Deutschland braucht eine neue Russlandpolitik
Die deutsche Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte war ein Misserfolg. Statt der erhofften Demokratisierung hat sich ein autoritäres Regime entwickelt. Ziel einer neuen Politik muss sein, Russland einzudämmen und von weiteren Angriffen dauerhaft abzuschrecken.
Die deutsche Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte hat ihr Ziel nicht erreicht, im Gegenteil. Russland hat sich nicht „modernisiert“: es ist nicht zu einem demokratischen, pluralistischen Land mit einer diversifizierten Wirtschaft geworden, zu einem konstruktiven internationalen Mitspieler, der im fairen Umgang mit anderen „win-win“-Lösungen sucht. Stattdessen hat sich ein autoritäres Regime in Russland entwickelt, das seine Herrschaft mit Gewalt durchsetzt und das sich nach außen immer mehr als ein Imperium definiert, das vor allem auf Krieg als Mittel der Dominanz setzt.
Deutschland hat seit dem Ende des Kalten Kriegs eine enge Beziehung zu Russland aufgebaut. Drei Kanzler, Helmut Kohl (1982–1998), Gerhard Schröder (1998–2005) und Angela Merkel (2005–2021) haben auf eine enge politische und wirtschaftliche Partnerschaft mit Moskau gesetzt. Unterfüttert wurde diese politische Beziehung durch enge Wirtschaftskontakte, unter anderem im Energiebereich. Umgekehrt war Deutschland für Putin für zwei Jahrzehnte einer der wichtigsten Partner.
Angesichts dieser engen Beziehung zu Russland muss sich Deutschland heute die Frage stellen, welchen Anteil deutsche Russlandpolitik an dieser Entwicklung Russlands hin zum autoritären und aggressiven, die europäische Friedensordnung bedrohenden Akteur hatte – welche Fehler gemacht wurden, und was künftig anders gemacht werden muss. Nur wenn klar ist, was falsch gelaufen ist, kann es einen wirklichen Neuanfang geben.
1) Das Paradigma der deutschen Russlandpolitik bis 2022
Die Art und Weise, wie der Kalte Krieg endete, prägte die deutsche Russlandpolitik für drei Jahrzehnte. Dass sich Gorbatschow nach langem Zögern durch Verhandlungen mit den USA und der BRD dazu bewegen liess, der deutschen Vereinigung im Rahmen der Nato zuzustimmen, dass in den darauffolgenden Jahren die verbliebenen sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland wie versprochen abgezogen wurden, all das führte zu großer Erleichterung und Dankbarkeit in Deutschland. Die Risiken des Vereinigungsprozesses waren enorm, und sehr viel hing von der Entwicklung in Moskau ab.
Dass sich Russland dabei als konstruktiver Partner erwies, war die prägende Grunderfahrung dieser Jahre. Daraus entwickelte sich in der Folge eine „Russland-zuerst“-Politik. Wie die USA fokussierte auch Deutschland vor allem auf Russland und ließ den übrigen postsowjetischen Raum meist links liegen. Man setzte ganz auf Moskau. Einerseits weil man besorgt war, die Beziehung zu Russland könnte wieder zurückfallen in Feindseligkeit. Die Freiheits- und Sicherheitsgewinne seit 1989 hingen davon ab, dass Moskau sich auch weiterhin konstruktiv und partnerschaftlich verhielt. Zum anderen hoffte man auch, dass Russland in Zukunft ein verantwortungsvoller Mitspieler in einer neuen, friedlichen Weltordnung werden würde, ein enger Partner Deutschlands und Europas. Und nicht zuletzt lockten die wirtschaftlichen Potentiale Russland, insbesondere im Energiebereich.
