Zukunftsszenarien für Russland: ein optimistischer aber realistischer Ausblick
Putin hat in Russland eine Diktatur etabliert, aber das Land ist nicht dazu verdammt, eine finstere imperialistische Macht zu sein. Ein demokratischer Wandel in Russland ist möglich und die freie Welt muss ihn unterstützen, schreibt Wladimir Milow.
ZUSAMMENFASSUNG
Die jetzige Diktatur in Russland und ihre aggressive imperiale Politik spiegelt nicht den Willen der russischen Bevölkerung wider, sondern ist Ergebnis einer Machtergreifung durch eine Clique um Wladimir Putin. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die russische Gesellschaft eigentlich Demokratie und normale Beziehungen zum Westen wünscht.
Das herrschende Regime wird sich nicht ändern, solange Putin an der Macht ist. Aber wenn er eines Tages abtritt, ist ein demokratischer Wandel viel wahrscheinlicher als eine weitere Radikalisierung. Denn die Kosten der jetzigen imperialistischen Politik sind enorm, während jede Form der Liberalisierung riesige Vorteile bringt. Deshalb wird es für die opportunistischen Eliten, die bisher Putin unterstützt haben, rational sein, einen konzilianteren Kurs einzuschlagen.
Vorhersagen, dass Russland auseinanderbrechen wird wie einst die Sowjetunion, beruhen auf falschen Annahmen. Die nichtrussischen Regionen haben nicht annähernd so viel Nationalbewusstsein wie die Sowjetrepubliken 1991. Außerdem wäre es für sie enorm schwierig, außerhalb des russischen Staatsverbundes zu überleben. Separatistische Bestrebungen haben nur wenig Rückhalt in der Bevölkerung, aber Rufe nach mehr Selbstbestimmung können helfen, ein demokratisches Russland zu einer echten Föderation zu machen.
Der Weg Russlands zu einer echten Demokratie mag noch weit sein, aber die Grundvoraussetzungen dafür – der Wunsch nach Demokratie und die Ablehnung von Autokratie – sind vorhanden. Die westlichen Demokratien sollten aus ihren Fehlern lernen und den kommenden demokratischen Wandel in Russland unterstützen statt ihn zu brüskieren.
Es ist nicht leicht, über mögliche Zukunftsszenarien für ein Russland nach dem Krieg zu sprechen. Die politische Debatte in Russland wird traditionell vom Status quo beherrscht: ein rücksichtsloses, repressives Unrechtsregime ohne moralische Skrupel, das noch immer über erhebliche Ressourcen verfügt, und eine passive Zivilgesellschaft, die scheinbar jedes auch nur annähernd unabhängige politische Verhalten abgelegt hat.
Dabei darf man aber folgendes nicht vergessen: Das politische System in Russland glich in den letzten 50 Jahren einer Achterbahnfahrt, trotz ständiger Beteuerungen der Herrschenden, dass, wenn „der Sozialismus im Stile Breschnews für immer existiert“, auch „die Demokratie für immer existiert“. Dasselbe wird nun über Putins Regime gesagt, auch es sich nur mit Mühe halten kann. Russlands Ressourcen sind knapp und schwinden, der monopolistische Dirigismus in der Wirtschaftspolitik funktioniert nicht, und China ist nicht daran interessiert, strategisch in den globalen Aufstieg eines neuen Russlands zu investieren. Nach einem Jahrzehnt sinkender Lebensstandards – die Russen sind im Durchschnitt 15 Prozent ärmer als vor der Krim-Annexion 2014 – haben die Menschen ihre Lage satt. Seit 2008 fallen Putins Beliebtheitswerte: Diesem Trend konnte er nur mit extremen Maßnahmen wie der Krim-Annexion (deren positive Wirkung nicht lange anhielt) und dem Einmarsch in die Ukraine 2022 entgegensteuern. Das aktuelle System ist offensichtlich nicht in der Lage, der russischen Bevölkerung einen Weg nach vorne, geschweige denn eine Zukunftsvision zu bieten.
All das weist darauf hin, dass Veränderungen bevorstehen. Doch wie genau könnten die aussehen?
Status quo mit Putin oder einer anderen Führungsfigur
Solange Putin alles kontrolliert, kann von politischen Veränderungen in Russland natürlich keine Rede sein. In den über 20 Jahren, die er an der Macht ist, hat er die Elite im klassischen politischen Sinne zerstört – was in den Medien als „Elite“ bezeichnet wird, sind meist Leute ohne eigene politische Basis, die völlig abhängig von Putin sind und aus Angst vor politischer Verfolgung nicht mehr eigenständig agieren können. Darüber hinaus hat Putin die organisierte Opposition zerschlagen, die Mehrheit der Bevölkerung entpolitisiert und mit Repressionen zu Tode erschreckt. Er glaubt, die Kontrolle ewig in der Hand halten zu können, und hat ein komplexes System errichtet, um sich gegen jede Art von Komplott oder Putschversuch zu schützen (dieses Thema wäre eine eigene Untersuchung wert).
Was auch immer Putin im Einzelnen über seine Mission, seine Ziele und seine Rolle in der Geschichte denken mag, das mentale Muster ist klar: Er weiß es besser als alle anderen und hält sich für einen einzigartigen Führer von globaler Bedeutung, der viele Jahre und Schwierigkeiten überstanden hat, ohne ständiger Rotation unterworfen zu sein, wie andere Staatsoberhäupter oder russische Polit-Schwergewichte. Der Glaube an die eigene Einzigartigkeit treibt sein Denken gerade sehr stark an, und solange er an der Spitze steht, wird das wohl auch so bleiben.
Doch früher oder später wird Putin gehen. Und es gibt Grund zu der Annahme, dass seine Nachfolger – auch wenn sie zunächst die Fassade eines ähnlich gefestigten imperialistischen Regimes aufrechterhalten – versuchen werden, eine deutliche Kehrtwende in der Innen- und Außenpolitik einzuleiten. Dafür sprechen unter anderem folgende Gründe:
- Putins Elite besteht mehrheitlich aus reinen Opportunisten, die sich nicht an eine bestimmte Ideologie gebunden fühlen. Es gibt namhafte Ausnahmen wie Nikolai Patruschew, den Sekretär des Nationalen Sicherheitsrats, und möglicherweise einige andere „Ajatollahs“ an der Spitze, aber sie sind in der Minderheit und haben nicht die Mittel, sich die Macht langfristig zu sichern. Patruschew ist 71 Jahre alt und verfügt weder über genügend Charisma noch Legitimation der Bevölkerung (anders als Putin 1999/2000), so dass er kaum eine persönliche Macht wie Putin aufbauen könnte (schließlich gründete sich dessen Machtfestigung zu einem großen Teil auf seine Popularität als junger, dynamischer Anführer). Die restliche russische „Elite“ vertritt keine bestimmte Ideologie oder Werte und hat ihr Fähnchen im Laufe der Karriere oft nach dem Wind gehängt (wie sich leicht zurückverfolgen lässt). Sie haben keine tief verwurzelten Motive, um an Putins Ideologie festzuhalten.
