfassungsreform wird jedoch niemals verabschiedet werden. Unter dem Druck von Berlin und Paris versuchte der ehemalige Präsident Petro Poroschenko im August 2015, die ukrainische Verfassung geringfügig und vorübergehend zu ändern, um die berüchtigten Minsker Vereinbarungen zu erfüllen. Die Anberaumung einer Parlamentsabstimmung über diese marginale Verfassungsreform führte jedoch zu gewaltsamen Zusammenstößen vor der Werchowna Rada. Mehrere Menschen starben und Dutzende wurden verletzt. Der vorgeschlagene vorübergehende Sonderstatus für die von Russland besetzten Teile des Donbas wurde vom Parlament nicht angenommen. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht anderer Faktoren wird es niemals zu einem Verzicht der Ukraine auf ihr rechtmäßiges Staatsgebiet kommen.
Die Aussicht auf eine russische Rücknahme der Verfassungsreformen von 2014 und 2022, mit denen die Annexionen umgesetzt wurden, ist zwar politisch weniger fantastisch als ein Verzicht der Ukraine auf ihre vorübergehend besetzten Gebiete. Dennoch wird eine russische Erfüllung seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen – falls und wenn es zu einer solchen Absicht im Kreml kommen sollte – nicht einfach umzusetzen sein. Es ist nicht nur politisch leichter, Gebiete zu annektieren als sie abzutreten. Russlands Verfahren zur Verfassungsrevision ist auch komplizierter als das der Ukraine.
Ein hypothetisches Votum des russischen Parlaments für die Rückgabe der Gebiete wäre nur der erste von mehreren Schritten einer neuerlichen Verfassungsreform. Damit eine solche Konfliktlösung möglich wird, müssten sich sowohl das Regime in Moskau als auch die Situation vor Ort in der Ukraine grundlegend ändern. Eine formaljuristische Rückabwicklung von Putins expansionistischem Abenteuer wird damit erst nach und nicht vor dessen materiellem Ende denkbar. Die Hoffnung, dass die Ukraine oder/und Russland als Ergebnis eines diplomatischen Prozesses eine vorübergehende Aufhebung ihrer derzeit gültigen Verfassungen beschließen, ist unrealistisch.
Hardliner auf beiden Seiten stark
Sowohl in der Ukraine als auch in Russland gibt es einflussreiche gesellschaftliche und politische Gruppen, die strikt gegen jedweden territorialen und politischen Kompromiss mit dem Gegner sind. Aufgrund des hohen Blutzolls, den der Krieg in beiden Ländern fordert, würden selbst symbolische Zugeständnisse an die andere Seite sowohl die ukrainische als auch russische Regierung vor hohe innenpolitische Herausforderungen stellen.
Schon kleine versöhnliche Schritte in Richtung der anderen Seite würden als Landesverrat gebrandmarkt werden. Mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung und ganze Parteien würden sich ihnen widersetzen. Sie würden sich Gehör verschaffen und politisch, ja vielleicht sogar physisch, aktiv werden.
Freilich sind die Falken in der Ukraine und Russland weder normativ noch politisch vergleichbar. Wie auch die territorialen Ansprüche der beiden Verfassungen unterscheiden sie sich grundlegend – moralisch, demografisch, historisch und kulturell. Auf der einen Seite fordern die ukrainischen Falken lediglich die Wiederherstellung von Recht und Ordnung. Diese Gruppe umfasst die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung – auch wenn der Anteil der Falken in der Ukraine im Laufe des Jahres 2023 etwas zurückgegangen ist.
Auf der anderen Seite stehen verschiedene Arten russischer Falken, die darauf bestehen, dass zumindest einige territoriale und politische Gewinne aus Moskaus militärischer Intervention in der Ukraine seit 2014 dauerhaft bleiben. Der radikale Flügel des russischen Falkenlagers, zu dem auch Wladimir Putin selbst gehört, ist der Ansicht, dass die bisher erreichte territoriale Ausdehnung Russlands nicht genug ist. Bestimmte Regionen, die noch nicht von Russland annektiert wurden, wie Odesa und Mykolajiw, sind demnach ebenfalls russisch. Außerdem sollte die derzeitige Nichtmitgliedschaft der Ukraine in der EU und NATO nach dieser Auffassung dauerhaft bleiben. Die Souveränität der Ukraine sollte auch in anderen Bereichen – von der Sprach- bis zur Verteidigungspolitik – eingeschränkt werden.