Alle diese Motive führten dazu, dass sich die deutsche Politik Russland besonders nahe und verpflichtet fühlte. In seiner Rede im deutschen Bundestag im September 2001, auf Deutsch gehalten, machte Putin, der 1985–1990 in Dresden als KGB-Agent stationiert war, Deutschland das Angebot einer engen Partnerschaft. Russland hege „gegenüber Deutschland immer besondere Gefühle“, erklärte er. Europa könne nur dann ein „mächtiger und selbständiger Mitttelpunkt der Weltpolitik“ werden, wenn es sich mit den „menschlichen, territorialen und Naturressourcen“ sowie mit den „Wirtschafts‑, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russland “ vereinigt. Obwohl man von einer Partnerschaft spreche, habe man „immer noch nicht gelernt, einander zu vertrauen“. Doch man müsse heute „endgültig erklären: Der Kalte Krieg ist vorbei“.
Das Angebot fiel auf fruchtbaren Boden. Zwischen Putin und dem damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder entwickelte sich eine enge Beziehung. Die Gelegenheit, mit Schröder eine „Freundschaft“ aufzubauen, sah Putin gekommen, als der deutsche Kanzler sich 2003 mit Washington über den Irak-Krieg entzweite. Für einen Moment stand Schröder recht alleine da – bis der russische Präsident ihm zur Seite sprang und ihm fortan, bei einer Reihe gemeinsamer Treffen mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac, den Rücken stärkte.
Von diesem Moment an war Schröder dem russischen Präsidenten eng verbunden. Kurz vor der Bundestagswahl 2005, die zu seiner Abwahl führte, unterzeichneten Schröder und Putin eine Absichtserklärung, eine Gaspipeline durch die Ostsee zu bauen, die Russland und Deutschland direkt verbinden würde: Nord Stream 1. Nach seiner Wahlniederlage wurde Schröder dann Aufsichtsratschef der Betreibergesellschaft – ein gut bezahlter Lobbyist, der sich nicht nur um den Bau der 2011 fertiggestellten Nord-Stream-1-Pipeline einsetzte, sondern auch für die zweite Röhre, Nord Stream 2.
Angela Merkel, die Schröder 2005 nachfolgte, teilte die Begeisterung Schröders für Putin zwar nicht. Doch trotz ihrer kritischen Distanz zum Kreml änderte sie nichts an den Grundsätzen der deutschen Russlandpolitik. Bestärkt wurde sie darin auch von dem vormals engsten Mitarbeiter Schröders, Frank-Walter Steinmeier, der zweimal unter Merkel Außenminister wurde (2005–09 und 2013–17). Für Steinmeier war die „Verflechtung“ mit Russland sein zentrales außenpolitisches Projekt; immer wieder empfing ihn auch Putin persönlich, und mit Sergej Lawrow stand er in regelmäßigem, vertrauensvollen Austausch. Auch Sigmar Gabriel gehörte als SPD-Vorsitzender sowie Wirtschafts- und Außenminister unter Merkel zu den Befürwortern einer engen Partnerschaft mit Moskau, er setzte sich massiv für den Bau von Nord Stream 2 ein.
Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2014 – Annexion der Krim und verdeckter Angriff auf den Donbas – gehörte Merkel zwar zu den treibenden Kräften für westliche Sanktionen gegen Russland. Doch das Paradigma der Partnerschaft mit Russland ließ sie unangetastet. Zum einen setzte sie unbeirrt auf Diplomatie mit dem Kreml, in zahlreichen Gesprächen mit Putin in unterschiedlichen Formaten versuchte sie, den russischen Präsidenten davon zu überzeugen, dass er sich auf einem Irrweg befand. Zum anderen war sie nicht bereit, sich von der Vorstellung einer immer engeren wirtschaftlichen Verflechtung zu verabschieden und stimmte dem Bau von Nord Stream 2 zu.
Im Rückblick wird deutlich, wie naiv Merkels Hoffnung auf eine diplomatische Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine – das sogenannte Normandie-Format – war. Für Putin waren die Gespräche nur ein Versuch, mit niedrigeren Kosten zu erreichen, was er unverändert anstrebte: die Kontrolle über die Ukraine, ein Land, das seiner Auffassung nach kein Recht auf Eigenständigkeit hatte.