- Eine Fortsetzung des aktuellen Kurses bringt horrende Kosten für die Elite mit sich, während eine politische Wende klare Vorteile bedeutet.
- Die Putinschen Eliten sind sich der anhaltenden Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Großteil ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik bewusst. Im Grunde hält die Menschen nur Wladimir Putins alles beherrschende persönliche Autorität bei der Stange, die er über 20 Jahre lang aufgebaut hat. Keiner seiner Nachfolger hätte eine ähnliche Legitimität und öffentliche Autorität, um einen politischen Kurs und Entscheidungen gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen.
- Es gibt aus der russischen Bevölkerung keine Forderungen nach einem aggressiven imperialistischen Kurs. Sowohl der Angriff auf die Ukraine 2014 als auch der 2022 begonnene Krieg haben die russische Öffentlichkeit völlig unvorbereitet getroffen; Umfragen von vor dem Einmarsch zeigen keinerlei Ambitionen in dieser Richtung. Obwohl es in der Bevölkerung breite Zustimmung (die wiederum differenziert betrachtet werden muss) für Putins Krieg gibt, halten die meisten Russen Friedensverhandlungen für den besten Weg. Viele Umfragen zeigen, dass die meisten Russen trotz ihrer West-Skepsis eine Normalisierung der Beziehungen einer langgezogenen Pattsituation vorziehen.
- Wie sich gerade deutlich zeigt, sind politische Repressionen zur Niederschlagung öffentlichen Unmuts eine kostspielige Angelegenheit. Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass auch Putins Nachfolger diesen Weg einschlagen, aber da sie nicht die ideologische Motivation von iranischen oder nordkoreanischen Herrschern teilen (siehe oben), legt eine einfache Kosten-Nutzen-Rechnung nahe, dass es sich lohnen könnte, einen sanfteren Kurs ins Auge zu fassen.
All das zeigt, dass es für künftige autoritäre Führer sehr schwer wird, den derzeitigen imperialistischen Isolationskurs fortzuführen – die Kosten wären beträchtlich, die Vorteile einer politischen Wende hingegen enorm. Um Putins Aggressionskurs beizubehalten, bräuchte man eine Gruppe ideologischer Anführer, die sich mit Leib und Seele der Sache verschrieben haben – so wie die iranischen Ajatollahs. Aber davon gibt es in der russischen Elite, wie gesagt, nicht viele, sie besteht größtenteils aus reinen Opportunisten, die vermutlich gerne den Kurs ändern würden, aber zu viel Angst haben, sich Putins Zorn zuzuziehen. Sie sind weder „Ajatollahs“ noch muslimische Gelehrte und wurden auch nicht von nordkoreanischen Marxistenpredigern getauft. Daher ist ein Status quo als solcher vermutlich die unwahrscheinlichste Option.
Allerdings kann man sicher davon ausgehen, dass die herrschende Elite versuchen wird, die Kontrolle über die Gesellschaft zu behalten und ein Regime zu schaffen, das dem heutigen de facto gleicht, nur ohne dessen aggressivste politische Instrumente. Ähnliche Entwicklungen gab es in den zentralasiatischen Diktaturen wie Usbekistan und Kasachstan, wo die Nachfolger der Diktatoren Islam Karimow und Nursultan Nasarbajew deren gefestigte autoritäre Herrschaft beibehalten haben. Mit Lippenbekenntnissen zu „politischen und wirtschaftlichen Veränderungen“ wollen sie dem Westen und der eigenen Bevölkerung weismachen, dass „genug Wandel stattgefunden“ habe und die autoritäre Herrschaft bis auf ein paar kosmetische Korrekturen beibehalten werden sollte.
Die wichtigste Frage ist, ob es einer autoritären Post-Putin-Regierung gelingt, nach seinem Abgang dauerhaft ein leicht angepasstes Putinsches System zu installieren. Vor allem zwei Faktoren sprechen dagegen:
- Zum einen herrscht in der Bevölkerung eine enorme Unzufriedenheit mit dem System, wie viele Umfragen und das Wahlverhalten zeigen. In den vergangenen 15 Jahren ist die allgemeine Unterstützung von Putins System und seiner Persönlichkeit beständig gesunken und erreicht immer neue Rekordtiefs. Nur waghalsige Aktionen wie die Krim-Annexion 2014 und der Krieg gegen die ganze Ukraine 2022 konnten seine Beliebtheitswerte retten. Das russische Volk verabscheut das aktuelle System zutiefst und will Veränderungen. Es wird für eine Post-Putin-Nomenklatura sehr schwer, die Ordnung ohne massive Repressionen aufrechtzuerhalten. Politiker, die für Wandel stehen, werden dagegen immer beliebter – wie etwa Sergej Furgal, der als Gouverneur der Region Chabarowsk 2018–2020 das politische Monopol der Putin-Partei „Einiges Russland“ demontiert hat und dafür im russischen Fernen Osten viel Anerkennung und Beifall erhielt.
- Zum anderen wird es sehr schwer, die Stimmen einzudämmen, die nach radikalen Systemveränderungen statt bloßer kosmetischer Korrekturen rufen, und zwar ohne totalitäre Repressionen. Die Opposition genießt große Popularität und ist keinesfalls „marginal“. Als Proteste noch erlaubt waren, gab es mehr Kundgebungen für Alexej Nawalny und Co. als Veranstaltungen der systemischen politischen Kräfte. Wenn sie zur Wahl zugelassen waren, haben Nawalny-Unterstützer und andere aussichtsreiche Oppositionskandidaten gezeigt, dass sie mit Leichtigkeit mindestens 20–30 Prozent der Wähler für sich gewinnen können, und das oft weit über die Grenzen von Moskau hinaus. Ein Paradebeispiel dafür ist die Aufstellung des engen Nawalny-Verbündeten Sergej Boiko zu den Bürgermeisterwahlen von Nowosibirsk, der größten russischen Stadt östlich von Moskau, im Jahr 2019: Boiko wurde mit fast 20 Prozent der Stimmen Zweiter und kam beinahe in die Stichwahl, schnitt also besser ab als die meisten Kandidaten der Systemparteien. Selbst heute findet die Forderung nach radikalem demokratischen Wandel großen Zuspruch – so erreichten Nawalnys Youtube-Kanäle 2022 in Russland mehr als 30 Millionen Zuschauer. Diese politischen Kräfte lassen es nicht zu, dass die politische Öffnung in kosmetischer Schönfärberei endet.