Das Maß an Unnachgiebigkeit der russischen Bevölkerung mag insgesamt zwar geringer als das der ukrainischen Bevölkerung sein. Es ist wahrscheinlicher, dass die russische Bevölkerung sich in Zukunft mit dem Verlust der meisten Gebietsgewinne, die Russland durch den Krieg erlangt hat, abfindet, als dass die ukrainische Bevölkerung eine schriftliche Anerkennung ihrer territorialen oder/und politischen Verluste akzeptiert. Andererseits genießt Moskaus Annexion der Krim im Jahr 2014 nach wie vor überwältigende Unterstützung in der russischen Bevölkerung – eine Stimmung, die weit über den offen imperialistischen Teil des russischen Lagers der Falken hinausgeht.
Daraus ergibt sich sowohl für den Kreml und die russische Bevölkerung als auch für externe Akteure ein seltsames strategisches Dilemma: Aus geografischen Gründen ist die Krim für Russland die am schwierigsten zu verteidigende und zu versorgende der fünf seit 2014 annektierten Regionen. Ihre Entfernung von Russland und komplizierte Erreichbarkeit macht die Schwarzmeerhalbinsel zu einer Kriegsbeute, bei der es unwahrscheinlich ist, dass sie dauerhaft in russischer Hand bleibt. Doch ist ausgerechnet die Krim die populärste von Putins territorialen Errungenschaften in diesem Krieg und wird es vermutlich auch bleiben. (Mehr zu Krim-Komplikationen unten.)
Zwar haben sich die Einstellungen einfacher Ukrainer und Russen in Bezug auf den Krieg, wie in Meinungsumfragen gemessen, seit 2014 in Inhalt und Intensität verschoben. In den letzten zwei Jahren waren die Verschiebungen in die eine oder andere Richtung in beiden Ländern besonders stark ausgeprägt. Dennoch gibt es in der Ukraine nach wie vor klare Mehrheiten für eine vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität und in Russland für eine dauerhafte Inkorporation der Krim in die Pseudoföderation. Auch gibt es in beiden Ländern lautstarke, maximalistische Gruppen, die selbst kleinere Zugeständnisse strikt ablehnen. Einige dieser besonders unnachgiebigen Teile der Gesellschaft bestehen in beiden Ländern aus Soldaten und Kriegsveteranen, die nicht nur Erfahrung im Umgang mit Waffen haben, sondern auch Zugang zu ihnen haben.
Selbst nach einer hypothetischen Änderung der russischen und/oder ukrainischen Verfassung bliebe eine doppelte innenpolitische Herausforderung für erfolgreiche Verhandlungen bestehen. Die russische und/oder ukrainische Regierung könnte aus dem einen oder anderen Grund demnächst geneigt sein, den Krieg auf dem Verhandlungsweg zu beenden oder zumindest anzuhalten. Es bleibt jedoch unklar, welchen Kompromiss sie den weniger aufgeschlossenen Teilen ihres heimischen Publikums verkaufen könnten. Angesichts der in der ukrainischen und russischen Bevölkerung mehr oder weniger weit verbreiteten Unnachgiebigkeit würden sowohl Moskau als auch Kyjiw einen Bürgerkrieg im eigenen Land riskieren.
Tatsächlich hat Russland seit 2014 gezielt versucht, seinen zunächst delegierten und später offenen zwischenstaatlichen Krieg gegen die Ukraine in einen Bürgerkrieg innerhalb der ukrainischen politischen Nation zu verwandeln. Acht Jahre lang hat der Westen diese Strategie des Kremls seltsamerweise unterstützt, indem er Druck auf Kyjiw ausgeübt hat, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen. Diese beschämende Politik insbesondere von Berlin und Paris endete erst im Februar 2022.
