Putins Krieg ist auch der Kreuzzug von Kyrill I.
Die EU-Kommission hat auf Druck Ungarns den russischen Patriarchen Kyrill I. von seiner Saktionsliste gestrichen. Das zeugt nicht nur von verheerender Schwäche gegenüber Viktor Orbans Regime. Es belegt zudem eine fatale Unterschätzung der Rolle der russisch-orthodoxen Kirche im Machtgefüge Russlands und beim Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine, schreibt Armin Huttenlocher. Sein Essay analysiert die besondere Verflechtung von weltlicher und religiöser Macht in Russland.
Teil 1: Historische Verflechtungen. Aktuelle Abhängigkeiten
Es ist nicht ein Krieg, den Wladimir Putin seit dem 24. Februar 2022 auf dem Gebiet der Ukraine führt. Es sind mindestens vier. Gegen unterschiedliche Feinde, genauer gesagt: feindliche Schimären, die in Putins Weltsicht untrennbar verbunden und ineinander verflochten sind. Aber, wie dieser Essay zeigt, nicht nur in seiner.
Vier Kriege für eine Vernichtung
Ein politischer Krieg: Gegen die Ukraine als einer freien Nation und einem souveränen Staat, die sich seit den Ereignissen um den „Euromaidan“, Ende 2013 / Anfang 2014 endgültig von Moskau ab- und dem Westen zugewandt hatte.
Ein Krieg gegen die Verwirklichung eines liberalen, demokratischen Gesellschaftsmodells; stattdessen für ein revisionistisches, illiberales und autoritäres Führungsmodell wie Putin es in Russland aufgebaut hat und immer weiter zementiert. „Egoistisches Freiheitsstreben“, „falsch verstandener Individualismus“, „Multikulturalismus“, „Pseudowerte, die zu Degradierung und Entartung führen, da sie gegen die menschliche Natur gerichtet sind und zu einer Abkehr von den Werten eines echten Nationalisten führen“, mit einem Wort: „Dekadenz“, lautet die Diagnose, dargelegt in seiner Ansprache an die russische Nation, mit der er im Februar 2022 seinen Befehl zum Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine begründete.
Ein Krieg auch, um ein angeblich entglittenes Geschichtsbild und ein daraus abgeleitetes, falsches Selbstverständnis, irrtümlich auch „ukrainische Identität“ genannt, zu „korrigieren“: Eine Wiedereingliederung der Ukraine in die Russische Föderation, genauer gesagt: in das von Putin angestrebte „Großrussische Reich“ sei dabei nicht zuerst aus geopolitischen, sondern vor allem aus kulturhistorischen Gründen anzustreben. Im geklitterten Geschichtsbild Putins gibt es kein eigenständiges, ukrainisches Volk, folglich auch kein Recht auf einen eigenen Staat.
Die Nation, die sich heute ‚Ukraine‘ nennt, verkörpert in dieser Weltsicht ein „Anti-Russland“ auf einem Teil des Territoriums jenes „Dreieinigen Russland“, bestehend aus Zentral-Russland (Russland), „Weiß“-Russland (Belarus) und „Klein“-Russland (Ukraine), auf dessen Entstehungsmythos und seine besondere Bedeutung, wenn es um Argumente für einen Krieg gegen die heutige Ukraine geht, noch einzugehen sein wird.
In Putins Weltsicht wurde dieses „Großrussische Reich“ von äußeren Mächten zerschlagen, hat aber in seiner Seele überlebt. Auf die Polen im 17. bzw. 18. Jahrhundert, folgte, vor dem Ersten Weltkrieg, das Habsburgische Kaiserreich. Nun, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, ist es „der vereinte, liberale, dekadente Westen“, will sagen: die Europäische Union, die, Hand in Hand mit den USA, eine Wiederherstellung dieses einzig legitimen russischen Reichs zu verhindern versucht. Demzufolge wurden die Soldaten der russischen Armee nicht als Eroberer, sondern als Befreier entsandt: 2014 auf die Krim und in den Donbas, 2022 in das gesamte Territorium. Dass die Mehrheit der „Ukrainer“ dies noch immer nicht begreifen kann, bestätigt nur ihre fortgeschrittene Dekadenz und den verblendenden Einfluss des Westens auf ihr Denken.
Schließlich, aber keineswegs von untergeordneter Bedeutung, ein Krieg als Kreuzzug im Namen der Russisch-Orthodoxen Kirche. Zum Verständnis und zur besseren Einordnung dieses spezifischen Kriegsmotivs hilft ein Blick darauf, wie die Verflechtung der weltlichen mit der kirchlichen Macht in Russland entstanden ist, und was die Besonderheit der Beziehung zwischen dem amtierenden russischen Präsidenten und dem derzeitigen Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche ausmacht.
