Der Völkerrechtsbruch ist Folge innerer Entwicklungen Russlands
Die deutsch-russischen Beziehungen leiden unter der unbeschränkten Macht des Präsidenten, dem Abbau der Demokratie und daraus resultierend dem Bruch des Völkerrechts in der Ukraine. Ein Interview mit Irina Scherbakowa.
Wenn Sie nach Weimar kommen...
Irina Scherbakowa: ... dann fühle ich mich wie zu Hause. Ich war hier schon zu DDR-Zeiten, und nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde das sowjetische Sonderlager in Buchenwald ein wichtiges Forschungsprojekt für mich, das mich immer wieder nach Weimar geführt hat. Diese Stadt verbindet deutsche und russische Geschichte – im Guten wie im Bösen.
Für Ihre Forschungen über und Ihren Einsatz für das Gedenken an die Opfer der Gewaltherrschaft haben Sie das Bundesverdienstkreuz und den Carl-von-Ossietzky-Preis bekommen. Kürzlich wurden Sie mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. Gilt das auch der Germanistin Irina Scherbakowa, der Übersetzerin und großen Kennerin der deutschen Literatur?
Ich fühle mich natürlich sehr geehrt. Denn ich komme ja tatsächlich von der Literaturwissenschaft, bevor ich angefangen habe, als Historikerin zu arbeiten. Aber ich bin in gewisser Weise Germanistin geblieben. Denn mein Thema ist ja unsere gemeinsame so furchtbare wie tragische Geschichte, die im 20. Jahrhundert zu einer schrecklichen Feindschaft wurde. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit Anfang der 1990er-Jahre waren gerade die Sonderlager, die während der russischen Besatzungszeit im Osten Deutschlands an verschiedenen Orten errichtet wurden, wo früher Konzentrationslager wie Buchenwald standen. Dorthin wurden viele Deutsche verbracht, auch viele unschuldige Opfer, die von der sowjetischen Militäradministration verhaftet worden waren. Auch später beschäftigten wir uns bei Memorial mit den Schicksalen von Kriegsopfern. Das war die Geschichte der Zwangsarbeiter, sowjetischen Bürgern. Es waren Millionen, die aus der Sowjetunion nach Deutschland verschleppt wurden. Ihre Geschichte ist erst in den vergangenen zwanzig Jahren erforscht worden und zwar von russischen und deutschen Historikern gemeinsam.
Ich verstehe mich als Vertreterin einer ganzen Gruppe von Menschen, die sich mit der Aufarbeitung dieser schrecklichen Geschehnisse befassen. Meine Auszeichnung gilt auch ihnen, gilt unserer gemeinsamen Arbeit und würdigt deren Bedeutung.
Ich gehöre zur Nachkriegsgeneration, aber der Krieg hat meine ganze Familie geprägt. Mein Vater, der als Kriegsversehrter nach Hause kam, hat sich sein ganzes Leben damit beschäftigt, was damals geschehen ist. Es wäre für ihn während des Krieges unvorstellbar gewesen, dass seine Tochter in Deutschland einmal für eine solche Forschungsarbeit ausgezeichnet würde. In meiner Kindheit war die Erinnerung an den grausamen Krieg noch sehr lebendig; und die deutsche Sprache war die Sprache der Kommandobefehle aus den Kriegsfilmen, die Sprache des Feindes. Aber es wurde darüber doch nie vergessen, dass über Jahrhunderte auch deutsche Kultur und Aufklärung von großer Bedeutung für uns waren.
Woher kommt diese Zuneigung für das Deutsche – nach allem, was geschehen ist?
Das ist schon ein sehr besonderes Verhältnis zwischen unseren Völkern. Natürlich spielte auch Frankreich für unsere Geschichte eine Rolle, und das Französische war lange Zeit die Sprache der Oberschicht. Es gab auch anglophile Strömungen in Russland. Aber das Deutsche, die Deutschen waren immer Teil unserer Kultur und unserer Gesellschaft. Das Deutsche kam nie von außen, es war immer schon mitten drin.