Wie die Prigoschin-Meuterei im Sommer 2023 zeigte, ist die Aussicht auf innere Unruhen nun auch für die russische Führung ein Thema geworden. Prigoschins bewaffneter Aufstand war eher von unzureichendem Moskauer Bellizismus als Pazifismus motiviert. Angesichts der prekären politischen Lage sowohl im russischen als auch im ukrainischen Hinterland ist es unwahrscheinlich, dass Kyjiw oder Moskau in der Lage sein werden, ausreichende Zugeständnisse zu machen, um einen dauerhaften Waffenstillstand, geschweige denn ein Friedensabkommen zu erreichen, ohne dass sich die Lage vor Ort grundlegend ändert.
Das Dilemma der Krim
Ein fünftes Hindernis für eine Beendigung des Krieges auf dem Verhandlungsweg ist die besondere Rolle, die die Krim seit 2014 für das russische Staatsverständnis und militärische Handeln spielt. Wie angedeutet, war und ist die Schwarzmeerhalbinsel der beliebteste Gebietserwerb, den Putin der russischen Nation präsentierte – ein Erfolg, der weitaus mehr Anerkennung fand als die verdeckte oder offene russische Akquisition von Transnistrien (Moldau), Abchasien und Südossetien (Georgien), sowie Donezk, Luhansk, Saporischschja oder Cherson. Und das, obwohl die Krim-Annexion 2014 auf verqueren Geschichtsnarrativen einer angeblich russischen Schwarzmeerhalbinsel beruhte.
Die Krim war in ihrer Vorgeschichte nur 32 Jahre lang – von 1922 bis 1954 – administrativ mit dem Gebiet der heutigen Russischen Föderation verbunden. Davor war sie über das Krim-Khanat (bis 1783) und das Taurische Gouvernement das Romanow-Reichs (1802–1917) mit dem Gebiet des heutigen südukrainischen Festlandes verbunden. Nach ihrer anschließenden kurzen russischen Periode war sie innerhalb der Ukrainische Sowjetrepublik (1954–1991) und unabhängigen Ukraine (seit 1991) mit dem gesamten Gebiet des heutigen ukrainischen Staates verbunden.
Der russische Charakter der Krim ist zum Teil historische Fiktion und zum Teil Ergebnis einer rücksichtslosen, ja teils massenmörderischen Bevölkerungspolitik durch Petersburger bzw. Moskauer Regierungen der vorsowjetischen, sowjetischen und postsowjetischen Periode. In den letzten 240 Jahren hat Petersburg/Moskau den Anteil der einheimischen Krimtataren an der Bevölkerung der Krim von über 84 Prozent im Jahr 1785 auf – laut offizieller russischer Statistik – ca. 12 Prozent im Jahr 2021 gesenkt. Die Zaren, die Bolschewiki und Putin haben Hunderttausende von Krimtataren mittels gewaltsamer Unterdrückung, Deportation und Vertreibung aus ihrer Heimat entfernt.
Diese Kolonialpolitik bedeutete auch die Ersetzung der einheimischen Bevölkerung durch Ostslawen. Bis 1991 betraf dies auch Ukrainer, die damals etwa ein Viertel der Bevölkerung der Krim ausmachten. Seit den 1940er Jahren ist die Mehrheit der Krim-Bevölkerung jedoch ethnisch russisch. Infolge Stalins gewaltsamer Massendeportation fast der gesamten indigenen Bevölkerung der Krim in den asiatischen Teil der Sowjetunion im Jahr 1944 stieg der Anteil der Russen auf mehr als 50 Prozent. Viele der Krimtataren starben auf dem Weg in ihr erzwungenes Exil. Die russische Mehrheit auf der Krim – erreicht durch ein Massenverbrechen – ist noch keine 80 Jahre alt.
Dennoch glauben die meisten Russen und viele außenstehende Beobachter heute, dass die Krim zu Russland gehört. Dieser Mythos wird unter Russen eher durch die Schönheit der Halbinsel, ihre langen Schwarzmeerstrände und ihr teils subtropisches Klima genährt als durch ihre weitgehend nichtrussische Geschichte. Als Putin die Krim 2014 annektierte, gerieten viele Russen derart in Ekstase, dass der von Transparency International gemessene Korruptionswahrnehmungsindex Russlands vorübergehend sank. Im Jahr der Annexion 2014 war für die meisten Russen der Himmel blauer und das Gras grüner. Dies macht nicht nur eine russische Rückgabe der Krim an die Ukraine als Ergebnis von Verhandlungen unwahrscheinlich.