Nicht einmal Stalin schaffte es ohne den Klerus
Die Festigung des Einflusses des orthodoxen, russischen Klerus auf die weltliche Politik begann mit einer Entscheidung, die genau diesen Status für immer brechen sollte: Im Zuge seiner später so genannten „Petrinischen Reformen“, mit denen die russische Gesellschaft nach westlichem Vorbild ‚modernisiert‘ werden sollte, nutzte Zar Peter I. den Tod von Patriarch Adrian im Jahr 1700, um dessen Nachfolge zunächst unbesetzt zu lassen und dann durch einen Heiligen Synod zu ersetzen. Dessen Mitglieder mussten einen Amtseid auf den Zaren schwören, die Verwaltung der Kirche wurde von Staatsbediensteten übernommen, kirchlicher Grundbesitz weitgehend verstaatlicht, die klerikale Gerichtsbarkeit eingeschränkt.
Zwei Jahrhunderte kämpfte die Kirche um eine Rückgabe ihrer „Rechte“, bis Ende 1917 das Patriarchat wieder eingeführt und eine Trennung von Kirche und Staat, nebst einer Zusicherung freier Religionsausübung beschlossen, bereits im Januar 1918 aber durch einen Katalog an Verboten faktisch wieder unterdrückt wurde.
Wenig später begann, was als die wohl weitreichendste und grausamste Verfolgung von Christen in der Neuzeit gelten muss: In mehreren Wellen wurden Millionen christlicher Gläubiger in der Sowjetunion verhaftet, gefoltert, in Gulags gesteckt, ermordet. Doch als Stalin die Soldaten fehlten, um die Sowjetunion gegen Hitlers Truppen zu verteidigen, klopfte er bei den verbliebenen Kirchenfürsten an, kroch zu Kreuze, rückte von seinen brutalen Repressionen ab, erlaubte sogar die Wahl eines Patriarchen.
Im Gegenzug rief die Kirche das ihr traditionell sehr hörige russische Volk zur Unterstützung im Kampf gegen den Nationalsozialismus auf. Der Sieg der „Roten Armee“ im „Großen vaterländischen Krieg“ war insofern auch der Sieg einer „Armee im Geist der Christlichen Orthodoxie“.
Stalin war das bewusst. Als er 1953 starb waren Tausende zuvor geschlossener Kirchen wieder geöffnet und zahlreiche Posten in der orthodoxen Hierarchie, quer über alle Provinzen hinweg, wieder besetzt. Viel verdankte der Diktator seinem Pakt mit den Stellvertretern Gottes auf Erden.
Die Kirche als verlängerter Arm und Netzwerk des KGB
Chruschtschow übersah die Vorteile eines Quid pro Quo zwischen Staat und Kirche, kehrte zum Dogma des unauflöslichen Widerspruchs zwischen Kommunismus und Kirche zurück und ließ jeden verfolgen, der nicht bereit war, seinen religiösen Überzeugungen abzuschwören. Diese Umkehr von der pragmatischen Kirchenpolitik des späten Stalin musste Chruschtschow indes büßen. Die im Zuge der Entstalinisierung geschaffene neue Offenheit führte zu Gegenbewegungen, Petitionen und Protesten. 1961 kam es zu einer Kirchenreform, die das Kräfteverhältnis annähernd wieder ins Gleichgewicht brachte.
Breschnew wiederum lernte hieraus und versuchte es mit einer Strategie der Lockerung plus Unterwanderung des russisch-orthodoxen Klerus durch den KGB. Ein Vorgehen, das sich als deutlich erfolgreicher erwies und bis heute Früchte trägt: Der amtierende Patriarch Kyrill I. (im Amt seit 2009) stammt ebenso aus dieser „Linie“ wie sein Vorgänger Alexius II. (Patriarch bis 2008).
Staatskirche dank Gorbatschow und Jelzin
Auch Michail Gorbatschow wusste sich des Kirchenapparates geschickt zu bedienen. Regelmäßig besuchte er Gottesdienste, lud orthodoxe Würdenträger in den Kreml ein, sorgte für die Rückgabe zahlreicher Kirchen, Klöster und Ländereien an den Klerus und erhöhte die staatlichen Gelder für die ROK massiv.
Vollends für Boris Jelzin als erstem Präsidenten eines demokratischen Russlands blieb jede Überlegung in Richtung einer laizistischen Staats- und Gesellschaftsform tabu. Im Gegenteil nutzte er die etablierten kirchlichen Netzwerke höchst effizient. 1997 unterzeichnete er ein Religionsgesetz, dessen Präambel von der Russisch-Orthodoxen Kirche als der Kirche und Lehre spricht, die Geschichte und Kultur Russlands maßgeblich geprägt habe. Faktisch bedeutete das die Ernennung der Russisch-Orthodoxen Kirche zur Staatskirche.
Putin – Präsident mit dem Segen der Kirche
Berechnend und mit einem Akt, dessen Symbolik wohl nicht zufällig an Zarenzeiten erinnerte, sorgte Jelzin zum Abschluss seiner Amtszeit sogar dafür, dass die für beide Seiten so vorteilhafte Kooperation zwischen Staat und Kirche fortan gleichsam als Einheit wirken konnte.