Bis zum offenen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 war die von Schröders aufs Gleis gesetzte und von Merkel weiter betriebene Russlandpolitik in Deutschland wenig kontrovers. Der immer wieder beschworene Grundsatz lautete, dass Russland zwar ein schwieriger, aber unverzichtbarer Partner sei, ohne den es weder eine Lösung der Konflikte in und um Europa gebe. Auch für den Kampf gegen den Klimawandel oder zur Eindämmung des iranischen Atomprogramms sei die Zusammenarbeit mit dem Kreml von vitaler Bedeutung. Lediglich bei den Grünen, die enge Kontakte zu ostmitteleuropäischen Reformern und zu russischen Dissidenten pflegten, gab es einige kritische Stimmen.
Die Instrumente, die Berlin gegenüber Moskau zum Einsatz brachte, bestanden fast ausschließlich aus „Zuckerbrot“, fast nie aus der „Peitsche“, also politischem oder wirtschaftlichem Druck. Vor allem das Gespräch galt als zentral im Umgang mit dem Kreml. Je brutaler der Kreml vorging – gegen Georgien 2008, gegen die Ukraine seit 2014, gegen Syrien seit 2015 – um so wichtiger wurde es in den Augen führender Politiker in Berlin, mit Putin zu sprechen. Doch die „Vernunft“, die Berlin in unzähligen Gesprächen mit Putin, Lawrow und anderen Exponenten des Regimes beschwor, entsprach nicht der Logik eines Regimes, das auf Gewalt nach innen und außen zum Machterhalt und zum Wiederaufbau einer dominanten Position setzte.
Auf die zunehmende Gewalt des Putin-Regimes nach innen und außen aber hatte die deutsche Russlandpolitik keine Antwort.
Ein härterer Kurs gegenüber Russland, wie ihn insbesondere Polen und Balten befürworteten, wurde in Berlin als Irrweg abgetan. Stattdessen setzte man auch weiterhin auf „weiche“ Instrumente und eine Partnerschaft mit Russland. Noch 2016 beklagte Steinmeier als Außenminister angebliches „Säbelrasseln“ der Nato gegenüber Russland. Ebenfalls 2016, nachdem bereits Russland zivile Ziele in Syrien bombardiert hatte, verkündete Steinmeier in einer Rede im russischen Jekaterinburg, beim Wiederaufbau Syriens sollten „besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten“.
Merkels Unterstützung für die Ukraine war zwar aufrichtig und wichtig. Und ihr Mitgefühl für die Opposition in Russland war genuin – sie half beispielsweise, das Leben des prominenten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny zu retten, indem sie ihn nach seiner Vergiftung in Russland im August 2020 in ein Berliner Krankenhaus bringen ließ. Doch zugleich betrieb sie die von Schröder auf das Gleis gesetzte Russlandpolitik unverändert weiter. In einer Zeit, in der die Schere zwischen dem Anspruch der deutschen Politik, die „Modernisierung“ Russlands zu fördern, und der Realität einer zunehmend auf Gewalt nach innen und außen setzenden Politik Putins immer weiter aufging. Spätestens mit dem russischen Angriff auf die Ukraine 2014/15 wäre es überfällig gewesen, ein neues robusteres Paradigma der deutschen Russlandpolitik zu etablieren, das der immer deutlicher gewordenen Bedrohung Russlands für die europäische Sicherheitsordnung gerecht geworden wäre, in enger Zusammenarbeit mit den ostmitteleuropäischen Nachbarn. Stattdessen blieb Merkel in den alten Bahnen.
2) Die Wende von 2022
Das Ende des alten Paradigmas der deutschen Russlandpolitik kam nicht freiwillig. Zwar gab es Kräfte in der im Dezember 2021 ins Amt gekommenen neuen Regierung, die eine andere, distanzierte Russlandpolitik wollten, insbesondere die Grünen. Kanzler Scholz und die SPD hingegen waren eher geneigt, der bisherigen Russlandpolitik treu zu bleiben. Eine Politik, die ja sehr wesentlich von zentralen SPD-Politiker getragen und verkörpert wurde, mit Steinmeier, Gabriel und anderen.
