Wieso Putin so ver­rückt gewor­den ist

Ein Por­trait Putins aus Patro­nen­hülsen von der ukrainis­chen Kün­st­lerin Daria Mart­schenko. Foto: Shutterstock

Mit seinem Krieg gegen die Ukraine hat sich Wla­di­mir Putin schwer ver­kal­ku­liert. Der rus­si­sche Staats­chef ist Opfer seiner eigenen pro­pa­gan­dis­ti­schen Visio­nen gewor­den und ist von der Reak­tion des Westens über­rascht worden.

Drei Wochen nach Beginn des rus­si­schen Angriff­krie­ges gegen die Ukraine ist offen­sicht­lich, dass Prä­si­dent Putin sich schwer ver­kal­ku­liert hat. Das ukrai­ni­sche Volk steht geschlos­sen gegen den Feind, der rus­si­sche Vor­marsch ver­läuft schlep­pend, und niemand weiß, was der Kreml nach einer Ein­nahme Kyjiws zu tun gedenkt. Ange­sichts der bei­spiel­lo­sen west­li­chen Sank­tio­nen und des mas­sen­haf­ten Rück­zugs inter­na­tio­na­ler Unter­neh­men scheint der Schaden für Russ­lands Wirt­schaft und sein inter­na­tio­na­les Ansehen enorm.

Portrait von Vladislav Inozemtsev

Vla­dis­lav Ino­zemt­sev ist Ökonom und Gründer des „Zen­trums für post­in­dus­tri­elle Studien“ in Moskau.

Vor dem Krieg waren die meisten Exper­ten, dar­un­ter auch ich, der Ansicht, dass Putin die Ukraine nicht angrei­fen wird, ent­we­der weil er nicht über die not­wen­di­gen stra­te­gi­schen Kräfte verfügt, um das gesamte Land zu beset­zen, oder weil eine mög­li­che mili­tä­ri­sche Nie­der­lage seine Macht zu Hause gefähr­det. Der Beginn der rus­si­schen Offen­sive hat viele Men­schen zu der Annahme ver­an­lasst, dass Putin wahn­sin­nig gewor­den ist und den Sinn für die Rea­li­tät ver­lo­ren hat. Die dama­lige Bun­des­kanz­le­rin Angela Merkel erklärte bereits 2014, dass der rus­si­sche Staats­chef „in einer anderen Welt“ lebt.

Wie konnte das pas­sie­ren? Ich würde dafür drei Haupt­fak­to­ren nennen.

Putin als Opfer seiner eigenen Propaganda

Erstens war Putin wohl schon immer ein rus­si­scher Impe­ria­list, der vom Unter­gang der Sowjet­union scho­ckiert war und glaubt, dass die Ukraine dabei eine Schlüs­sel­rolle spielte. Das stimmt zumin­dest teil­weise: Die Ukraine war die größte Sowjet­re­pu­blik, die sich im Sommer 1991 wei­gerte, einen neuen Uni­ons­ver­trag zu unter­zeich­nen; sie rati­fi­zierte nicht einmal die lose Charta der Gemein­schaft Unab­hän­gi­ger Staaten; sie lehnte Russ­lands Kan­di­da­ten im Prä­si­dent­schafts­ma­ra­thon 2004/​05 ab; sie ent­schied sich gegen die Zoll- bzw. Eura­si­sche Union mit Russ­land, und lehnte sich schließ­lich 2014 gegen die von Moskau auf­er­legte Kün­di­gung des EU-Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens auf.

Putin bemühte sich nach Kräften, die Ukraine auf seine Seite zu ziehen, und wurde durch die Oran­gene Revo­lu­tion 2004 und die Revo­lu­tion der Würde 2014 gede­mü­tigt; es gelang ihm nicht, das Land zu spalten und die von ihm gelieb­ten Minsker Ver­ein­ba­run­gen durch­zu­set­zen. Er ver­suchte wie wahn­sin­nig zu bewei­sen, dass Ukrai­ner und Russen ent­we­der das­selbe Volk oder kul­tu­rell und his­to­risch untrenn­bar mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Als er begriff, dass ihm die Zeit davon­lief, ging er das Risiko einer Inva­sion ein, weil er von seinen eigenen – pri­mi­ti­ven und irre­füh­ren­den – Argu­men­ten beses­sen war. So wurde er ein Opfer seiner eigenen Pro­pa­ganda-Bilder und ‑Visio­nen. Er glaubte auf­rich­tig, dass Russ­land alle Demü­ti­gun­gen der post­so­wje­ti­schen Ära wie­der­gut­ma­chen sollte – und kann – und wurde süchtig danach und war bereit, sich um fast jeden Preis zu rächen.