Es gab ja kaum ein nennenswertes deutsches Adelsgeschlecht, das nicht nach Russland eingeheiratet hat. Das gilt auch umgekehrt. Denken Sie nur an Weimar und Maria Pawlowna. Nehmen sie die russische Literatur. In Tolstois „Kindheit“ ist der Hauslehrer ein Deutscher, ein gütiger und beseelter Mann, der mit dem Kind Deutsch spricht. Oder Friedrich Schiller, der an den russischen Theatern im 19. Jahrhundert der am meisten gespielte Dramatiker war. Heine, Goethe gehörten zu unserem Bildungskanon. Michail Lermontows berühmte Übersetzung von „Wanderers Nachtlied“ war noch Teil meiner Schulbildung. „Faust“, in der Übersetzung von Pasternak, Rilkes Verhältnis zu Russland... Wir könnten stundenlang darüber reden.
Deutsch war bis zum ersten Weltkrieg die in Russland am meisten verbreitete Fremdsprache. Französisch sprach der Adel, aber das Deutsche war die Sprache des Gymnasiums, der Bildung und der Literatur. So wie unsere Gymnasien ja überhaupt nach preußischem Vorbild aufgebaut waren. Die russische Kultur, die Wissenschaft, das Militär – all das wäre ohne den deutschen Einfluss und die deutsche Teilnahme im 18. und 19. Jahrhundert undenkbar. Viele deutsche Gelehrte und Militärs wirkten in Russland. Und wir dürfen auch die deutschen Bauern nicht vergessen, die Katharina ins Land geholt hatte und die dort in großen Enklaven, auf der Krim, im Kaukasus und an der Wolga siedelten und die Landschaft und vor allem die Landwirtschaft dort geprägt haben.
Und dann vergessen sie bitte den Marxismus nicht, die Sprache von Marx und Engels. Das war Deutsch. Die deutschen Kommunisten waren das große Vorbild der Bolschewiki. Aber es gibt eben auch die andere, die schreckliche und grausame Seite unserer Beziehungen, die durch die beiden Kriege geprägt war und zig Millionen Opfer forderte. Trotzdem haben wir in Russland die deutsche Kultur nie vergessen. Unsere Kulturoffiziere, die nach dem Krieg nach Deutschland kamen, fühlten sich dieser Tradition noch verpflichtet und wollten helfen, die Barbarei des Faschismus zu beseitigen, um die deutsche Kultur wieder sichtbar zu machen, das Erbe der Klassik – unser gemeinsames Erbe.
Dazu kam in der nachstalinistischen Zeit eine intensive Beschädigung in der russischen Gesellschaft mit der Frage, warum die Deutschen die Sowjetunion überfallen haben. Was ging in diesen deutschen Soldaten vor? Warum haben sie das getan? Und wie wirkt das nach? Das ist übrigens einer der Gründe, warum Heinrich Böll bei uns so populär wurde. Er stand für ein Deutschland, das sich mit seinen Taten auseinandersetzte. Entsprechend groß war unsere Euphorie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, dass wir uns jetzt endlich gemeinsam mit unserer gemeinsamen Geschichte und vor allem den Schrecken des 20. Jahrhunderts beschäftigen konnten. In diesem Geist, in dieser Begeisterung wurde Memorial gegründet.
Irina Scherbakowa
Was ist passiert, dass wir uns heute plötzlich wieder fremder, ja feindlicher gegenüberstehen?
Wir dürfen die außenpolitische Entwicklung nicht von den innenpolitischen Prozessen in Russland trennen. Dieser Fehler wird immer wieder gemacht. Lange vor den Ereignissen von 2014 – Krim und Krieg in der Ost-Ukraine – begann in Russland ein spürbarer Abbau von Demokratie. Das ging schon sehr bald nach der Jahrtausendwende los. Wir russischen Bürgerrechtler haben früh davor gewarnt. Aber man wollte uns nicht glauben. Auch in Deutschland nicht. Dort glaubte man lange, dass Russland auf dem Weg sei zu einer eigenständigen Demokratie. Stattdessen erlebten wir den Aufbau neuer Machtstrukturen, neuer Machtvertikalen, wie wir das nennen, etwa in der Medien- oder der Sicherheitspolitik.
