Das Putin-System und die Russland-Politik des Westens
Am 13. März veranstaltete das Zentrum Liberale Moderne seine erste internationale Russland-Konferenz. Im Zentrum stand ein vertieftes Verständnis des „System Putin“ und die Frage nach einer realistischen Russland-Politik des Westens. Der folgende Konferenzbericht fasst die Diskussion zusammen. Er liefert zugleich das nötige Hintergrundwissen, um die jüngste Präsidentschaftswahl einzuordnen. Mit einer demokratischen Wahl hatte sie nichts zu tun. Von Nikolaus von Twickel (Autor), Ralf Fücks (Redaktion).
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Wie funktioniert das System Putin in Russland, wie beeinflusst es Europa und was kann Europa dagegen tun? Das Motto für die erste große Konferenz des Zentrums Liberale Moderne war nicht zufällig gewählt. Schließlich wurde der Berliner Think Tank zur Verteidigung der offenen Gesellschaft gegründet und sieht den Kreml als das Zentrum einer antiliberalen Internationale. Und am Sonntag wurde, wie erwartet, Kremlchef Wladimir Putin für eine vierte Amtszeit wiedergewählt.
Erstes Ziel der Konferenz war ein besseres Verständnis des politischen und wirtschaftlichen Charakters des „Systems Putin“ und eine Schärfung des öffentlichen Bewusstseins, mit welchem Regime wir es in Russland zu tun haben. Ein weiteres Anliegen war die Diskussion von Empfehlungen für eine realistische Russland-Politik des Westens.
„In den westlichen Hauptstädten gibt es ein Gefühl der Angst und der Unentschlossenheit,“ meinte Mitgründerin Marieluise Beck eingangs. Man schaut nicht hin, weil man Angst davor hat, was man womöglich sieht.“ Laut Ralf Fücks, Geschäftsführer des Zentrums, geht es den Gründern um die Auseinandersetzung mit der „antiliberalen Herausforderung von innen und außen.“ Russland sei keine äußere Macht, sondern ein wirkungsvoller Akteur in der europäischen Politik.
Zum Charakter des „System Putin“
Formiert sich in Russland ein faschistischer Staat, der an das Mussolini-Regime in Italien erinnert? Oder gleicht der russische Staat einem räuberischen Kartell mit Putin als oberstem Chef? Ist das System Putin ein autoritärer Staat mit klerikal-konservativer Ideologie oder eine ultrapragmatische Regierung, die nur vom unbedingten Willen zur Machterhaltung zusammengehalten wird? Verfolgt das Regime strategische Ziele oder dient die politische Macht lediglich der Bereicherung der herrschenden Eliten?
Dies sind Fragen, die unter Kreml-Experten derzeit heiß diskutiert werden. Eine simple Formel für den Charakter des russischen Regimes ist schwer zu finden. Am ehesten konnten sich die Wissenschaftlerinnen, Think Tank-Experten, Politiker und NGO-Vertreterinnen noch darauf verständigen, dass es sich um ein „hybrides Regime“ handelt, das Merkmale unterschiedlicher Systeme in sich vereinigt. Vor allem, weil, wie es ein großer Soziologe ausdrückt, viele Leute in Putins Russland gerne „das eine sagen, etwas anderes denken und wieder ganz anders handeln.“
Ein interessanter Strang der Diskussion bezog sich auf den Handlungsspielraum, den einzelne Personen an der Spitze des Machtapparats haben. Eine in Russland „sistema“ (System) genannte Theorie besagt, dass auch Reformer mit guten Absichten nichts ausrichten können, weil sie an den Eigeninteressen der Machteliten und der Trägheit der Verhältnisse scheitern.
Die Konferenz war sich schließlich mehr oder weniger einig, dass Russland derzeit eine autoritäre Kleptokratie ist, deren Führung die Geschichte umschreiben und die liberale Weltordnung umstoßen möchte. Dazu kommt, dass die Regierung sich nicht um ethische and völkerrechtliche Normen schert und von Netzwerken aktiver und ehemaliger Geheimdienstler („Tschekisten“) dominiert wird.
Russland ist trotz vehementer Dementis nicht nur Kriegspartei in der Ukraine und in Syrien, es nimmt auch aktiv Einfluss auf den Westen. Spätestens seit das Ausmaß russischer Intervention in den US-Wahlkampf zutage tritt, muss sich der Kreml den Vorwurf gefallen lassen, mit Staatspropaganda, Internet-Trollen und anderen dubiosen Mitteln die öffentliche Meinung im Westen zu manipulieren.
Die Wirkung der russischen Propaganda auf die europäische Öffentlichkeit ist allerdings weniger ein Zeichen von russischer Stärke als vielmehr von westlicher Schwäche. Anstatt Moskaus Fähigkeiten zu überschätzen, sollte der Westen lieber seine eigene Widerstandsfähigkeit verbessern und eine offene Debatte über russische Einflussnahme führen.
Anders als es die russische Staatspropaganda glauben lassen will, ist der Westen nicht daran interessiert, einen Umsturz in Russland herbeizuführen. Das Risiko eines abrupten Regimewechsels erscheint den meisten Akteuren in Politik und Wirtschaft zu hoch.
Dennoch ist es wichtig zu fragen, wie es um die Zukunft der nun schon 18 Jahre währenden Herrschaft Putins bestellt ist. Eine einfache Antwort gibt es auch hier leider nicht.