Es schafft auch ein strategisches Dilemma für den Kreml. Irgendwann könnte Moskau daran interessiert sein, den Krieg zu beenden. Eine neue russische Führung könnte möglicherweise bereit sein, für dieses Ziel einen Teil des 2022 annektierten ukrainischen Festlandgebiets zu opfern. Doch hat die Krim diese Festlandgebiete nördlich der Halbinsel immer für ihre eigene Entwicklung benötigt.
Die enge geografische und historische Verbindung zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland war Hauptgrund dafür, dass die Sowjetregierung 1954 kollektiv (und nicht Nikita Chruschtschow persönlich) beschloss, die Krim von der russischen in die ukrainische Sowjetrepublik zu überführen. Im Jahr 2022 veranlasste eine ähnliche Überlegung Putin dazu, die Ukraine in vollem Umfang anzugreifen. Nach der Krim-Annexion im Jahr 2014 erkannte er, dass Russland auch die Gebiete weiter nördlich auf dem ukrainischen Festland besetzen muss, um die wirtschaftliche Entwicklung der Halbinsel zu sichern. Zwischen 2014 und 2021 war die annektierte Krim nicht nur die illegalste, sondern auch die am stärksten subventionierte Region der Russischen Föderation.
Die Krim ist Teil eines größeren Wirtschafts‑, Transport- und Geschichtsraums, der auch weite Teile des ukrainischen Festlandes umfasst. In einer hypothetischen künftigen russisch-ukrainischen Verhandlung über die Zukunft der derzeit besetzten Gebiete geht es somit nicht nur für Kyjiw, sondern auch für Moskau um alles oder nichts. Dies gilt insbesondere dann, wenn die ukrainischen Streitkräfte die 2019 errichtete Brücke von Kertsch zerstören – was früher oder später geschehen dürfte. Ein Friedensplan, in dem Russland teilweise akzeptiert, dass die Ukraine ihre Gebiete auf dem Festland zurückerhält, jedoch die Krim als Trostpreis für Moskau zurücklässt, wäre nicht nur für Kyjiw, sondern auch für den Kreml unannehmbar. Eine Krim als isolierte Exklave, die weit weg und schwer erreichbar von Russland dahinvegetiert, wäre für Moskau weder wirtschaftlich noch strategisch sinnvoll.
Dennoch sehen viele nichtukrainische Beobachter die Krim als Verhandlungsgegenstand und potenzielles Kompromissobjekt. In Wirklichkeit ist die Halbinsel keines von beidem. Ein einfacher Blick auf die Landkarte und die Geschichte sollte deutlich machen, dass die Halbinsel in Verhandlungen eher Teil des Problems als ein Mittel zu dessen Lösung wäre. Die Notwendigkeit einer engen Verbindung der Krim mit dem ukrainischen Festland im Norden, d.h. mit den Regionen Saporischschja, Cherson und Donezk, verringert das Spektrum eines Kompromisses zwischen Kyjiw und Moskau.
Nur bittere Erfahrung aus Verhandlungen mit Moskau
Der sechste und wichtigste Faktor, der Kyjiw von verfrühten Verhandlungen mit Moskau abhält, ist die historische Erfahrung mit Russland sowie vergleichende Interpretation des aktuellen Konflikts. Die ukrainische Geschichte sowie die Vergangenheit anderer ostmitteleuropäischer Staaten legen nahe, dass Russland sich nicht an eine Vereinbarung halten wird, die durch einen diplomatischen Kompromiss und nicht durch einen militärischen Sieg zustande kommt. Die unabhängige Ukraine hat in den letzten 30 Jahren Hunderte von Abkommen mit Russland unterzeichnet, von denen die meisten heute ungültig sind.