Aus diesen Gründen steht jede Post-Putin-Regierung unter massivem Druck, echten politischen Wandel herbeizuführen, und muss sich entscheiden, ob sie entsprechende Forderungen mit brutaler Gewalt niederschlägt oder ihnen nachkommt, möglicherweise gegen den eigenen Willen (ein „Gorbatschow-Szenario“). Es bleibt abzuwarten, ob eine neue Regierung bereit ist, ihre Herrschaft mit zügelloser Gewalt gegen die Zivilgesellschaft einzuläuten, ohne über Putins Legitimierung zu verfügen, aber eins ist klar: Fehlende Ressourcen und Legitimierung machen es sehr schwer, Bottom-Up-Forderungen nach politischer Öffnung einzudämmen, ohne extreme, brutale Gewalt einzusetzen. Vergessen wir nicht, dass sich Putins Machtkonsolidierung vor dem Hintergrund eines beträchtlichen Wirtschaftswachstums und der Anhäufung riesiger Finanzüberschüsse und Reserven vollzog – also mehr Zuckerbrot als Peitsche. Diese günstige Ausgangsposition wird einer neue Regierung gänzlich fehlen.
Die zwei weitaus realistischeren Szenarien sind also:
- „Kosmetische” Öffnung, die gegen den Willen ihrer Urheber außer Kontrolle gerät (Gorbatschow-Szenario);
- Einigung mit den radikaleren Oppositionskräften über einen friedlichen Übergang zur Demokratie.
Ein direkter Übergang zur Demokratie gleich nach dem Ende von Putins Herrschaft ist wegen der Trägheit des Systems eher unwahrscheinlich. Realistischer scheint dagegen eine Entwicklung wie in Rumänien, wo die alten Eliten nach Nicolae Ceaușescus Tod 1989 im Grunde noch bis zur rumänischen Parlamentswahl 1996 an der Macht blieben, oder in Südkorea, wo nach dem Ende des Regimes von Chun Doo-hwan 1988 zunächst die herrschende Gruppe die Kontrolle behielt, in den frühen 1990er Jahren aber den vollständigen Übergang zur Demokratie vollzog.
Szenario 1: Radikalisierung des Regimes
Manche halten es für einen spannenden Zeitvertreib zu behaupten, dass „wer auch immer nach Putin kommt, noch radikaler, aggressiver und nationalistischer wird“. Derartige Behauptungen bilden zu einem erheblichen Maß die Grundlage von Putins politischer Stärke – viele halten ihm die Treue, weil sie Angst davor haben, was als nächstes kommt. Hier einige Überlegungen, warum eine Radikalisierung des Regimes nach Putin ein unwahrscheinliches Szenario ist.
Erstens aus historischen Gründen: Mit Ausnahme von Putin haben russische Politiker nach dem 2. Weltkrieg in der Regel einen gemäßigten Kurs verfolgt. Auf Stalins Tod folgte Chruschtschows Tauwetter, und selbst unter der scheinbar konservativeren Herrschaft Leonid Breschnews wurden bahnbrechende Verträge – über Rüstungskontrolle mit den USA und die Schlussakte von Helsinki 1975 – unterzeichnet. Breschnews Ära der Stagnation (Sastoj) war weitaus weniger repressiv als die 1950er und 1960er Jahre. Zwei Versuche, eine neue Hardline-Politik durchzusetzen – die Andropow-Tschernenko-Phase von 1983–1984 und der Putschversuch von KP-Hardlinern im August 1991 (beide Episoden weisen Ähnlichkeit mit Putins konservativer Restauration auf) scheiterten, weil es offenkundig an Ressourcen mangelte, um eine repressive Politik aufrechtzuerhalten.
Der August-Putsch von 1991 ist in dieser Hinsicht bemerkenswert. Er war eindeutig ein Versuch, die Öffnungstendenzen der Perestroika zu revidieren und das Regime massiv zu radikalisieren – genau so, wie sich viele Experten ein mögliches Post-Putin-Szenario vorstellen. Der Putschversuch scheiterte krachend, vor allem weil die meisten Akteure – einschließlich eines Großteils der Elite – schlichtweg nicht daran glaubten, dass das selbsternannte „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“ in tiefer internationaler Isolation die schwierige soziale und wirtschaftliche Lage bewältigen könne. Daher verweigerten sie ihm die Unterstützung (Nichtstun ist oft eine sehr effektive Methode, um den Zusammenbruch eines Regimes zu beschleunigen).
Dass auf die politische Verschärfung von 1983/1984 Öffnung und Perestroika folgten, hatte ähnliche Gründe: Die KP-Chefs begriffen, dass sie schlicht nicht genug Ressourcen hatten, um eine harte Linie aufrechtzuerhalten, während ein Kurswechsel beträchtliche Vorteile versprach. Auch die Belastung durch den langwierigen Krieg in Afghanistan spielte eine Rolle, denn dadurch waren selbst Hardliner wie Andropow gezwungen, nach Exit-Strategien zu suchen. Bereits auf Breschnews Beerdigung 1982 bemühte sich der eben frisch gewählte KPdSU-Parteisekretär um Gespräche mit dem pakistanischen Präsidenten Mohammed Zia-ul-Haq. Die 1985 einsetzende Öffnung unter Gorbatschow war keine spontane Entscheidung, sondern schon länger in Führungskreisen ausgebrütet worden.
Auch wenn manche russischen Politiker momentan eine imperialistische Einstellung zu haben scheinen, verstehen sie doch die Kosten-Nutzen-Analyse zwischen harter Linie und politischer Öffnung. Die rationale Entscheidung ist klar, ein sanfterer Kurs wird einzig und allein durch Putins persönliche Weltsicht und seine Vorurteile nach fast einem Vierteljahrhundert an der Macht verhindert. Die Beseitigung dieses Hindernisses ist ein wichtiger Faktor für die politische Öffnung, nicht für weitere Radikalisierung.