Offiziell hat Putin Umfragewerte, von denen westliche Politiker nur träumen können. Das staatliche Meinungsforschungsinstitut WZIOM hat ihm erst vergangene Woche einen Zustimmungswert von 70 Prozent bescheinigt, und es bestand wenig Zweifel, dass die Wahl am Sonntag das gewünschte Ergebnis bringen würde. Um Putin als klaren Sieger erscheinen zu lassen, muss es keinen Wahlbetrug im großen Stil geben. Der Ausgang der Wahl entscheidet sich nicht erst am Wahltag, sondern wurde bereits von langer Hand vorbereitet. Die Staatsmedien trommeln für den Präsidenten, eine ernsthafte politische Opposition wird schon im Ansatz verhindert. Putins Hauptgegner Alexei Nawalny ist nicht zugelassen, und der zweitstärkste Kandidat, Pavel Grudinin von den Kommunisten, kommt laut WZIOM-Prognose auf gerade sieben Prozent, die liberale Kandidatin Xenia Sobtschak auf etwa ein Prozent.
Solche Umfragewerte sind jedoch höchst umstritten. Zum einen ist das unabhängige Meinungsforschungsinstitut „Lewada“ wegen des umstrittenen NGO-Gesetzes zum „ausländischen Agent“ erklärt worden und darf keine politischen Umfragen machen. Zum anderen gibt es grundsätzlichere Zweifel an Meinungsumfragen in einem autoritären Staat, weil Befragte sich nicht trauen, die Wahrheit zu sagen. Für Oppositionsaktivisten ein Grund mehr, sich auf ein Ende von Putins Herrschaft vorzubereiten.
Wann und wie ein solches Ende kommt, ist offen. Einige halten eine „Palastrevolution“ innerhalb des Machtzentrums für möglich, falls sich die wirtschaftliche Stagnation und internationale Isolierung Russlands fortsetzt. Ob dann Putin-Anhänger auf die Straße gehen, um ihren Präsidenten zu verteidigen, kann niemand sagen. Auch ist völlig unklar, ob ein Machtwechsel im derzeitigen Russland zu einer reformorientierten Regierung führen wird. Befürworter der schon genannten „Sistema“-Theorie warnen, dass autoritäre, nationalistische und antiwestliche Denkmuster derzeit so fest in den Köpfen der Wähler stecken, dass liberale Kandidaten chancenlos sind.
Was sollte der Westen also tun?
Viele europäische Politiker verstehen mittlerweile, dass Russland versucht, den Zusammenhalt in der EU zu torpedieren. Und Donald Trumps Wahlsieg in den USA ist für viele ein Weckruf, das wertebasierte internationale System zu verteidigen.
Manche Konferenzteilnehmer plädierten in der Auseinandersetzung mit Russland für eine „Koalition der Willigen und Fähigen“, und zwar unabhängig von einer Mitgliedschaft in EU oder NATO. Das „System Putin“ müsse da angepackt werden, wo es am verletzlichsten ist, nämlich durch die Beschlagnahme des Vermögens Putin-treuer Oligarchen und Mitglieder des Machtapparats im Ausland.
Andere betonten, dass der Westen geschlossen handeln müsse. Die Tatsache, dass die EU ihre Russlandsanktionen so lange aufrechtgehalten hat (sie wurden just in dieser Woche um weitere sechs Monate verlängert), ist angesichts der derzeitigen Zerwürfnisse innerhalb der Union bemerkenswert. Allerdings kann nicht erwartet werden, dass die wirtschaftlichen Sanktionen verschärft werden. Das hat (bislang) noch nicht einmal Großbritannien nach dem jüngsten Giftanschlag auf den Doppelspion Sergei Skripal gefordert.
Forderungen, Russland wegen des kriminellen Charakters seiner Führung zu isolieren, wurden kritisch gesehen. Eine politische und wirtschaftliche Isolierung Russlands sei weder realistisch noch wünschenswert, weil sie die Zivilbevölkerung stärker träfe als das Regime. Sanktionen sollten sich vor allem gegen die Machtelite richten. Die meisten EU-Mitglieder setzen weiterhin auf eine – wenn auch eingeschränkte – Zusammenarbeit mit Moskau, wo sie nötig erscheint, wie in Syrien. Etliche Konferenzteilnehmer kritisierten das Nord Stream 2‑Projekt, das die europäische Abhängigkeit von russischem Erdgas noch erhöht und die fossile Wirtschaft als wichtigste finanzielle Ressource des Kremls stärkt.
„Wir müssen einen Ausgleich finden zwischen Eindämmung und Konfliktmanagement – wenn wir das ganze Land isolieren und Putin kriminalisieren, werden wir die Probleme nicht lösen,“ sagte ein Bundestagsabgeordneter. Er fügte hinzu, dass man Putin und seine Politik dennoch öffentlich bloßstellen solle, am besten im Rahmen der Vereinten Nationen.
Der Westen wird weiter den Dialog mit dem Kreml suchen, schon allein deshalb, weil man einem potentiell gefährlichen Nachbarn nicht den Rücken zuwenden sollte. Verständigung wird aber weiterhin äußerst schwer sein, weil Putin-Russland sich als Gegenspieler des Westens versteht.
Anmerkung: Die Konferenz fand unter „Chatham-House Rules“ statt. Diskussionsbeiträge wurden deshalb nicht persönlich zugeordnet.
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