Es war Putins offene Kampfansage an den Westen, die der deutschen Russlandpolitik den Boden entzog: Der russische Truppenaufmarsch, der eine Drohkulisse gegen die Ukraine aufbaute, gefolgt von schriftlichen Ultimaten an die USA und die Nato, sich aus der von Russland beanspruchten besonderen Interessensphäre – Osteuropa und Ostmitteleuropa – weitgehend zurückzuziehen, schließlich der offene Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022.
Bis zuletzt hatten Scholz und Macron auf das Gespräch mit Moskau gesetzt, direkt mit Putin, aber auch im Normandie-Format – darauf hoffend, dass Russland doch an einer einvernehmlichen Lösung interessiert sei. Und selbst in den ersten Tagen des Krieges zögerte Scholz noch, einen neuen Kurs einzuschlagen; er weigerte sich zunächst weiterhin, der Ukraine mit Waffen zu helfen. Erst als der Druck von außen und innen zu groß wurde, entschloss sich der Kanzler zu einem Befreiungsschlag.
In einer Rede im Bundestag am 27. Februar verkündete Scholz eine „Zeitenwende“. Die Diagnose war deutlich, die Sprache direkt: Putin hat „kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaum gebrochen“, weil „die Freiheit der Ukrainerinnen und Ukrainer“ sein „eigenes Unterdrückungsregime infrage“ stellt. Putin ist „ein Kriegstreiber“, dem wir „Grenzen setzen“ müssen. Der Kremlherrscher will „ein unabhängiges Land von der Weltkarte tilgen“ und „zertrümmert die europäische Sicherheitsordnung“. Putin „will ein russisches Imperium errichten“, er will „die Verhältnisse in Europa nach seinen Vorstellungen grundlegend neu ordnen“. Auf „absehbare Zeit“ gefährde Putin die Sicherheit in Europa, deshalb müsse Deutschland der Ukraine mit Waffen helfen und die Bundeswehr erheblich besser ausstatten.
Das war ein Paukenschlag. Der Kanzler verkündete das Ende jener deutsch-russischen Partnerschaft, für die Putin im Bundestag 2001 so wortreich geworben hatte, und den Abschied von Maximen, die über zwei Jahrzehnte die deutsche Russlandpolitik geprägt hatten.
Doch auch wenn in den folgenden Wochen und Monaten Waffen und Munition von Deutschland an die Ukraine geliefert und westliche Sanktionen von Deutschland mitgetragen wurden, so blieb die Wirklichkeit doch hinter der am 24. Februar vorgetragenen Entschlossenheit zurück.
Dabei gab es, wie Meinungsumfragen immer wieder zeigten, breite Unterstützung für einen konfrontativen Kurs gegenüber Russland. Eine große Mehrheit der Deutschen sprach sich durchgängig für Waffenlieferungen an die Ukraine aus, insbesondere auch Wähler der Grünen. Auch als klar wurde, dass Russland Deutschland in Bezug auf Energielieferungen unter Druck setzte, blieb die Unterstützung für die Ukraine nahezu unverändert. Die Solidarität der deutschen Bevölkerung mit dem Angegriffenen war und ist sehr groß.
In Bezug auf Waffen und Munition waren es die USA, die den Löwenanteil an die Ukraine lieferten, gefolgt von Polen und anderen ostmitteleuropäischen Ländern sowie Großbritannien. Deutschland blieb, ebenso wie Frankreich, zurückhaltend und zögern. Als Scholz in der Debatte über Waffenlieferungen in die Defensive kam, warnte er im April öffentlich vor einem Atomkrieg und ließ damit erkennen, dass er sich durch die nukleare Drohung Russlands beeindrucken ließ. Dem Druck der Koalitionspartner und der über den brutalen Angriffskrieg Russlands schockierten Öffentlichkeit, mehr und schwerere Waffen an die Ukraine zu liefern, widersetzte sich der Kanzler mit immer neuen Begründungen.