Weil der von ihm als Nachfolger auserkorene, vollkommen unbekannte Wladimir Putin bei einer Wahl durch das Volk kaum Chancen gegen vergleichsweise populäre Kandidaten gehabt hätte, ernannte ihn der scheidende Staatspräsident über Nacht zum „Geschäftsführenden Präsidenten“ – ein Amt, das es laut Verfassung gar nicht gab. Zur Lösung des ziemlich irdischen Problems rief Jelzin den Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche herbei. Der gab dem „geschäftsführenden Präsidenten“ vor laufenden Fernsehkameras und einem weltweiten Publikum seinen – und damit den göttlichen – Segen.
Das Delikt der verfassungswidrigen Einsetzung eines Präsidenten der Russischen Föderation sollte durch den Akt orthodoxer Segnung, also durch die Verleihung höherer, religiöser Weihen „geheilt“ werden: Was im Augenblick des Geschehens und aus westlichem Blickwinkel wie ein groteskes Schauspiel wirkte – zumal in einem Staat, der den Anspruch erhob, demokratisch zu sein – erweist sich rückwirkend betrachtet als geradezu prophetischer Akt. Putin wird sich des Mittels kirchlicher Segnung von politischen Rechtsbrüchen fortan regelmäßig selbst bedienen. Und das Patriarchat – zuletzt Kyrill I. im März dieses Jahres – wird Putin regelmäßig als „von Gott Gesandten“ würdigen. Manus manum lavat.
Die Symbolik dieses Aktes rückte außerdem – eben weil es dabei um mehr ging als eine ‚bloße‘ Segnung – die Macht der Kirche über die des Staates. Ein nicht ganz uneigennütziges Geschenk des scheidenden Präsidenten an den russisch-orthodoxen Klerus. Viele Vorwürfe standen gegen Jelzin im Raum; da galt es für den eigenen Schutz vorzusorgen. Jelzin war nicht nur ein gefürchteter Trinker, er war auch ein zu fürchtender Fuchs: Putin stand vom ersten Augenblick, in dem die Macht über Russland in seinen Händen lag, in der Schuld der Russisch-Orthodoxen Kirche. Dergleichen verbindet. Abwechselnd wäscht seitdem eine Hand die andere.
Manus manum lavat..
Teil 2: Mittelalterliche Fassade. Moderner Machtapparat.
Irgendwann soll wieder Frieden sein. Wie aber kann dieser Frieden aussehen?
Kriege sind auch Kulturkämpfe. Der Ukraine-Krieg macht dabei keine Ausnahme. Bei Verhandlungen um einen Frieden und um die Zukunft der beiden Hauptparteien – die Ukraine und die Russische Föderation – kann das nicht ausgeblendet werden. Kenntnis und Einbeziehung aller beteiligten Konfliktparteien ist ebenso grundlegend, wie eine klare Vorstellung ihrer Interessen und Argumente – unabhängig davon, ob diese völkerrechtlich und/oder kulturgeschichtlich substantiiert sind oder nicht.
Der Westen fokussiert sich bislang auf den von russischer Seite provozierten, politischen Konflikt und auf die Person von Wladimir Putin als vermeintlich allein entscheidendem Auslöser dieses Krieges und als Haupthindernis für einen tragfähigen Frieden.
So klar scheint die Sachlage zu sein, dass nahezu einhellig unterstellt wird, ein Putsch gegen Putin, alternativ sein Tod, könne die Situation grundlegend verändern. Aber wäre das so?
Abgesehen davon, dass sich selbst jene unter den potenziellen Nachfolgern für Putin, die, wie Dimitri Medwedew, als Vertreter eines pragmatischeren Kurses galten, zu gefügigen Adepten seines Weltbilds, seiner Ziele und seiner zynischen Kälte entwickelt haben: Was, wenn die scheinbar autokratische Macht des russischen Präsidenten weit weniger unabhängig wäre? Wenn es außerhalb des Kremls weitere Systeme von Macht und Einfluss in Russland gäbe, und diese Kräfte stark genug wären, dass sich selbst ein Wladimir Putin nicht völlig frei machen könnte von ihnen?
Die Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche im heutigen russischen Machtgefüge und die historischen Hintergründe dafür sind im Westen wenig bekannt und werden in der Diskussion um Ursachen und Folgen des Krieges in der Ukraine daher zu wenig berücksichtigt.
Versäumnisse und Fehlentscheidungen von weitreichender Dimension sind die Folge. Ein Beispiel dafür ist der Beschluss der EU-Kommission, den als Nr. 1158 auf der Liste der zu sanktionierenden Personen im Entwurf zum „6. Paket restriktiver Maßnahmen gegen Russland“ vorgesehenen Namen „Wladimir Michailowitsch Gundjajew“ alias Kyrill I., „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“, zu streichen. Nicht nur, dass man damit dem Druck der Regierung von Ungarn nachgab und sich einmal mehr von deren Ministerpräsidenten Viktor Orban vorführen ließ. Die EU hat damit einer höchst bedenklichen Figur und ihrem ebenso korrupten, wie einflussreichen und gefährlichen Machtapparat Handlungsfreiheit gegeben.