Wachsende Kontrolle war das Schlüsselwort dieser Entwicklung. Dazu kamen Einschränkungen im Wahlrecht, die wachsende Bedeutung der Sicherheitsorgane und der wachsende Einfluss vieler ehemaliger Mitarbeiter der Staatssicherheit. Diese neuen Machtmenschen waren bei Gott keine Demokraten. Sie wollten ein Russland mit einer starken Staatsmacht und der entsprechenden Kontrolle der Gesellschaft. Wir beobachteten aber nicht nur den Aufbau neuer Machtstrukturen, sondern auch einer neuen Ideologie. Das hat die Justiz und Medien zuerst betroffen, aber auch Wirtschaft und Kultur sind davon nicht verschont geblieben. Es war ein Irrtum zu glauben, dass man ihnen die Spielräume lassen würde.
Das alles ist die innenpolitische Vorgeschichte, die dann im Bruch des Völkerrechts und der Missachtung der europäischen Sicherheitsstrukturen mündete. Es gibt da einen unmittelbaren Zusammenhang. Man hat das in Deutschland lange falsch gedeutet, hat geglaubt, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den wilden 1990er Jahren ein Prozess der Konsolidierung einsetzen würde. Aber das war ein Missverständnis. Gorbatschows Öffnung unseres Landes und unserer Gesellschaft war lange vorbei. Gorbatschow wollte eine andere Entwicklung und sprach von einem gemeinsamen europäischen Haus, nicht von einer Festung Russland. In Deutschland hat man viel zu spät begriffen, dass es keine kontinuierliche Entwicklung nach der Zeit der Perestroika gab, keine kontinuierliche Annäherung Russlands an das westliche Europa. Wir, die unabhängigen NGOs in Russland, haben das früh gesehen.
Zu dieser politischen Entwicklung kommt eine schwere Hypothek hinzu, die noch in die Zeit der Sowjetunion zurückreicht: die weitverbreitete Korruption. Korruption kann man aber nur in einer offenen, demokratischen Gesellschaft bekämpfen; es gibt keine anderen Instrumente, auch keine Kontrollen, die wirksamer wären als eine wache Zivilgesellschaft mit entsprechenden Rechten. Kein Kontrollapparat kann das leisten; selbst unter Stalin und seinen brutalen Methoden überlebte die Korruption.
Hat sich auch Präsident Putin in seiner Regierungszeit verändert?
Wladimir Putin war vor 18 Jahren nicht so selbstsicher wie heute. Erst der Aufbau seiner Machtstrukturen hat ihn zu dem gemacht, was er heute ist. Unbeschränkte Macht über lange Zeit hat eben ihre Wirkung. Ich will die Fehler des Westens in diesem Prozess nicht bestreiten, aber allein die Aussage, dass der Untergang der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts gewesen sei, zeigt doch, wie Putin denkt. Wie wirkt so eine Feststellung auf die baltischen Länder? Auf die Ukraine? Selbst in Kasachstan wird man unruhig. Die Nato-Aktivitäten im Baltikum kann man nicht trennen von der Existenzangst der kleinen Nationen, die einmal Teil der Sowjetunion waren. Aber das Kernproblem ist und bleibt die unbeschrankte Macht des Präsidenten und ihre lange Dauer.
Für den Westen war die eigentliche Zäsur die Annexion der Krim.
Es gab mehrere Zäsuren. Die orangene Revolution in der Ukraine war so eine; oder die restriktive Politik gegenüber den NGOs. Das war ein deutliches Signal gegen die freie Zivilgesellschaft. Auch der Krieg gegen Georgien war eine solche Zäsur. Georgien hat diesen Krieg nicht angefangen. Der Tschetschenien-Krieg war eine Zäsur, auch wenn man die Verantwortung von Boris Jelzin nicht übersehen sollte. Er hat die Büchse der Pandora geöffnet. Aber was dort heute passiert, ist unvorstellbar und widerspricht allen Formen des Rechtstaats.