Auch bei den Sanktionen gehörte Deutschland zu den Bremsern. Insbesondere blockierte Berlin auf der EU-Ebene den Versuch, massiven Druck auf Russland über Energiesanktionen auszuüben. Aus Sorge, die Bevölkerung würde die wirtschaftlichen Folgen von Energiesanktionen nicht mittragen, verzichtete die Bundesregierung auf den Einsatz dieses Instruments – und überließ es damit Putin, Gas als Waffe zu benutzen. Dass diese Waffe jedoch, als Moskau sie im Sommer zunehmend zum Einsatz brachte, sich als stumpf erwies, lag auch daran, dass die Bundesregierung über Monate daran gearbeitet hat, die Energieabhängigkeit von Russland zu minimieren.
Scholz übernahm, anders als Merkel 2014/15, keine Führungsrolle. Deutschland gehörte international eher zu den Bremsern, auch wenn es im Mainstream solide mitmachte. Eine Haltung, die Berlin leichtfiel, weil Washington schon früh die Führung des Westens übernommen hatte. Deutschland konnte sich, ebenso wie andere europäische Staaten, leicht einfügen in eine Strategie, die Washington konzipiert worden war, in enger Rücksprache mit den Alliierten. Eigene strategische Entscheidungen von großer Tragweite waren dabei gar nicht erforderlich, lediglich ein Abwägen, bei welchen der vorgeschlagenen Maßnahmen man in welchem Maße mitmachen wollte und wo man lieber auf die Bremse trat.
Die kompetente amerikanische Führung hat es den Europäern zugleich erheblich erleichtert, den Anschein von Einigkeit und Geschlossenheit nach außen zu projizieren. Dabei wurden die bestehenden Bruchlinien überdeckt. In Westeuropa, vor allem in Paris, sieht man Russland weiterhin als wichtigen machtpolitischen Player, mit dem man früher oder später doch wieder zusammenarbeiten muss. Immer wieder betont Macron, dass Frieden nur im Dialog mit dem Kreml gefunden kann. In Ostmitteleuropa, Skandinavien und Großbritannien hingegen setzt man auf Sieg gegen Russland: nur wenn Russland eine klare Niederlage erlebt, wird es seine imperialen Ambitionen aufgeben, die die europäische Sicherheitsordnung fundamental bedrohen. Diese Bruchlinien gegen mitten durch Deutschland.
Die Einigkeit und Entschlossenheit des Westens wird derzeit durch professionelle amerikanische Führung ebenso ermöglicht wie durch die schockierende Brutalität des russischen Angriffskriegs. Daraus sollte man aber nicht den Schluss ziehen, dass die alten Paradigmen der Russlandpolitik sämtlich aufgegeben worden sind. Wenn sich die Lage ändert, könnte sich auch die Stimmung wieder ändern.
Deshalb ist es wichtig, eine neue Russlandstrategie zu entwickeln, die die Zeitenwende ernst nimmt und bewusst die Konsequenzen aus der Erfahrung des russischen Angriffskriegs zieht. Die alte Politik ist gescheitert, eine neue gibt es noch nicht.
3) Was ist falsch gelaufen?
Der ursprüngliche Ansatz, auf die Transformation Russlands zur liberalen Demokratie und Marktwirtschaft zu setzen, war richtig. Es bleibt im deutschen und europäischen Interesse, dass Russland diesen Weg geht, früher oder später. Denn der Konflikt zwischen Russland und Europa ist nicht primär machtpolitisch, er ist systempolitisch in seinem Charakter. Wäre Russland eine Demokratie, dann würden die machtpolitischen Ambitionen Russlands zwar nicht sogleich verschwinden und damit auch machtpolitische Konflikte. Sie würden aber, wie bei vielen anderen Ländern, die früher Imperien, waren, eingehegt und in ihrer Bedeutung relativiert.