Machtstreben und Luxusleben hinter mittelalterlicher Fassade
Hinter einer kirchenseitig gepflegten Fassade vormodernen – um nicht zu sagen: spätmittelalterlichen – Auftretens verbirgt sich ein Apparat, der sich nicht auf eine Pflege des Seelenheils beschränkt: Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) zählt zu den größten nichtstaatlichen Landbesitzern in Russland, Belarus und der Ukraine. Neben Kirchen, Klöstern und Landgütern verfügt sie zudem über ein stattliches Immobilien-Imperium. Experten schätzen die Einnahmen allein aus diesem Bereich auf umgerechnet bis zu 1 Milliarde US-Dollar jährlich. Hinzu kommen Gelder, die der ROK verfassungsgemäß aus der Staatskasse zustehen, und Spenden von Privatleuten und Wirtschaftsunternehmen. Das Pressebüro von Kyrill I. sah sich vor einigen Jahren veranlasst, nachträglich auf einem bereits veröffentlichten Foto eine goldene Luxusuhr vom Handgelenk des Patriarchen zu retuschieren. Die Einkaufstouren seiner Entourage bei Besuchen von Metropolien (Diözesen) der ROK in New York, Chicago, London, Paris, Berlin oder Wien sind legendär.
Für ausreichend Beweglichkeit des Klerus sorgt eine beeindruckende Flotte aus Fahrzeugen, vorzugsweise der gehobenen Klasse, Hubschraubern und, Berichten zufolge, sogar Flugzeugen. Bei Auslandsbesuchen ist man stets Gast der jeweiligen Botschaft der Russischen Föderation, wohnt in Vier‑, lieber noch Fünf-Sterne-Hotels und genießt den dazugehörigen Service. Die Verwaltung der Besitztümer und der allein in Russland ungefähr 115 Millionen, weltweit rund 150 Millionen Gläubigen erfolgt ebenso wie die engagierte Offline- und Online-Kommunikation der ROK mithilfe kirchlicher Medien samt eigener Trolle in Sozialen Netzwerken – sogenannten „Kyrill-Bots“.
Personell ist die Russisch-Orthodoxe Kirche seit den 1970er Jahren eng mit den Geheimdiensten verbunden. Seit der Breschnew-Ära gibt es keinen Patriarchen der ROK, der nicht auch Wurzeln beim KGB bzw. dessen Nachfolgeorganisation FSB gehabt hätte. „Gleiches gilt für die meisten Metropoliten (Erzbischöfe) und für mindestens ein Drittel aller Priester und Anwärter auf ein Priesteramt bei uns“, sagt ein führendes Mitglied der ROK im vertraulichen Gespräch. Und fügt hinzu: „Die Anwerbung erfolgt im Priesterseminar. Berichte für den FSB zu verfassen, gehört so selbstverständlich zum Leben als Priester unserer Kirche, wie die Beichte zum Leben der Gläubigen.“
Säule der „Russischen Welt“ und Mitgestalterin des Putin-Staats
Die Russisch-Orthodoxe Kirche unter Kyrill I. sieht sich als tragende Säule der „Russki Mir“. Die Verteidigung dieses Ideals einer „Russischen Welt“ gegen Einflüsse „westlicher Dekadenz“ – ein Begriff, der alles umfasst vom Recht auf individuelle Freiheit über demokratische Grundwerte bis zur sexuellen Selbstbestimmung – hat sie zu einer Hauptaufgabe neben der Missionierung in vorzugsweise rohstoffreichen Dritt-Welt-Regionen gemacht. Entsprechend intensiv und mit durchaus aggressiver Zielstrebigkeit bringt sie sich neben der Verkündung religiöser Botschaften in die Gestaltung eines antimodernen, antiliberalen Russlands der Zukunft ein.
Wenn der Patriarch, seine Metropoliten und Priester überall in Russland in diesen Tagen Soldaten, Panzer und Raketen segnen, dann nicht nur, weil sie Putins politischen Kriegskurs stützen, sondern weil diese Kirche ein ganzes Bündel an eigenen religionsgeschichtlich, religionsphilosophisch und kirchenpolitisch begründeten Interessen an einem Krieg gegen die Ukraine hat. Und „Argumente“, die historisch noch weiter zurückgreifen als die Herleitung Putins für seine politische Ambitionen.
Einen Frieden ohne die Revision der Hinwendung der ukrainischen Nation zu einer modernen, westlich liberalen Gesellschaft, besser noch: die Auslöschung des kulturellen Selbstbewusstseins – womit in diesem Fall die Identität stiftende, gesellschaftliche, politische und religiöse Unabhängigkeit des ukrainischen Volkes gemeint ist – will diese Kirche ebenso wenig wie das politische Establishment im Kreml.
Für Putin ist die Russisch-Orthodoxe Kirche damit ein enger, zugleich aber auch fordernder Verbündeter in diesem Krieg. Dafür, dass seine politische „Spezialoperation“ von Kyrill I. und seinen Priestern gegenüber Millionen Gläubiger zum „Heiligen Krieg gegen das Böse“, alternativ zum „Kreuzzug zur Bewahrung von Gottes Willen auf Erden“ erklärt wird, erwartet man Gegenleistungen. Eine Restitution der Russisch-Orthodoxen Kirche auf dem Gebiet, das Kyrill I. neuerdings immer öfter „Kleinrussland“ statt „Ukraine“ nennt, wäre umgekehrt nicht nur von kirchenpolitischem Interesse. Sie wäre auch „hilfreich“, um energisch genug gegen die unterstellte westliche Dekadenz vorzugehen, die, wenn man es mit den Augen Putins und Kyrills I. sieht, aus der unabhängigen Ukraine ein Sodom und Gomorrha gemacht hat.
Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist also nicht nur eine Institution, die zwingend auf die Liste der zu Sanktionierenden in Russland gehört. Sie muss ebenso zwingend bei Verhandlungen für einen Frieden mit am Tisch sitzen. Mag sie sich dort auch als difficilium inter difficilii, als „Schwierigster unter Schwierigen“ erweisen: Ohne sie wird es keinen tragfähigen Frieden geben, das zeigt ein an dieser Stelle wichtiger Blick in die Geschichte.
Geburtshelfer, Täufer und Taufpate zugleich
Die Russisch-Orthodoxe-Kirche nimmt für sich in Anspruch, gleichsam Geburtshelfer, Täufer und Taufpate jener „Russki Mir“ („Russischen Welt“) gewesen zu sein, die Putin zu dem untergegangenen Mythos erhob, den es wiederzubeleben gelte: Ein Reich, das weit über die heutige Russische Föderation hinausreicht und das weniger durch geographische oder politische Grenzen definiert wird, als durch einen inneren „Zusammenhalt der Werte“, durch Sprache und Kultur, Glauben an die christlich-orthodoxe Lehre und einen Konsens darüber, dass eine Gesellschaft keine Freiheit des Individuums, sondern die gemeinsame Ausrichtung auf einen einzigen Führer brauche.
Orthodoxe Brüderkämpfe
Wenn Putin sein Ziel einer Wiederherstellung des „Großrussischen Reichs“ damit begründet, dieses sei als das „Dreieinige Reich, bestehend aus Russland, Weißrussland und Kleinrussland, das sich heute Ukraine nennt, dem Taufbecken am Dnjepr entstiegen“, so bezieht er sich auf exakt dieselbe Legende, mit der sich die Russisch-Orthodoxe Kirche – als Geburtshelfer, Taufpate und Täufer – über das weltliche Russland erhebt: 988 n. Chr. ließ sich Großfürst Wladimir I., Herrscher über die „Kiewer Rus“, zum Christentum bekehren und taufen. Was in den folgenden Jahrhunderten in der Großregion um Kiew und Nowgorod, entlang der Handelswege zwischen dem Schwarzen Meer und der Ostsee, geographisch also im Zentrum der heutigen Ukraine, entstand, gilt als Ur-Zelle der slawisch-orthodoxen Kultur.
Sitz des Metropoliten war bis 1299 Kiew, dann für kurze Zeit das 200 km östlich von Moskau gelegene Wladimir, und ab 1325 Moskau. Ende des 15. Jahrhunderts begann eine schrittweise Abspaltung der „Metropolie (Diözese) von Kiew und ganz Russland“, die 1590 offiziell besiegelt wurde.
Der historische Hintergrund ist wesentlich. Denn seit dieser Zeit kommt es nicht nur regelmäßig zu massiven Einflussnahmen seitens der Russisch-Orthodoxen Kirche auf die weltliche Politik. Es entstand auch ein innerkirchlicher Dauerstreit um die religiöse Deutungshoheit und das Recht, die personelle Führung zu stellen. Damit einher gingen zyklisch aufflammende, aber erstickte Bestrebungen einer Abspaltung der ukrainischen von der russischen orthodoxen Kirche.
1918 schließlich, im Zuge der Ausrufung der ersten unabhängigen Republik Ukraine, stimmte die Russisch-Orthodoxe Kirche einer autonomen ukrainisch-orthodoxen Kirche zu, die 1920 gegründet wurde, aber angesichts der Verfolgungen durch Stalin und komplexer innerkirchlicher Auseinandersetzungen nur bis 1937 bestand. In den Jahrzehnten danach – den „Jahrzehnten der gebundenen Hände“ – übernahm „die Mutterkirche in Moskau“ auch die Regentschaft über die Gläubigen in der Ukraine.
Mit der zweiten Unabhängigkeit der Ukraine, 1990/91, artikulierte sich auch wieder der Anspruch auf eine kirchliche neben der weltlichen Eigenständigkeit. Das Patriarchat in Moskau verhinderte dies, unterstützt durch den Kreml und Bartholomeos I., seit 1991 Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel. Nicht zu Unrecht fürchtete dieser, dass sich der Riss zwischen der tendenziell pragmatischeren, ukrainisch-orthodoxen und der traditionell dogmatischen, russisch-orthodoxen zu einer Spaltung der orthodoxen Kirche insgesamt ausweiten könnte.