Darunter waren sowohl politische Memoranden oder temporäre Übereinkünfte wie das Budapester Memorandum von 1994 oder die Minsker Vereinbarungen von 2014/2015 als auch reguläre internationale und vollständig ratifizierte Verträge wie das von Boris Jelzin unterzeichnete trilaterale Belowescher Abkommen von 1991 oder der von Wladimir Putin unterzeichnete bilaterale russisch-ukrainische Grenzvertrag von 2003. In etlichen dieser Dokumente werden die Grenzen, Integrität und Souveränität der Ukraine von Russland ausdrücklich anerkannt. Doch selbst diejenigen, die vom russischen Präsidenten unterzeichnet und durch Abstimmung im russischen Parlament ratifiziert wurden, haben sich 2014 und 2022 als ungültig erwiesen.
Eines der frühesten und lehrreichsten postsowjetischen Beispiele für das Verhalten Moskaus gegenüber seinen ehemaligen Kolonien war die Intervention in und Verhandlungen mit der Republik Moldau in den frühen 1990er Jahren, als Putin noch ein zweitrangiger Petersburger Beamter war. Im Jahr 1992 rechtfertigte der damalige Kommandeur der 14. Russischen Armee, General Alexander Lebed, das Eingreifen seiner Truppen in einen inner-moldauischen Konflikt mit der Behauptung, die neue Regierung Moldaus sei schlimmer als die SS-Männer 50 Jahre zuvor. Lebed lieferte damals bereits jene „antifaschistische“ Expansionserklärung, die Putin später für seine Invasionen in der Ukraine 2014 und 2022 anwenden würde. Moskaus militärische Unterstützung pro-russischer Separatisten in Moldau führte zur Konsolidierung eines separatistischen Pseudostaats, der Transnistrischen Moldauischen Republik. Dabei handelt es sich um ein merkwürdig langgestrecktes Gebilde, das sich über hunderte Kilometer zwischen dem Ostufer des Flusses Nistru/Dnjestr und Moldaus Grenze zur Ukraine erstreckt.
Um das Problem zu lösen, taten Moldau und der Westen in den 1990er Jahren eben das, was viele nicht-ukrainische Beobachter heute der Kyjiw, Washington und Brüssel raten. Chişinău nahm Verhandlungen mit Moskau auf und zog internationale Organisationen wie die OSZE hinzu. Der Westen verhängte weder wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland, noch unterstützte er Moldau mit Waffenlieferungen. Im Jahr 1994 unterzeichnete Chişinău einen Vertrag mit Moskau über den Abzug der russischen Truppen aus Moldau.
Mehr noch: die Republik Moldau definierte sich in Artikel 11 ihrer neuen Verfassung, die im selben Jahr 1994 verabschiedet wurde, als blockfreies Land. Moldau schloss damit dauerhaft einen Beitritt zur NATO aus. In den folgenden Jahren fanden zahlreiche Verhandlungen zwischen Chişinău und den in der Stadt Tiraspol sitzenden Separatisten statt – mit und ohne westlicher Beteiligung. Wirtschaftlicher Austausch, zwischenmenschliche Kontakte und andere vertrauensbildende Maßnahmen, internationale Organisationen und andere Instrumente der Konfliktvermittlung, ‑minderung und ‑beilegung wurden lehrbuchartig eingesetzt.
Dennoch befinden sich die Überreste von Lebeds 14. Armee, die mittlerweile zur „Operative Gruppe“ reduziert wurde, immer noch in Transnistrien. Sie sichern weiterhin die Existenz des separatistischen Quasiregimes im Osten Moldaus. Der von Moskau unterstützte transnistrische Pseudostaat ist bislang gesund und munter. Er erfüllt für den Kreml seit 2014 die zusätzliche Funktion, eine Sicherheitsbedrohung für die Ukraine vom Westen her zu schaffen.
Seit dreißig Jahren ist die Republik Moldau eines der ärmsten Länder Europas und ein gescheiterter Staat. Das Schicksal der Republik Moldau, der Erfolg des transnistrischen Experiments und das Verhalten des Westens in diesem Konflikt wurden für Moskau zum Lehrbeispiel. Sie prägten Russlands Verhalten und Strategien in Georgien seit 2008 und in der Ukraine seit 2014. Die Vorbildfunktion der transnistrischen Blaupause ging so weit, dass einige von Moskau eingesetzte Funktionäre der Regierung des Pseudostaats in Tiraspol 2014 in den Donbas wechselten. Dort halfen sie bei der Gründung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die 2022 von Russland annektiert wurden.