Der Kern der Spannungen ist systempolitisch: Was den Konflikt zwischen Russland und dem Westen so massiv werden lässt, ist die Angst der autokratischen Führung in Russland vor Demokratie, also vor der Entmachtung der politisch und wirtschaftlich führenden Elite. Ganz zentral ist die Angst vor „Farbenrevolutionen“, die laut russischer Propaganda vom Westen unternommen werden, um Russland zu schwächen. Aus Sicht des Kremls ist der Westen eben nicht nur machtpolitischer Gegner, weil er die Ambitionen Russlands, die Nachbarschaft imperial zu unterwerfen, verhindert oder erschwert. Der demokratische Westen bedroht auch die Machtbasis der autokratischen Elite zu Hause. Das erhöht die Bereitschaft zum Konflikt mit dem Westen.
Mit einem demokratischen Russland hingegen könnten Deutschland und der Westen auf vielen Feldern konstruktiv zusammenarbeiten; das Verschwinden des Systemgegensatzes würde eine wechselseitige Öffnung ermöglichen und den Machtgegensatz entschärfen. Die Bedrohung, die Russland für seine Nachbarn darstellt, würde deutlich geringer werden, auf Dauer wohl verschwinden. Ein demokratisches Russland würde die Grenzen des russischen Nationalstaats anerkennen und die Souveränität von Nachbarn respektieren. Russland würde den Weg gehen, den viele Imperien vor ihm gegangen sind.
Das Problem deutscher Russlandpolitik in den letzten Jahrzehnten war damit nicht das Ziel: die Entwicklung Russlands hin zur liberalen Demokratie zu fördern. Das Problem war vielmehr, dass die deutsche Russlandpolitik dieses Ziel kaum ernsthaft verfolgte. Stattdessen hat sich Berlin einseitig eng mit dem Kreml eingelassen und beide Augen zugedrückt, als sich Russland mehr in Richtung Autokratie und Neoimperialismus entwickelte, und mit dem Projekt der wirtschaftlichen „Verflechtung“, insbesondere im Bereich Energiepolitik.
Im einzelnen hat die deutsche Russlandpolitik der beiden letzten Jahrzehnte insbesondere drei Fehler gemacht:
Illusionen über Russland. Mit dem russischen Marsch auf die georgische Hauptstadt Tiflis 2008, spätestens aber 2014/15 mit dem Angriff auf die Ukraine hätte klar sein müssen, dass Russland sich auf einen Weg der erneuerten imperialen Aggression begab und damit eine akute Bedrohung für die Friedensordnung in Europa darstellt. Und spätestens mit der erneuten „Wahl“ Putins zum Präsidenten 2012 hätte klar sein müssen, dass sich Russland auf dem Weg zur harten Autokratie befindet.
Russland zuerst. Deutschland hat drei Jahrzehnte lang vor allem auf Russland gesetzt und Russlands Nachbarn weitgehend ignoriert. Als der damalige polnische Außenminister Radek Sikorski 2008 dem deutschen Außenminister Steinmeier seine Pläne für eine „Östliche Partnerschaft“ vorlegte und vorschlug, diese Initiative zur Stärkung der EU-Beziehungen zu Belarus, Ukraine, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan gemeinsam zu tragen, winkte Steinmeier ab. „Steinmeier stellte die Beziehungen zu Russland in den Vordergrund und sah in dem polnischen Vorschlag eher eine Gefahr für die deutschen Interessen in Russland“, schreibt Cornelius Ochmann bilanzierend (https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Presse/imported/downloads/xcms_bst_dms_31394_31395_2.pdf). Sikorski trieb dann seine Pläne gemeinsam mit dem schwedischen Außenminister Carl Bildt voran – während sich Steinmeier auf die „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland konzentrierte.