Putin hat sich im Westen getäuscht

Zwei­tens hat sich Putin bei der Ein­schät­zung der Reak­tion des Westens auf die rus­si­sche Inva­sion gewal­tig geirrt. Hier würde ich sagen, dass sein Irrtum nicht so gewal­tig war, denn den west­li­chen Staaten waren seine Aben­teuer seit Jahren ziem­lich gleich­gül­tig. Nach dem Ein­marsch in Geor­gien 2008 und der Aner­ken­nung Abcha­si­ens und Süd­os­se­ti­ens als „unab­hän­gige“ Staaten, wurden fast keine Sank­tio­nen gegen Russ­land ver­hängt. Nach der Anne­xion der Krim, dem Krieg in der Ost­ukraine (Donbas) und dem Abschuss des Malay­sia-Air­lines-Fluges MH-17 wurden vor allem sym­bo­li­sche Sank­tio­nen ver­hängt – fragt man Russen auf der Straße nach deren Aus­wir­kun­gen, ant­wor­ten sie, dass nur das Lebens­mit­tel­em­bargo spürbar ist, was aber eine rus­si­sche und keine west­li­che Maß­nahme ist.

Ange­sichts der Tat­sa­che, dass der Krieg im Donbas mehr als 14.000 Men­schen­le­ben gefor­dert hat, aber keine ent­schei­den­den Aus­wir­kun­gen auf die rus­si­sche Wirt­schaft hatte, konnte Putin mit Fug und Recht erwar­ten, dass ein erneu­ter Vorstoß in die Ukraine keine nen­nens­wer­ten Sank­tio­nen nach sich ziehen würde. Hätte sich der Westen bereits vorher glaub­haft für einen Stopp von Nord Stream 2, einen SWIFT-Raus­wurf sowie die Sper­rung der rus­si­schen Zen­tral­bank­re­ser­ven aus­ge­spro­chen, wäre Putin viel­leicht nicht so stark moti­viert gewesen. Doch leider haben sich nicht nur er sich ver­rech­net, sondern auch alle seine Berater.

Die Putin­sche Macht­ver­ti­kale funk­tio­niert nicht

Das dritte Element ist wohl am wenigs­ten von Putins Denk­weise abhän­gig, ist aber die Folge seiner lang­jäh­ri­gen Herr­schaft. In den ver­gan­ge­nen 22 Jahren hat er eine äußerst loyale, aber nicht sehr effek­tive „Macht­ver­ti­kale“ geschaf­fen, die aus unpro­fes­sio­nel­len Leuten besteht, die über­wie­gend damit beschäf­tigt sind, sich ent­we­der selbst zu berei­chern oder Kar­riere zu machen, was beides die bedin­gungs­lose Unter­wer­fung unter den Willen ihres Chefs erfordert.

Sehr auf­schluss­reich ist in diesem Zusam­men­hang die Geschichte des 5. Diens­tes inner­halb des Inland­ge­heim­diens­tes FSB, der für die Über­wa­chung des post­so­wje­ti­schen Raums zustän­dig ist. Am 11. März berich­te­ten zwei inves­ti­ga­tive Jour­na­lis­ten, dass der Chef des Diens­tes und sein Stell­ver­tre­ter unter Haus­ar­rest gestellt wurden, offen­bar weil Putin über die Qua­li­tät der Infor­ma­tio­nen über die mili­tä­ri­schen Fähig­kei­ten der Ukraine ver­är­gert war.

Das Gleiche gilt für das rus­si­sche Militär, das als modern und gut aus­ge­rüs­tet galt, aber mit Last­wa­gen sowje­ti­scher Bauart in die Ukraine fuhr, ohne dass die Sol­da­ten wussten, wohin und zu welchem Zweck. Diese Fehler sind wenig über­ra­schend, weil Putin extrem abhän­gig ist von Infor­ma­tio­nen, die ihm von seinen Leuten prä­sen­tiert werden – es han­delte sich also nicht um Wahn­sinn im eigent­li­chen Sinn, sondern um eine Folge des dys­funk­tio­na­len Cha­rak­ters des von ihm geschaf­fe­nen Systems.

Der Krieg in der Ukraine ist übri­gens ein mas­si­ver und sel­te­ner Beweis für Putins Kon­flikt mit der Rea­li­tät. In fast allen anderen Berei­chen hat er bisher viel erfolg­rei­cher (oder glück­li­cher) agiert als hier. Eigent­lich ist ihm die rus­si­sche Wirt­schaft fast egal – aber alle aktu­el­len Krisen wurden eini­ger­ma­ßen bewäl­tigt. So konnte die Lebens­qua­li­tät von 2013 im Großen und Ganzen bis heute auf­recht­erhal­ten werden. Er nutzt die ein­fachs­ten Mittel, um die poli­ti­sche Oppo­si­tion zu zer­schla­gen, und es sieht so aus, als hätte er den rich­ti­gen Weg gewählt, um keinen Dialog mit seinen Gegnern auf­zu­neh­men, da die Zahl der­je­ni­gen, die zu offenem Wider­stand bereit sind, ins­ge­samt sehr gering ist.

Putin hat sonst oft mit den rich­ti­gen Mitteln und kohä­ren­ten Ant­wor­ten auf Krisen reagiert – aber die „ukrai­ni­sche Frage“ hat ihn ver­rückt gemacht und wird mit großer Sicher­heit das Ende seiner Herr­schaft herbeiführen.

Textende

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