Zweitens kommen aus der russischen Bevölkerung kaum Forderungen nach Radikalisierung. Parteien mit entsprechendem Programm haben in den vergangenen drei Jahrzehnten nie gut abgeschnitten. Selbst die alles beherrschende Regierungspartei „Einiges Russland“ präsentiert sich selbst als „gemäßigte“ Alternative zu anderen Parteien. Die öffentliche Unterstützung für Wladimir Putin hat immer auf der Vorstellung beruht, damit die Machtübernahme radikalerer Kräfte zu verhindern. Selbst in der aktuellen antiwestlichen Stimmung spricht sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung eher für eine Normalisierung der Beziehungen zum Westen aus als für einen langwierigen Konflikt – und diese Mehrheit ist seit Jahren stabil. Zwar befürworten die meisten Russen in Umfragen Putins Krieg (oder „Spezialoperation“, wie es im offiziellen Jargon heißt) gegen die Ukraine, doch dabei verwenden 80 Prozent der „Befürworter“ defensive anstatt offensiver Narrative, um ihren Standpunkt zu rechtfertigen: Ihrer Meinung nach hat entweder die Ukraine einen Genozid gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbas verübt oder „der mögliche NATO-Beitritt der Ukraine stellt eine militärische Bedrohung für Russland dar“. Keines dieser Narrative trifft zu, doch die russische Staatspropaganda hat sie erfolgreich etabliert.
Selbst jetzt, wo Großmachtgedanken in der russischen Gesellschaft Hochkonjunktur haben, spielen offen imperialistische Organisationen wie Nikolai Starikows Partei „Großes Vaterland“ oder Jewgeni Fjodorows „Nationale Befreiungsbewegung“ weder in Umfragen eine Rolle noch erhalten sie merklichen Zulauf aus der Bevölkerung. Zu ihren Kundgebungen kommen gerade mal ein paar hundert Anhänger, kein Vergleich zu den sechsstelligen Teilnehmerzahlen bei den Oppositionsprotesten der letzten Jahre. Der bekannte Ultranationalist Alexander Dugin versucht seit über 30 Jahren erfolglos, eine Partei oder eine politische Bewegung aufzubauen – zu seinen Veranstaltungen kommen höchstens 1000 bis 2000 Teilnehmer, wie man leicht auf Youtube nachverfolgen kann.
Drittens besteht Putins Elite, wie oben gezeigt, überwiegend aus Opportunisten, und Hardlinern –„Ajatollahs“ wie Sicherheitsrats-Sekretär Patruschew sind in der Minderheit.
Es spricht also weder aus historischer noch aus sozialer Sicht oder von Seiten der Eliten etwas dafür, dass Russland auf eine künftige Radikalisierung zusteuert.
Russlands postimperiales Syndrom wird von Experten stark überschätzt und aufgebläht. Natürlich existiert es, doch noch in den frühen 2000ern waren die Russen offenbar zufrieden mit ihrer Stellung in der Welt, die meisten sahen den Westen positiv und genossen ein noch nie dagewesenes Wirtschaftswachstum und die Integration in die globale Gemeinschaft. Sicher gab es gewisse postimperiale Ressentiments, aber doch in weit geringerem Umfang als etwa im postimperialen Großbritannien oder Frankreich. Bis zur Annexion der Krim 2014 war die Restauration der früheren Weltmachtstellung nie ein Thema in der großen Politik. Selbst der bescheidene Erfolg der nationalistischen Partei „Rodina“ (Vaterland) bei den Duma-Wahlen 2003, wo sie 9 Prozent der Stimmen erhielt, hing mehr mit der oligarchenfeindlichen Sozialagenda zusammen als mit nationalistischen Losungen. An den rechtsextremen „Russischen Märschen”, die gewöhnlich zum 4. November stattfanden, nahmen viel weniger Menschen teil an als an prodemokratischen Demonstrationen. Ganz zu schweigen davon, dass etwa die Hälfte aller russischen Nationalisten Antiimperialisten sind und viele von ihnen seit 2014 in der Ukraine gegen Russland kämpfen.
Die aktuelle postimperiale Stimmung ist in erster Linie auf 20 Jahre massive Propaganda zurückzuführen. Doch auch wenn viele Russen bereitwillig die Narrative aus dem Fernsehen übernehmen, sind sie nicht bereit, bei der „Wiederherstellung der Weltmacht“ mitzuhelfen. Das zeigen die seit 2014 kläglich gescheiterten Versuche, eine überzeugende Freiwilligenarmee für den Kampf gegen die Ukraine aufzustellen; die russische Teilmobilisierung, die Putin im September 2022 verkündete, war de facto nichts anderes als eine Kapitulation vor den vergeblichen Bemühungen, große Mengen von Freiwilligen zu rekrutieren.
Im Zusammenhang mit einer möglichen künftigen Radikalisierung Russlands ist oft die Rede von paramilitärischen Einheiten unter dem Kommando brutaler Kriminelle wie Jewgeni Prigoschin, dem Gründer der Söldnertruppe „Wagner“, oder dem tschetschenischen Republikchef Ramsan Kadyrow. Solche Leute haben jedoch keinen Einfluss im russischen Entscheidungssystem. Zusammengenommen verfügen sie über bewaffnete Einheiten von kaum mehr als 20.000 Mann, was nichts ist im Vergleich zum staatlichen Sicherheitsapparat und nicht annähernd für eine Machtergreifung ausreicht.
In der Regel ist das Entstehen solcher nichtstaatlicher ultrakonservativer, paramilitärischer Einheiten – sogenannter Schwarzer Hundertschaften (Tschernosotenzy) – ein Zeichen für einen angeschlagenen Staat. Die Zentralregierung kann das Land nur noch mit Unterstützung nichtstaatlicher paramilitärischer Einheiten kontrollieren, welche die eigene Bevölkerung sowie Fremde terrorisieren. Doch weder im frühen 20. Jahrhundert noch in den späten 1980er Jahren konnten die russischen paramilitärischen Gruppen den Staat vor dem Zerfall bewahren. Der ultranationalistischen Bewegung „Russische Nationale Einheit“ (RNE) und ihrer Vorläuferorganisation „Pamjat“ (Gedächtnis) ist es nie gelungen, sich als anerkannte politische Kraft zu etablieren. Russlands konservative Restauration unter Putin war eine von den Herrschenden angeordnete Top-Down-Maßnahme, keine Graswurzelbewegung von unten.
Das zeigt: Es gibt zwar im modernen politischen Spektrum Russlands durchaus radikale Kräfte, aber es wäre für diese extrem schwer, 1) die Macht zu ergreifen, da sie nur über eine begrenzte Zahl von bewaffneten Truppen verfügen und ihnen die breite Unterstützung der Bevölkerung fehlt; 2) Russland politisch, gesellschaftlich oder wirtschaftlich zum Erfolg zu führen, denn sie hätten mit erheblichem Gegenwind zu kämpfen, während ihre Ressourcen zur Aufrechterhaltung eines radikalen Regimes äußerst begrenzt sind. Selbst wenn sie es schaffen sollten, sich zu russischen Herrschern auszurufen, gingen sie in dieselbe Falle wie die August-Putschisten – die russische Gesellschaft würde nicht an ihren Erfolg glauben und ihnen eine aktive Unterstützung versagen.