Was von Deutschland, aber auch von den USA, primär unterstützt wurde, war nicht das neue Staatensystem, das sich im Osten Europas herausbildete. Stattdessen privilegierte man Russland und ignorierte Belarus, Ukraine und Moldau ebenso wie den Südkaukasus. Man nahm in Kauf, dass sich Russland wieder zunehmend imperial verhielt und die sogenannten „eingefrorenen Konflikte“ dazu nutzte, Nachbarländer zu schwächen und zu verhindern, dass sie größere Eigenständigkeit entwickelten.
Energiepolitische Abhängigkeit. Dass Berlin nach dem russischen Angriff auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 sich nicht in der Lage sah, massive Energiesanktionen gegen Russland zu verhängen, ist Folge einer verhängnisvollen Politik der wirtschaftlichen Verflechtung, die zu einseitiger Abhängigkeit und zur Erpressbarkeit führte. Der Bau von Nord Stream 1 und 2 hatte weitere hohe Kosten für Deutschland: ein massiver Vertrauensverlust in Mittelosteuropa.
4) Auf dem Weg zu einer neuen Russlandpolitik
Angesichts des frontalen Angriffs Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 – und damit auf die europäische Friedensordnung – muss das erste Ziel einer neuen Russlandpolitik sein, russische Aggression einzudämmen und die europäische Friedensordnung so zu festigen, dass Russland von weiteren Angriffen dauerhaft abgeschreckt wird.
Daraus ergibt sich erstens die Notwendigkeit, die Ukraine massiv zu unterstützen, militärisch, politisch und wirtschaftlich. Ein Sieg der Ukraine – die weitgehende Rückeroberung des verlorenen Territoriums – bringt die Chance mit sich, dass der russische Neoimperialismus wieder an Boden verliert und dass die liberale Demokratie in Russland wieder zur Option wird.
Zweitens geht es darum, nicht nur die Ukraine, sondern auch andere östliche Staaten zu stärken, um die nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts entstandene neue Ordnung zu festigen. Je mehr die Länder der Region – innerhalb und außerhalb der NATO – in der Lage sind, ihre Souveränität gegen ein aggressives Russland zu sichern, Russland also abzuschrecken, desto stabiler ist diese Ordnung.
Drittens kann der Westen russischen Neoimperialismus nur erfolgreich zurückdrängen, wenn er sich selbst in eine Position der Stärke befindet. Dazu müssen die Europäer von russischer Energie unabhängig werden, Resilienz gewinnen – auch durch Abwehr von Desinformation und Propaganda –, und in ihre militärischen Fähigkeiten investieren.
Viertens kann das nur gemeinsam mit Washington funktionieren. Die zentrale Rolle der USA wird im Moment wieder sichtbar. Zum einen gelingt es nur den USA, die Europäer in der Auseinandersetzung mit Russland auf eine gemeinsame Strategie zu verpflichten. Zweitens besitzen nur die USA die strategischen und militärischen Fähigkeiten, auch im nuklearen Bereich, um eine solche Auseinandersetzung mit Russland zu managen. Damit die amerikanische Unterstützung erhalten bleibt, müssen die Europäer einen größeren Teil der Lasten einer solchen Auseinandersetzung tragen.
Fünftens muss der Westen auf Wandel in Russland vorbereitet sein und eine Vorstellung davon entwickeln, wie konstruktive Beziehungen mit einem veränderten Russland aussehen könnten und sollten. Das Interesse daran, dass sich Russland zur liberalen Demokratie und Marktwirtschaft hinbewegt, ist unverändert groß; ein autokratisch geführtes Russland wird immer ein großes Problem für Sicherheit und Stabilität in Ost- und Ostmitteleuropa darstellen. Wenn sich Russland auf einen solchen Weg begibt, dann sollte der Westen sehr schnell und entschieden seine Unterstützung anbieten – ohne die Fehler der letzten Jahrzehnte zu wiederholen.
Der Außenpolitikexperte Ulrich Speck hat unter anderem bei Carnegie Brussels und beim German Marshall Fund of the United States gearbeitet. Er schreibt die PRO Global Kolumne für die „Neue Zürcher Zeitung“ und twittert unter @ulrichspeck
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „„Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung des Autors wider.
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