Wie soll der Westen, wie sollen wir alle darauf reagieren?
Mit Formulierungen wie der vom Imperium des Bösen ist keinem gedient. Auch das zivilgesellschaftliche Gespräch zwischen Russen und Deutschen ist ja nie abgerissen. Ich bin in vielen Stiftungen und Kuratorien. Überall erfahre ich eine große Zuneigung zu Russland. Keiner will den zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen Deutschland und Russland gefährden oder gar abbrechen. Im Gegenteil. Aber man war lange viel zu unkritisch. Nehmen sie nur den alten Petersburger Dialog. In einem Dialog müssen wir uns ungeschminkt die Wahrheit sagen können.
Was ich mir von Deutschland, von den deutschen Medien wünsche, ist ein genauerer Blick auf unser Land, nicht nur auf Moskau, sondern auch auf das, was sich in den Regionen tut. Aber ich weiß, wie schwierig das geworden ist. In unserem Land grassiert eine „Spionomanie“, die alles und jeden verdächtigt und auch die Menschen, die weiter mit ausländischen Instituten und Organisationen und einzelnen Menschen zusammenarbeiten. Auch der Petersburger Dialog hat das lange so gesehen, hat nicht mit den wirklichen Vertretern der Zivilgesellschaft geredet, sondern mit den Funktionären und leider manchmal auch den Propagandisten. Umso mehr freue ich mich, dass Sie [die Redaktion der Zeitschrift des „Petersburger Dialogs“ – Anm. LibMod] heute mit mir sprechen. Das ist nicht selbstverständlich.
Wie soll es jetzt weitergehen?
Ich bin da vielleicht ganz naiv. Ich vertraue der Offenheit und Ehrlichkeit. Man muss sehr aufmerksam hinschauen und genau beobachten, was mit den Kritikern passiert. Uns als ausländische Agenten zu bezeichnen ist unglaublich. Was sie mit Kirill Serebrennikow gemacht haben, auch. War es nötig, den bekanntesten russischen Regisseur im Hotel in Petersburg zu verhaften und ihn in Handschellen nach Moskau zu bringen? Das ist ein Zeichen an uns alle. Wir sollen den Mund halten. Die neue Gesetzgebung gibt immer eine Möglichkeit gegen uns vorzugehen. Indem ich aber in Russland bleibe und weitermache, zeige ich, dass ich Optimistin bin. Ich glaube an die Aufklärung. Aber die Konfrontationen mit der Macht nehmen zu. Das bedeutet nicht, dass in Russland inzwischen alles gleichgeschaltet ist, aber es wird für uns immer schwieriger, uns bemerkbar zu machen und für unsere demokratischen Rechte zu kämpfen.
Irina Scherbakowa lehrte von 1996 bis 2006 am Zentrum für Oral History der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften in Moskau.
Seit 1999 koordiniert sie den russischen Schülerwettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert“, ausgerichtet von der 1987 gegründeten „Internationalen Gesellschaft für Historische Aufklärung, Menschenrechte und Soziale Fürsorge MEMORIAL“. Damals propagierte Michail Gorbatschow Glasnost und Perestroika. Ziel der NGO war die Erforschung des Stalinismus und das Gedenken an die Opfer. Erster Vorsitzender war der Atomphysiker und Dissident Andrei Sacharow. Inzwischen gibt es neben zahlreichen Außenstellen in Russland auch solche in der Ukraine, Kasachstan, Lettland, Deutschland, Frankreich, Italien und Tschechien, die sich auch mit der aktuellen Menschenrechtslage in Russland beschäftigen. In den vergangenen Jahren kam es deshalb zu Durchsuchungen und Verfahren gegen Mitglieder von Memorial. Im vorigen Herbst setzte das Justizministerium die Organisation auf die Liste „ausländischen Agenten“. Ende August 2017 erhielt Scherbakowa die Goethe-Medaille.
Dieser Beitrag ist im September 2017 in der Zeitung „Petersburger Dialog“ erschienen.
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