Szenario 2: Demokratischer Wandel
Die meisten Untersuchungen, die Russland das Potential zu nachhaltig demokratischem Wandel absprechen, fußen auf falschen Annahmen und lassen grundlegende Gegebenheiten außer Acht.
Erstens wird oft auf das missglückte Demokratieexperiment der 1990er Jahre verwiesen. Dabei ist es eine seltsame Annahme, dass ein Land nie wieder in der Lage sein wird, eine funktionierende Demokratie aufzubauen, nur weil es beim ersten Versuch nicht gleich geklappt hat. Ein einziger Versuch kann doch nicht die Grundlage für derart fatalistische Schlüsse sein. Außerdem war das russische Demokratieexperiment der 1990er bei näherem Hinsehen gar nicht so erfolglos, wie viele Kritiker meinen. Gemessen an historischen Standards war es sogar ziemlich erfolgreich, denn Russland blieb 15 Jahre lang ein teilweise freies Land (bis 2005 wurde es von der US-Organisation Freedom House als „teilweise frei“ eingestuft). So eine lange Demokratiephase hat die moderne russische Geschichte noch nie erlebt. Die russische Demokratie hat sich unter extrem schwierigen Bedingungen herausgebildet – der Zusammenbruch der sowjetischen Wirtschaft war möglicherweise das schlimmste Wirtschaftsversagen seit Beginn der Industrialisierung, und das wichtigste russische Exportgut, Erdöl, wurde während Boris Jelzins Präsidentschaft zum Preis von durchschnittlich 16,70 US-Dollar pro Barrel gehandelt.
Die heutige Diktatur in Russland beruht nicht auf einer bewussten Entscheidung des russischen Volkes gegen Demokratie, sondern ist das Resultat einer schnellen, koordinierten Machtergreifung vor dem Hintergrund des starken Wirtschaftswachstums in den frühen 2000ern. Die Russen haben sich einer Restauration der Autokratie immer widersetzt, und die Demokratiebewegung war in den letzten Jahren, gemessen an ihrem Protestpotential, deutlich stärker als alle anderen politischen Kräfte im Land. Die 1990er haben Freiräume geschaffen, die Putin auch nach zwei Jahrzehnten Repressionen nicht ganz zerstören konnte. Viele prodemokratische Politiker, Intellektuelle und einfache Bürger sind im Land geblieben, und ihre Zeit wird kommen. Ohne die 1990er wäre die Etablierung einer ernstzunehmenden Demokratiebewegung in Putins Russland nicht möglich gewesen.
Es ist prinzipiell falsch, aufgrund der Schwierigkeiten in den 1990ern und des daraufhin aufgezwungenen Autoritarismus deterministische Schlüsse über die russische Gesellschaft zu ziehen.
Zweitens strebt die russische Gesellschaft, historisch gesehen, schon lange nach Demokratie, wurde aber immer wieder von brutalen Diktaturen niedergeschlagen und unterdrückt. Schon die letzten Jahrzehnte der Zarenherrschaft waren geprägt von Forderungen nach politischer Liberalisierung, nach einer Verfassung, die die Macht der Monarchie beschränkt, und nach einer parlamentarischen Republik (hervorragend resümiert von dem Historiker Orlando Figes in seinem Buch „Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924“). Nach dem Sturz der Monarchie wählten die Russen voller Begeisterung eine Konstituierende Versammlung mit einer nicht-bolschewistischen Mehrheit. Doch die Bolschewiken lösten die Versammlung gewaltsam auf und gründeten die Sowjetunion – auf Grundlage der Eroberungen der Roten Armee und nicht auf Basis freier Willensäußerung der Bevölkerung. Als das sowjetische System nach Stalins Tod allmählich gemäßigter wurde, kamen aus der Zivilgesellschaft klare Forderungen nach demokratischem Wandel. Dieser begann mit Chruschtschows Tauwetter, ging über Gorbatschows Perestroika und endete damit, dass die Russen 1990–1991 mehrheitlich für prodemokratische Kräfte stimmten und Ende 1991 die friedliche Auflösung der Sowjetunion ohne größere Proteste akzeptierten.
Drittens sind, aus heutiger Perspektive, ernstgemeinte Forderungen nach Demokratie aus der russischen Gesellschaft nie verschwunden. Auch wenn eine Mehrheit der Russinnen und Russen im Moment angibt, das westliche Demokratiemodell nicht als Vorbild für ihr eigenes Land zu sehen (Achtung: 20 Jahre Propaganda könnten etwas damit zu tun haben), gibt es starke Anzeichen dafür, dass sich eine Mehrheit ein viel demokratischeres Regierungssystem als das von Putin wünschen. Seit Putin vor 18 Jahren die Direktwahl von Gouverneuren in den Regionen abgeschafft hat, befürworten etwa zwei Drittel der Befragten konsequent die Wiedereinführung solcher Direktwahlen auf allen regionalen Ebenen (auch für Bürgermeister und Landräte) ohne die berüchtigten administrativen „Filter“, mit denen kritische Kandidaten ausgeschlossen werden. Das steht in eindeutigem Widerspruch zu den Grundlagen von Putins Regierungssystem.
Immer, wenn es in Russland auf lokaler Ebene zu einem echten politischen Wettkampf mit unvorhersehbarem Ausgang kommt, schießt die Wahlbeteiligung nach oben. Das zeigt, wie stark das Bedürfnis nach politischem Wettbewerb ist. Gibt es wenig oder gar keinen Wettbewerb, sinkt die Beteiligung dagegen auf Rekordtiefs. Das weist darauf hin, dass die Russen das politische System Putins nicht gutheißen.
2020 kam es überall in der fernöstlichen Region Chabarowsk zu Großdemonstrationen gegen die Entlassung und Verhaftung des kürzlich zum Gouverneur gewählten Oppositionspolitikers Sergej Furgal. Dieser hatte schon oft zur Wahl gestanden, ohne deshalb zum Lokalhelden zu werden, doch diesmal hatten die Chabarowsker für ihn gestimmt, um die Vormachtstellung der Putin-Partei „Einiges Russland“ in der Region zu brechen. Bemerkenswert ist, dass es bei den Massenprotesten in Chabarowsk keinerlei imperiale oder antiwestliche Losungen gab, wohl aber beträchtliche Unterstützung für die gleichzeitig stattfindenden Proteste in Belarus und sogar für die Ukraine – so viel zum „hoffnungslosen russlandweiten Imperialismus“.
Trotz Gehirnwäsche und Repression haben die Menschen ihre demokratischen Grundinstinkte nicht verloren.
Verschiedene Umfragen zeigen, dass Russinnen und Russen höchst unzufrieden damit sind, dass sie bei politischen Entscheidungen nicht mitreden können und dass sie sich nach einem Rechtsstaat sehnen, etwas, das von Putin völlig zerstört wurde. Mit anderen Worten, sie wollen Demokratie.