Diese und andere Verhaltensmuster Moskaus verheißen aus ukrainischer Sicht nichts Gutes für Verhandlungen mit dem Kreml. Die Ukrainer sowie andere Nationen und Ethnien des ehemaligen Zaren- und Sowjetreichs haben im Laufe der Jahrhunderte viele bittere Erfahrungen mit dem russischen Imperialismus gesammelt, der heute wieder die kaum verhüllte außenpolitische Doktrin Moskaus ist. Diese historischen Lehren raten nicht nur Kyjiw, sondern auch Helsinki, Tallinn, Riga, Vilnius, Warschau, Prag oder Bukarest, einen – zumindest teilweisen – ukrainischen Sieg abzuwarten, bevor sinnvolle Verhandlungen beginnen können. Erst wenn eine militärische Katastrophe droht, wird sich Moskau auf die Suche nach einem Kompromiss einlassen, der für Kyjiw akzeptabel und tragfähig sein könnte.
Frieden nur mit plausibler militärischer Abschreckung
Irgendwann werden Verhandlungen im russisch-ukrainischen Verhältnis wieder eine Rolle spielen. Damit muss jedoch gewartet werden, bis sich die Lage vor Ort und in Moskau soweit verändert hat, dass Gespräche für Kyjiw sinnvoll erscheinen. Ein Abkommen, das unterzeichnet wird, bevor die Ukraine zumindest einen bedeutenden militärischen Vorteil und eine stärkere Verhandlungsposition erlangt hat, wäre eine Farce. Ein daraus hervorgehender Kompromiss wird allenfalls einen Aufschub und nicht das Ende des bewaffneten Konflikts bewirken.
Schlimmer noch: ein schnelles Waffenstillstandsabkommen könnte sogar dazu beitragen, Russlands Krieg insgesamt zu verlängern. Moskau würde eine Atempause dazu nutzen, sein militärisches Potential neu aufzubauen, um dann erneut vorzustoßen. In einem solchen Szenario würde ein vorschnelles Abkommen eben jenen Sicherheitsbedenken zuwiderlaufen, die zur Aufnahme der Verhandlungen geführt haben. So konnten die Minsker Abkommen 2014 und 2015 die damals anhaltende bewaffnete Konfrontation tatsächlich zunächst entschärfen. Sie haben jedoch die massive Eskalation von 2022 nicht verhindert, sondern eher mitvorbereitet.
Sobald ein sinnvolles Abkommen zwischen Kyjiw und Moskau unterzeichnet ist, muss dessen Funktionieren sichergestellt werden. Vor dem Hintergrund von Russlands Verhalten im postsowjetischen Raum in den letzten 30 Jahren wird die Sicherung eines künftigen Friedens nur mit plausibler militärischer Abschreckung gegen eine erneute Eskalation möglich sein. Damit ist die Bereitstellung substanzieller militärischer Unterstützung für Kyjiw in dreifacher Hinsicht eine richtige Strategie. Sie wird erstens dazu beitragen, den Frieden jetzt vorzubereiten, zweitens eine – im Gegensatz zu den Minsker Vereinbarungen – sinnvolle Einigung zwischen Kyjiw und Moskau zu einem zukünftigen Zeitpunkt ermöglichen und drittens den Frieden danach intakt halten.
Kyjiw hat 2014 versucht, populäre pazifistische Formeln wie „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ oder „Frieden schaffen ohne Waffen“ umzusetzen. Dieses ukrainische Verhalten geschah vor zehn Jahren mit ausdrücklicher Billigung, wenn nicht aktiver Ermutigung durch den Westen. Das Ergebnis war der größte europäische Waffengang seit dem Zweiten Weltkrieg. Trivialer Schluss aus diesem Desaster sollte sein, dass das Verhalten des Westens in diesem Konflikt von empirischer Analyse tatsächlicher Herausforderungen vor Ort geleitet werden sollte und nicht von gut gemeinten, jedoch unreflektierten Absichten sowie irrelevanten historischen Referenzen.
Der Artikel fasst die Ergebnisse eines SCEEUS-Projektes und von vier separaten Berichten im Jahr 2023 zusammen. Siehe: https://sceeus.se/en/publications/. Eine Kurzfassung ist am 5. Januar bei focus.de erschienen.
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