Der Bruch, der nie verziehen wird
Drei Jahrzehnte später, 2018, indes sah sich Bartholomeos I. veranlasst, ein Zeichen von historischer Tragweite zu setzen, dem Antrag der Ukrainer auf Autokephalie – also: kirchlicher Selbständigkeit und damit Abspaltung von der russisch-orthodoxen Kirche – zuzustimmen. „Bartholomeos ist ein weiser Mann“, sagt ein ukrainisch-orthodoxer Metropolit im Interview. „Ihm bleibt nicht verborgen, wo Demut in Überheblichkeit und Achtung für das Gegenüber in Demütigung dieses Gegenübers umschlägt.“ – Eine so diplomatische wie treffliche Umschreibung der Erniedrigung alles Ukrainischen seitens russisch-orthodoxer Glaubensbrüder und deren immer aggressiver gewordenen Attacken gegen die, wenn auch nur spaltweise, Öffnung der Mehrheit in der ukrainisch-orthodoxen Kirche für einen Kurs, der sich aufgeschlossener zeigt für bestimmte Entwicklungen der modernen und liberalen Gesellschaft. Wobei anzumerken ist, dass sich damit zwar die Mehrheit orthodoxer Christen in der Ukraine von der Führung durch das Moskauer Patriarchat abgewendet hat, ein Teil – vorwiegend im Osten der Ukraine – jedoch für den Verbleib unter dem Dach der ROK optierte und dabei auch bis heute geblieben ist.
Bartholomeos‘ Entscheidung dürfte die seit Jahrhunderten weitreichendste eines Obersten Patriarchen der weltweiten Gemeinschaft orthodoxer Christen gewesen sein. Es war eine offene Kampfansage an den reaktionär-dogmatischen Kurs der Russisch-Orthodoxen Kirche und damit ganz persönlich an Kyrill I., dessen Reaktion nicht lange auf sich warten ließ.
Seit der Abspaltung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche nimmt nicht nur die Zahl der öffentlich dokumentierten Treffen zwischen dem Patriarchen und dem russischen Präsidenten erheblich zu. Auffallend ist auch, dass Kyrill I. sich immer öfter, mit immer expliziteren und aggressiveren Aussagen zu tatsächlichen oder unterstellten Entwicklungen in der Ukraine äußert und schließlich, im Einklang mit Putin, zu dem Fazit kommt: „Das ukrainische Volk ist dem Westen verfallen, und seine verlorenen Seelen wüten gegen das Gute und Wahre wie einst Saulus gegen das Wahre und Gute gewütet hat. Doch die Hoffnung, dass es wie Saulus aus eigener Kraft zu Vernunft und Bekehrung findet, ist seit seiner endgültigen Abkehr gering. Wenn seine Fäulnis nicht um sich greifen soll, muss seine Überheblichkeit ausgelöscht werden.“
Teil 3: Iwan Iljin – der Gott neben Gott
Nachdem aus dem „kommissarischen Präsidenten“ Wladimir Putin im Mai 2000 durch mehr oder minder demokratische Wahlen ein verfassungsgemäßer Präsident der Russischen Föderation geworden war, stand dieser einerseits tief in der Schuld der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK), ohne deren entschlossenen und „segensreichen“ Auftritt Jelzins Plan kaum aufgegangen wäre; andererseits brauchte der neue russische Präsident schnell einen markanten Erfolg, der ihm beim russischen Volk den nötigen Respekt und Rückhalt verschaffen konnte.
Der seit längerem schwelende Krieg „gegen die tschetschenischen Banditen und Terroristen“ bot sich an: Putin trieb ihn gezielt in eine schwere Eskalation. Unübersehbar war die damit einhergehende Dankesgeste an die Kirche, die ihm auch hierfür ihren Segen gegeben hatte. Nicht nur orthodoxe Priester verstanden, dass das Wort „tschetschenisch“ in dem zitierten Schlachtruf als Synonym für „muslimisch“ gemeint war. Die Ironie der Geschichte wollte es so, dass 22 Jahre später, in Putins Krieg gegen die Ukraine, auch tschetschenische Soldaten auf russischer Seite kämpfen, und sich in Mariupol für jeden zerstörten Häuserblock und eroberten Straßenzug mit „Allahu Akbar!“-Rufen feiern.
Normal ist, was man nicht ändern kann
Die über Jahrhunderte entstandene und, wie oben beschrieben, selbst zu Sowjetzeiten gepflegte, symbiotische Beziehung und wechselseitige Instrumentalisierung zwischen weltlichem und kirchlichem Machtapparat in Russland hat sich unter Putin noch weiter vertieft.