Die weit verbreiteten regionalen Proteste der letzten Jahre – oft zu Umweltthemen – haben gezeigt, dass Russinnen und Russen sehr wohl in der Lage sind, sich selbst zu organisieren und ihre Rechte trotz massivem staatlichen Druck zu verteidigen. Trotz Gehirnwäsche und Repression haben die Menschen ihre demokratischen Grundinstinkte nicht verloren.
Es gibt in Russland keine nennenswerten politischen Kräfte, die für eine Abschaffung der Demokratie eintreten. Die wenigen, die dies tun – wie Starikows „Vaterland“ oder Fjodorows „Befreiungsbewegung“ – tauchen in Umfragen nicht auf, und zu ihren Kundgebungen kommen, wie gesagt, höchstens ein paar hundert Leute. Der Kreml gibt sich große Mühe, die Fassade „inklusiver Demokratie“ auf allen Ebenen aufrechtzuerhalten. Die herrschende Partei „Einiges Russland“ hält eigens (absolut sinnlose) Vorwahlen ab, nur damit ihre Wähler das Gefühl haben, dass nicht schon jemand anders für sie entschieden hat. Die Kommunisten, die offen mit dem totalitären sowjetischen System sympathisieren und oft mit Stalin-Porträts durch die Gegend laufen, zählen zu den eifrigsten Teilnehmern an Kampagnen und Kundgebungen für freie und faire Wahlen und gegen Wahlbetrug. Nach den Protesten von 2011–2012 wurden 2012 die Direktwahlen der Gebietsgouverneure wieder eingeführt und hartnäckigen Gerüchten zum Trotz auch nicht mehr formal gestrichen. Das Putinsche System scheint die Reste der demokratischen Institutionen nicht völlig demontieren zu können – denn Putin ist sich im Klaren darüber, dass die Zivilgesellschaft das nicht gutheißen würde. Die Menschen wollen mitreden, und sie sind weder „Sklaven“ noch „Leibeigene“, wie es manche Hardliner im Westen gerne darstellen.
Von demokratischen Grundinstinkten bis zum Aufbau einer funktionierenden Demokratie ist es natürlich noch ein langer Weg – besonders, wenn man Russlands begrenzte Erfahrung mit demokratischen Regierungen, seine räuberischen Eliten und das schwere Erbe mehrerer aufeinanderfolgender Unterdrückerregime bedenkt. Aber das Material, auf dem man aufbauen kann – ein elementares Bedürfnis nach Demokratie und eine klare Absage an die Usurpation der Macht – ist vorhanden. Insgesamt befürwortet die überwiegende Mehrheit der zukunftsorientierten Russen – also alle, die ein Geschäft eröffnen, Karriere machen, bessere Bildung erhalten oder den Lebensstandard ihrer Familie und Kinder steigern wollen – eine demokratische Regierungsform. Diejenigen, die der Zentralregierung gegenüber gleichgültig oder sogar zufrieden mit ihr sind, sind politisch eher passiv. Sie treiben mit dem Strom der Herrschenden und neigen nicht zu unabhängigem Verhalten. Hier kann die Position einer aktiven Minderheit erfolgsentscheidend sein – wie schon oft in anderen Ländern zu sehen war.
Wie die jüngere Vergangenheit gezeigt hat, können ein dysfunktionaler Staat und wirtschaftliche Probleme eine Chance für politischen Wandel eröffnen. So war es in den 1980er Jahren in Russland, und auch die 1990er sind ein Beispiel dafür, wie ein schwacher Staat die Forderung nach umfassender Umstrukturierung des politischen Systems herbeiführen kann – auch wenn Putin die allgemeine Unzufriedenheit mit den 1990er Jahren ausgenutzt hat, um seine autoritäre Herrschaft zu stärken, ein Übergriff, den die russische Öffentlichkeit so nie gewollt hat. Doch zum zweiten Mal in den vergangenen 40 Jahren hat ein innenpolitischer Aufruhr in Russland den grundlegenden Wandel des politischen Systems bewirkt.
So unwahrscheinlich es aktuell auch scheinen mag: Jede Machtverschiebung in den oberen Machtzirkeln würde augenblicklich ein neues demokratisches Experiment in der Gesellschaft ermöglichen. Natürlich gibt es keine Garantie auf Erfolg; und wie oben dargelegt, wird die herrschende Elite demokratischen Wandel so lange es geht zu verhindern suchen. Dennoch können verschiedene Faktoren das nächste Demokratieexperiment zum Erfolg führen:
- Insbesondere aus dem aktiven, zukunftsorientierten Teil der Gesellschaft werden starke Forderungen nach Demokratie (und Versöhnung mit dem Westen) laut.
- Die Eindämmung gesellschaftlicher Demokratiebestrebungen durch Isolation und Repression erfordert beträchtliche Ressourcen.
- Die umfassenden Erfahrungen aus dem Demokratieexperiment der 1990er lassen sich einsetzen, um Missstände zu beheben und keine weiteren fatalen Fehler zu begehen.
Wie gesagt, es gibt keine Garantie auf Erfolg, aber es gibt eine klare Grundlage für einen neuen Demokratieversuch in Russland. Bleibt das Land hingegen isoliert und der Chance beraubt, sich in die demokratische Welt zu reintegrieren, ist damit zu rechnen, dass sich Russland neu aufstellt, seine Truppen aufstockt und zu einem weiteren Schlag gegen die freie Welt ausholt.
Der demokratische Wandel in Russland wird, wie oben beschrieben, höchstwahrscheinlich in zwei Phasen erfolgen, wie in Rumänien nach Ceaușescu oder Südkorea nach Chun Doo-hwan: Erst versucht die Post-Putin-Elite, die Kontrolle zu behalten, aber mit der Zeit bildet sich eine größere Demokratiebewegung, die von der neuen Regierung nicht mehr zurückgehalten werden kann.
Warum Zerfalls-Szenarien haltlos sind
Es gibt viel Spekulation über einen möglichen Zerfall Russlands in eine Reihe unabhängiger kleinerer Staaten, so ähnlich, wie es mit der Sowjetunion geschah. Derlei Thesen sind jedoch aus verschiedenen Gründen meist haltlos.
Erstens unterscheidet sich die Situation am Ende der Sowjetunion grundlegend vom heutigen Russland. Die nationalen Sowjetrepubliken, deren Forderungen nach Unabhängigkeit zum Katalysator für den Zerfall wurden, waren von nichtrussischen Ethnien dominiert. Einige von ihnen waren in der Vergangenheit bereits unabhängige Staaten gewesen (die baltischen Staaten und Georgien) und wollten schlicht ihre Souveränität wiederherstellen. Ganz anders in Russland, wo seit dem Fall des Khanats von Kasan 1552 keine Region eigenständig war und die Gründung eines Staats eine große Herausforderung bedeuten würde.
Die meisten ethnischen Republiken in Russland werden nur dem Namen nach von der Titularethnie dominiert. In Burjatien beispielsweise sind weniger als 30 Prozent der Bevölkerung ethnische Burjaten – die größte Bevölkerungsgruppe stellen Russen. In Jakutien leben weniger als 50 Prozent Jakuten, während Russen 40 Prozent ausmachen. In Baschkortostan haben ethnische Baschkiren erst kürzlich die Tataren leicht überholt und sind von der drittgrößten zur zweitgrößten ethnischen Gruppe aufgestiegen, mit etwas weniger als 30 Prozent der Bevölkerung (auch hier bleiben Russen mit 36 Prozent die größte ethnische Gruppe). In der baschkirischen Hauptstadt Ufa sind etwa die Hälfte der Menschen ethnische Russen, Baschkiren machen nur 17 Prozent aus.
Die Situation ist also eine ganz andere als zur Zeit der Unabhängigkeitsbestrebungen der Sowjetrepubliken in den späten 1980ern.
Bei der Diskussion über die Entstehung unabhängiger Staaten aus russischen Regionen wird oft Tatarstan als potentieller Kandidat genannt. In der Tat hat diese Region in den frühen 1990ern mit der Idee gespielt, einen eigenen Staat zu gründen. Doch wenn man heute nach Tatarstan reist, sieht man, dass die Republik es geschafft hat, sich unter russischer Herrschaft ein erhebliches Maß an Autonomie und Selbstbestimmung zu sichern – von einer eigenständigen Wirtschaftspolitik bis hin zu weitgehend autonomen Außenbeziehungen. Der Lebensstandard in Tatarstan ist wesentlich höher als in den von ethnischen Russen dominierten Nachbarregionen. Es gibt für Tatarstan einfach keinen Grund, um verzweifelt die Unabhängigkeit anzustreben – die Republik hat es auch so geschafft, mit Russland Beziehungen auf Vertragsbasis einzurichten, die ihr ein erhebliches Maß an Autonomie gewähren. Sollte sich Tatarstan jedoch von Russland lossagen wollen, bekäme es augenblicklich Probleme, seine Unabhängigkeit zu wahren, schließlich ist es ein Binnenstaat, der von dem um ein Vielfaches größeren Russland umgeben ist und in Transit- und Logistikfragen völlig von diesem abhängt.
Dieses Schlüsselargument wird bei Spekulationen über einen möglichen Zerfall Russlands häufig übersehen. Die meisten russischen Regionen liegen im Binnenland und haben keinen Zugang zum Meer (beziehungsweise zu erschlossenen internationalen Schiffsrouten – der Arktische Ozean ist zwar technisch betrachtet ein Meer, aber nur mit großen Schwierigkeiten zu befahren, es gibt kaum wichtige Häfen oder Transportrouten). Das stellt ein enormes Hindernis für die Aufrechterhaltung einer eigenständigen Wirtschaft dar. Wenn Russland teilweise bestehen bleibt, wird es den neuen unabhängigen Staaten Logistik und Transit sehr schwer machen.
Bräche Russland ohne den Abschluss von Freihandels- oder Transitverträgen ganz auseinander, könnte sich die Lage zu einem völlig chaotischen Protektionismus auswachsen. Noch dazu sind die Grenzen zwischen russischen Regionen künstlich gezogen und (anders als die Grenzen der früheren Sowjetrepubliken) nicht international anerkannt, was weiteres politisches Chaos sowie Streit darüber erzeugen kann, welches Dorf nun wem gehört. An zahllosen Orten führen lebenswichtige Transport- oder Infrastrukturkorridore zwischen den Städten/Dörfern einer Region durch eine andere Region; ganz zu schweigen von der Energieinfrastruktur, denn manche Kraftwerke versorgen mehrere Regionen, die keinen eigenen Strom erzeugen.
Genau genommen gibt es sowohl im Westen als auch in Russland überraschend wenig eingehende Untersuchungen dazu, wie wahrscheinlich es ist, dass sich Russland in unabhängige Staaten aufteilt. Die meisten gehen über leere Spekulation und seichte Vergleiche mit dem Zerfall der Sowjetunion nicht hinaus. Übrigens begründet sich die haltlose Kreml-Mythologie von Putins „einzigartiger Rolle in der russischen Geschichte“ auf genau solchen seichten Spekulationen darüber, wie „Russland in den späten 1990ern vor dem Zusammenbruch bewahrt wurde“.
Eine der wenigen sachlichen Ausnahmen ist der Aufsatz „The prospect of Russian disintegration is low“, den der US-amerikanische Experte Thomas Graham 1999 in „European Security“ veröffentlicht hat. Der Titel spricht für sich: Wie Graham unter anderem richtigerweise anführt, stellt die Binnenlage der meisten russischen Regionen und ihr fehlender Zugang zum Meer das größte Hindernis für eine dauerhafte Unabhängigkeit dar. Er kommt zu dem Schluss, dass auch in Zukunft für die meisten russischen Regionen kaum eine Separationsgefahr besteht, möglicherweise mit Ausnahme des Nordkaukasus und des Gebiets Kaliningrad (das frühere Königsberg).
Doch selbst, wenn das passieren sollte, umfassen der Nordkaukasus und Kaliningrad nur etwa ein Prozent des russischen Territoriums, ihre Abspaltung würde also schwerlich den „Zusammenbruch und Zerfall“ des Landes bedeuten.
Apropos Nordkaukausus: Wer mit dem bloßen Verweis auf die Tschetschenien-Erfahrung der 1990er Jahre allgemeine Schlüsse über die mögliche Abspaltung nordkaukasischer Republiken von Russland zieht, übertreibt. Die übrigen nordkaukasischen Republiken haben stets eine andere Einstellung gegenüber Russland gezeigt als Tschetschenien. Das ist ein eigenes Thema, aber generell lässt sich sagen, dass die Einwohner dieser Republiken schon immer die treuesten Befürworter der Zentralmacht waren, weil sie nicht glauben, die eigene Unabhängigkeit ohne wirtschaftliche Unterstützung aus Moskau aufrechterhalten zu können. Sowohl im Referendum über den Fortbestand der Sowjetunion im März 1991 als auch in mehreren späteren Wahlen haben die nordkaukasischen Republiken vorwiegend ihre Solidarität mit der Zentralregierung in Moskau demonstriert (Tschetschenien hat als einzige Republik der Region nicht a dem Referendum von 1991 teilgenommen).