Der Mehrheit des russischen Volkes ist das allenfalls ein Achselzucken wert. Wer es nicht für normal hält, nimmt es als gegeben und unabänderlich hin. Ohnehin gilt Kritik an der Kirche und ihren Vertretern in orthodox geprägten Gesellschaften nach wie vor weithin als ein Sakrileg. Man mag sich über die Stadtverwaltung beklagen oder den Gouverneur als korrupt verteufeln, aber sobald das Gespräch auf die Kirche kommt, verstummt selbst eine Runde unter vermeintlich guten Freunden schnell. Zumal in der Russisch-Orthodoxen Kirche kann von einem offenen und kritischen Diskurs zwischen Klerus und Gläubigen nicht die Rede sein. „Der Weg der Lehre geht von oben nach unten. Der Gläubige nimmt sie demütig auf und verinnerlicht sie, ohne Klagen und ohne Fragen. So war das, so ist das und so soll das auch bleiben,“ sagt Andrej, ein ukrainisch-orthodoxer Priester, der sich von dieser Dogmatik abgekehrt hat und, wie er es nennt, für eine „Zukunft der Ökumene“ kämpft – neuerdings nicht nur mit Worten, sondern mit dem Gewehr. „Gebete allein werden uns nicht retten. Gott ist unser Zeuge dafür, dass wir verteidigen, was wir friedlich in seinem Namen geschaffen haben. Eine Kirche, die einen Krieg segnet und ein angebliches Brudervolk als Feind verunglimpft, hat jedes Recht, sich auf Gott zu berufen, verwirkt. Der Geist von Patriarch Kyrill muss so verwirrt und vernebelt sein wie der von Putin.“
Der Präsident und der Patriarch: Eine unheilige Symbiose
Zur engen Verbindung der Interessen kommt bald eine enge Beziehung auch auf persönlicher Ebene. Im Dezember 2008 stirbt Alexius II., der Patriarch, der Putin ins Amt geholfen hatte. Sein Herzversagen kam überraschend, wird gleichwohl nicht weiter untersucht und sorgt, in Kombination mit seiner mittlerweile kaum mehr zu bezweifelnden KGB-Vergangenheit (Deckname „Drosdow“) und seiner engagierten Annäherung an die römisch-katholische Kirche, bis heute für Spekulationen.
Angeblich wurden mehrere geplante Treffen zwischen ihm und dem damaligen Papst Johannes Paul II. durch innerkirchliche Intrigen verhindert. Maßgeblich daran beteiligt gewesen sein soll der Glaubensbruder, der später sein Nachfolger wird: Kyrill I., während der Amtszeit von Alexius II. Metropolit von Smolensk und Kaliningrad, zwei der kirchenpolitisch einflussreichsten Diözesen innerhalb der ROK.
Zwei von einem Geist
Für die oft geäußerte Behauptung, Putin und Kyrill I. hätten sich bereits aus KGB-Zeiten gekannt, gibt es bis dato keinen zweifelsfreien Beleg. Umso interessanter ist die Geistesverwandtschaft, die sich schon kurz nach Kyrills Wahl zum neuen Kirchenoberhaupt zwischen den beiden offenbart.
Ob es Freundschaft ist, oder, eher wahrscheinlich: ein strategisches Bündnis, was die beiden verbindet: Schnell wird offensichtlich, dass hinter der Symbiose zwischen Kreml und Kirche ab sofort mehr steht als profanes, machtpolitisches und materielles Nutznießertum.
Wladimir Wladimirowitsch Putin und Wladimir Michailowitsch Gundjajew alias Kyrill I. verbindet eine Ideologie. Ein Weltbild, das wenig Sympathie hat für die Errungenschaften der Aufklärung und der Moderne und sich stattdessen auf eine Handvoll nationalchauvinistischer, radikal religiöser, hauptsächlich russischer ‚Denker‘ beruft, aus denen wiederum einer besonders herausragt: Iwan Alexandrowitsch Iljin (1883 – 1954). Dieser liefert besonders brauchbare Argumente, wenn es um die Wiederherstellung des Großrussischen Reichs geht und erweist sich zugleich als ideale geistige Brücke zwischen weltlicher und religiöser Macht.
Kyrill schwärmt von Iwan Iljin als „dem größten Denker, den Russland hervorgebracht hat“; Putin antwortet Schülern auf die Frage nach seinem größten Vorbild: „Iljin.“
Geschichtsklitterung, Führerkult, Heilsbotschaften
Iljins Schriften lesen sich über weite Strecken wie Pamphlete eines Oberprimaners: Konglomerate aus missverstandenem Kant, Fichte und Hegel, zusammengehalten von bildkräftigen, alttestamentarischen Dogmen, durchsetzt von wild gedeuteten und zurecht gebogenen Thesen Sigmund Freuds. Dazu pathetisch aufgeladene „Staatsphilosophien“, untermauert durch eine radikale orthodoxe Religionsphilosophie.
Man unterschätzt den Beitrag dieses ‚Denkers‘ nicht, wenn man unterstellt, dass sein Werk ohne Bedeutung für die Menschheit geblieben wäre, hätten nicht Wladimir Putin und Patriarch Kyrill I. darin ihr Arsenal an Argumenten für ein Gemisch aus Geschichtsklitterung, Führerkult, Heilsbotschaften, nationalchauvinistischen Phrasen und metaphysisch aufgeladenen Analogien gefunden. So aber kommt, wer die „Argumentation“ hinter Putins Krieg und Kyrills Kreuzzug verstehen will, nicht um die Marter einer Lektüre seiner Machwerke herum.
Hitler: zu wenig religiös. Mussolini: inspirierender Führer
Entscheidend für Putin und Kyrill ist Iwan Iljins Kernthese von Russland als der Nation, mit der sich ein „christliches Heilsversprechen“ erfülle.