Viele nordkaukasische Republiken haben ihre eigenen Gründe, um lieber ein Teil von Russland zu bleiben: Inguschetien hat Angst, von Tschetschenien geschluckt zu werden; Nordossetien ist eigentlich eine vorwiegend christliche, keine muslimische Republik; in Dagestan, Karatschai-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien gibt es aufgrund der komplexen ethnischen Zusammensetzung Spannungen, die sich zu gravierenden Konflikten und Kriegen auswachsen könnten, wenn das multiethnische Gleichgewicht nicht mehr von Russland zusammengekittet wird.
Versuche, die tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen der 1990er Jahre auf den gesamten russischen Nordkaukasus zu übertragen, sind überzogen und ignorieren den realen Kontext. Trotz aller kulturellen Unterschiede zum restlichen Russland gibt es in diesen Republiken keine ernstzunehmenden Separatistenbewegungen. Selbst in Tschetschenien war die Sache nicht so einfach: Dort gab es zunächst beträchtlichen Widerstand gegen die Unabhängigkeit, bis Separatistenführer Dschochar Dudajew seine Gegner im Juni 1993 gewaltsam niederschlagen ließ. Viele Tschetschenen sind klar gegen erneute Versuche, die Republik in eine Scharia-Diktatur umzuwandeln (aber das ist ein Thema für sich).
Ein weiterer wichtiger Faktor ist, wie der Autor in Interviews mit den Bewohnern verschiedener russischer Regionen selbst feststellen konnte, dass viele Menschen in Sibirien und im Fernen Osten Russlands der Aussicht, unabhängige Staaten zu werden, mit großer Sorge entgegenblicken. Sie glauben, dass ihre politische und wirtschaftliche Macht nicht ausreicht, um der Dominanz Chinas etwas entgegenzusetzen, und dass sie über kurz oder lang zu Pekings Vasallen würden. Damit diese Schreckensvision nicht wahr wird, ist ein Verbleib bei Russland für sie die einzige Option. Vor diesem Hintergrund erscheint jede Spekulation über eine Lossagung der östlichen Regionen von Russland völlig unplausibel.
Unter den Angehörigen der nichtrussischen Ethnien gibt es derzeit Tendenzen, sich öffentlich gegen den Krieg in der Ukraine zu äußern und für mehr Selbstbestimmung und Autonomie einzutreten. Diese Tendenzen sind im Hinblick auf das künftige Ziel wirklicher Föderalisierung positiv. Doch keine der einflussreichen ethnischen Gruppen und NGOs reden ernsthaft von mehr als Föderalisierung, mehr Autonomie und mehr Selbstbestimmung, mit Ausnahme Einzelner, die aber nicht repräsentativ sind.
Weder Zerfall, noch Radikalisierung, noch Demokratisierung sind wahrscheinlich
Fazit: Extreme Szenarien wie eine Radikalisierung des Post-Putin-Regimes, die dauerhafte Einrichtung eines neuen Hardline-Regimes durch Putins Nachfolger oder der Zerfall Russlands sind höchst unwahrscheinlich, denn es gibt einfach nicht genügend politische Ressourcen und Rückhalt in der Bevölkerung, um sie tragfähig zu gestalten.
Eine rasche, erfolgreiche Demokratisierung des Landes ist jedoch ebenso unrealistisch. Die neuen Eliten werden die Macht genau wie Putin im zentralasiatischen Stil fest in der Hand halten wollen, während die russische Zivilgesellschaft zu schwach und eingeschüchtert ist, um zu protestieren (oder überhaupt zu wissen, was sie eigentlich selbst will). Aber die Eliten werden es schwer haben und nicht über ausreichend Ressourcen verfügen, um Putins aktuellen Kurs aufrechtzuerhalten, was schließlich zu ihrer eigenen Zermürbung führt. Sobald sie politische Kehrtwenden machen, sind mit Sicherheit Unmut in der Bevölkerung und Forderungen nach tiefgreifenderem politischem Wandel zu erwarten.
Die Situation ist vor allem mit der in Rumänien nach dem Ende der Ceaușescu-Diktatur und in Südkorea nach dem Chun-Regime vergleichbar. Der Iran und Nordkorea, die in diesem Zusammenhang oft genannt werden, eignen sich aus zwei Gründen weniger für einen Vergleich:
- Das iranische und das nordkoreanische Regime sind in einem Ausmaß repressiv, wie es Russland seit der Stalin-Zeit nicht mehr erlebt hat. Tatsächlich wurde Nordkorea 1945 von Stalins Generälen gegründet und ist der einzige Dinosaurier aus dem stalinistischen Jurassic Park, der bis in die moderne Welt überlebt hat. Russland ist damit nicht zu vergleichen. Das iranische Regime kämpft gegen ständige Massenproteste, die von Jahr zu Jahr schwerer in Schach zu halten sind. Je mehr die Macht des iranischen Hauptunterstützers Russland schwindet, umso schwerer wird es, das Regime aufrechtzuerhalten – die iranische Geschichte ist also noch nicht zu Ende.
- Iran und Nordkorea waren schon immer relativ arme Länder und nie von einem derart massiven wirtschaftlichen Rückgang betroffen, wie ihn Russland jetzt durch die Sanktionen und den Rückzug westlicher Unternehmen erlebt. Ein treffenderes internationales Beispiel für einen despotisch geführten Staat, der unter dem Druck von Sanktionen zusammengebrochen ist, wäre das Apartheid-Regime von Südafrika. Dort wirkten sich die Sanktionen zwar wirtschaftlich nicht so stark aus wie die aktuellen Maßnahmen gegen Russland, doch die internationale Isolation hatte einen starken negativen psychologischen Einfluss auf die weiße Bevölkerungsminderheit und trug zu einer Beschleunigung des Wandels bei (vgl. „Sanctions on South Africa: What Did They Do?“ von Philip I. Levy, Yale University 1999).
Das wohl wahrscheinlichste Szenario für Russlands Entwicklung ist ein neuer Anlauf zu demokratischem Wandel nach einigen Jahren in einem autoritären post-Putinschen Übergangszustand. Der demokratische Westen muss aus seinen früheren Fehlern lernen und Russlands nächste Schritte hin zu einer Demokratie unterstützen, statt das Land zu brüskieren. Ignoranz und Isolation stärken lediglich extremistische Kräfte mit Großmachtgedanken und entmutigen alle, die sich für einen demokratischen Übergang einsetzen – was wiederum dazu führt, dass Russland eine finstere imperialistische Macht bleibt. Das kann sich die freie Welt schlichtweg nicht leisten.
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
Deutsche Übersetzung von Hanne Wiesner