Gott, so Iljin, schuf die Welt, um sich selbst zu vervollkommnen. Mit der Erschaffung des Menschen indes kam die Sünde in diese Welt, die daraufhin in Stücke zerbrach. Um zu retten, was seitdem verloren ging, braucht es eine rechtschaffene Nation unter einem starken Führer. Iljin schwärmte zunächst für Adolf Hitler, musste aber erkennen, dass dieser von Religion zu wenig hielt. Bei Mussolini fand er schon eher, was in sein Konzept passte. Die Reden und Auftritte des „Duce“ inspirierten den Vielschreiber Iljin zu immer neuen Variationen einer Rechtfertigung des politischen Totalitarismus.
Rechtsstaatlichkeit ist für Iljin kein Grundrecht, Demokratie ein Irrweg. Insbesondere die aufstrebende, gesellschaftliche Mittelklasse stehe aufgrund ihres Selbstbewusstseins und ihres Strebens nach Selbständigkeit den „wahrhaftigen Führern“ im Weg: Wie sollte eine Nation jemals geschlossen und stark in der Welt stehen, wenn sie, wie die europäischen, „aus lauter Einzelgängern“ bestand? Stattdessen brauche es eine „Diktatur der nationalen Erziehung“.
In Mussolinis Faschismus sah Iljin ein erstes, vielversprechendes Modell. „Der Faschismus ist das rettende Übermaß an patriotischer Willkür.“ Aber ungeachtet aller Begeisterung für den „Duce“, gab es nur ein Volk, das für den „Akt der Erlösung“ in Frage kam: Das Russische. Hatte es sich nicht „jahrhundertelang tugendhaft und ohne sich jemals selbst zu verleugnen gegen Angriffe und Übergriffe verteidigt“? War es nicht – unter allen christlich-abendländischen Völkern – „das Eine und Einzige“, das seinen „göttlichen Wesenskern niemals verleugnet und niemals verloren“ hatte? Konnte es sich nicht zu jeder Zeit darauf verlassen, dass „Gott ihm seelische Stärke verlieh“?
„Eine Ukraine gibt es nicht.“
Von der „Ukraine“ und den „Ukrainern“ spricht Iwan Iljin stets nur mit Ironie und sarkastischer Hervorhebung. Wer seit dem 24. Februar 2022 Putins Reden und Kyrills wöchentliche Hirtenbriefe liest, wird nicht nur sinngemäße Übereinstimmungen finden, sondern auch eine Zunahme an Aggressivität, für die selbst Iwan Iljin ein halbes Leben brauchte.
Wann Kyrill diesen „Denker“ entdeckt hat, ist schwer zu rekonstruieren. Da Putin sich seit seinem Amtsantritt in seinen Reden regelmäßig auf Iljin bezog und außerdem 2005 dessen Gebeine aus der Schweiz nach Moskau holen und dort mit kirchlichem Pomp bestatten hatte lassen, dürfte er sich spätestens seitdem eingehender mit ihm befasst haben.
Iwan Iljin – der neue Säulenheilige
Gemeinsam haben Putin und Kyrill I. den zuvor nicht zu Unrecht wenig bekannten „Denker“ Iwan Iljin zum Säulenheiligen ihrer Ideologie von einem „Heiligen Russland der modernen und christlich-orthodoxen Zeit“ erhoben und zur Pflichtlektüre in den Schulen gemacht.
Der Zerfall der Sowjetunion soll der Schlusspunkt einer an sich selbst gescheiterten Epoche sein, aber auf dem Weg zur Wiederherstellung Russlands historischer Bedeutung allenfalls eine Zäsur. Größeres werde folgen, nicht nur im Sinne einer territorialen Macht, sondern von weltlicher Macht plus göttlicher Erhabenheit.
Das künftige „Großrussische Reich“, das unter ihm, Wladimir Putin, mit tatkräftiger Unterstützung und dem Segen der Russisch-Orthodoxen Kirche aus der heutigen Russischen Föderation hervorgehen soll, soll die Verirrungen der Geschichte revidieren und vollbringen, was seit Jahrtausenden auf seine Vollendung – und seinen Vollender – wartet: Die „Russki Mir“, die „Russische Welt“ als einem Reich Gottes auf Erden.
Und, was entscheidend ist: Für den Fall, dass er selbst dieses Vorhaben nicht vollenden können sollte, werden es seine Nachfolger tun. Den Rückhalt im Volk wird ihnen, so ist der Plan, der dank Kyrill bislang aufgeht, die Russisch-Orthodoxe Kirche sichern.
Wer an einen Frieden nach diesem grauenvollen Krieg denkt, muss diese ideologischen Hintergründe und vor allem die für dieses Weltbild elementare Verflechtung von Staat und Kirche, politischen und religiösen Mythen, berücksichtigen. Der Westen muss sich dringend lösen von seiner alleinigen Fokussierung auf Wladimir Putin. Was derzeit in der Ukraine geschieht, ist ein Gemeinschaftsverbrechen, an dem die Russisch-Orthodoxe Kirche einen fundamentalen Anteil hat. Die von Putin angekündigte Umerziehung aller überlebenden und auf dem Territorium verbleibenden Ukrainer soll nicht nur eine „Entnazifizierung“ sein. Sie soll auch eine „Rechristianisierung“ werden. Putins Krieg in der Ukraine ist zugleich der Kreuzzug von Kyrill I.
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