Warum ein Erfolg der Ukraine so wichtig ist
Die Ukraine kämpft nicht nur um ihr Überleben sondern dafür, Teil der Freien Welt zu sein. Europa und die USA müssen die Ukraine im Kampf um die europäische Sicherheit und internationale Ordnung unterstützen, um die Pläne Wladimir Putins zu vereiteln, schreibt Dan Fried.
Kriege können den Gang der Geschichte beschleunigen. Beim NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 erklärte die Allianz auf Drängen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj die Absicht, die Ukraine in die NATO aufzunehmen. Öffentlichkeitswirksame Streitereien innerhalb der Allianz, ob die Entscheidung weit genug gehe und ob sie mit zu vielen Vorbehalten behaftet sei, lenkten von der eigentlichen Tragweite der Entscheidung ab. Tatsächlich zeigt die Bekräftigung einer künftigen NATO-Mitgliedschaft der Ukraine (diesmal glaubhafter als die unverbindliche Zusage auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008) in Verbindung mit dem Beschluss der Europäischen Union, die EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine voranzutreiben, dass die USA und Europa die Ukraine mittlerweile als „Familienmitglied“ betrachten: als Teil eines ungeteilten Europas und einer ungeteilten westlichen Allianz, nicht als Teil eines russischen Imperiums oder der Einflusssphäre Moskaus.
Wann und wie der Beitritt zu NATO und EU erfolgen soll, ist noch unklar, und die Herausforderungen sind beträchtlich. Putin will mit seinem Angriffskrieg zeigen, dass Russland die Ukraine lieber verwüstet, als die Vorherrschaft dort zu verlieren. Der NATO-Beitritt der Ukraine ist weit fortgeschritten, aber noch keine beschlossene Sache, und ein Beitritt inmitten eines laufenden Krieges wäre riskant. Doch der Krieg ist nicht die einzige Herausforderung: Auch wenn die Ukraine gewinnt, stehen ihr demokratische wie systemische Reformen bevor, die das Land ebenso transformieren müssten wie seine westlichen Nachbarn nach 1989. Ein EU-Beitritt der Ukraine wird selbst nach dem Krieg eine schwere Belastungsprobe sein: Abgesehen von tiefgreifenden Reformen in der Ukraine selbst erfordert er tiefgreifende und schwierige Reformen der EU-Mechanismen und ‑Budgets.[i]
Immerhin waren die Ukraine und ihre transatlantischen Freunde in Bezug auf ihre jeweiligen strategischen Ziele noch nie offener zueinander als heute, und zum Glück verlaufen ihre Ziele endlich parallel.
Der lange Weg zum gemeinsamen Ziel
Es hat lange gedauert, bis sich die Ukraine und der Westen über ihre Beziehungen im Klaren waren.
Während der rund ersten zehn Jahre ihrer Unabhängigkeit von Moskau 1991, als Russland noch verhältnismäßig schwach und seine Führung wohlwollender war, stagnierte die Ukraine innenpolitisch, führte kaum Reformen, geschweige denn eine interne Transformation, durch und hatte nur eine eingeschränkte Vision von ihrem Platz in Europa. Die proeuropäischen Bestrebungen wuchsen schrittweise und parallel zum Unmut der Bevölkerung über den stagnierenden Lebensstandard und die autokratische Herrschaft. Die Anhänger der Orangenen Revolution 2004-05 und insbesondere die der Revolution der Würde 2013–14 traten für innenpolitische Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit sowie für eine Integration in die EU ein. Die Revolution der Würde begann als Protest gegen den damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch, der sich unter dem Druck des Kremls plötzlich geweigert hatte, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union[i] zu unterzeichnen; die Demonstrierenden auf dem Maidan in Kyjiw trugen EU-Fahnen. Diese Volksbewegungen zeigen, dass sich die nationale ukrainische Identität des 21. Jahrhunderts, wie Zbigniew Brzezinski[ii] schreibt, in prodemokratischer und proeuropäischer Form herauszukristallisieren begann. Janukowitsch beantwortete die Proteste mit Gewalt, verlor den Rückhalt der ukrainischen Gesellschaft und selbst den vieler ukrainischer Oligarchen und musste fliehen. An seine Stelle traten proeuropäische Politiker, die sich für Reformen einsetzten.
Putin reagierte mit der Besetzung der Krim und anschließend des Donbas. Die ukrainische Gesellschaft, die bis dahin einer NATO-Mitgliedschaft zwiegespalten gegenüberstand und Russland gegenüber tendenziell wohlwollend eingestellt war, unterstützte daraufhin leidenschaftlich den NATO-Beitritt und sah in Russland einen Feind. Dieser Stimmungswechsel war eine Folge von Russlands schmutzigem Krieg, er war weder unvermeidlich noch (wie die Kreml-Propaganda gern verkündet) das Werk westlicher Intrigen.
Die Sicht Europas und der USA auf die Ukraine entwickelte sich ebenfalls nur langsam. Weder die Regierung der Vereinigten Staaten noch die der meisten europäischen Staaten hatten die ukrainische Unabhängigkeit 1991 vorausgesehen; die meisten Außenpolitikexperten sahen die Ukraine durch das Prisma ihrer Beziehungen zu Russland.[iii] Als die USA und ihre europäischen Verbündeten in den 1990er und frühen 2000er Jahren mit dem Aufbau eines ungeteilten Europas begannen, indem sie die NATO und EU für die vor kurzem unabhängig gewordenen Staaten in Mittel- und Osteuropa öffneten, hatte dabei wohl kaum jemand die Ukraine im Sinn. Die mentale Landkarte der meisten US-amerikanischen und europäischen Strategen umfasste zwar – wenn auch zögerlich – Mitteleuropa und die baltischen Staaten als Teil Europas, doch bis zur Ukraine reichte das Umdenken nicht.
Dieser westliche Blick änderte sich mit dem gewandelten Selbstverständnis der Ukraine, die sich als europäisches Land betrachtet und dementsprechend handelt, indem sie den Beitritt zu europäischen und transatlantischen Institutionen anstrebt. Sowohl Präsident Selenskyj und sein Team als auch viele ukrainische Oppositionelle und Vertreter der unabhängigen Zivilgesellschaft haben das überzeugende Argument auf ihrer Seite, dass die Ukraine für ebenjene Werte kämpft, die den Grundstein für das transatlantische Bündnis, die Europäische Union und die Freie Welt bilden. Sie fordern für die Ukraine dieselben Chancen wie für andere mittel- und osteuropäische Nationen, dieser Gemeinschaft beizutreten. Inzwischen teilen US-amerikanische und europäische Spitzenpolitiker diese Ansicht.
Was will der Kreml?
Putin hatte seine „militärische Spezialoperation” als raschen chirurgischen Eingriff geplant, mit dem er die ukrainische Führung entfernen und Moskaus Herrschaft in der Region wiederherstellen wollte. Dieser Versuch scheiterte krachend am ukrainischen Widerstand, an Russlands anfänglicher militärischer Selbstüberschätzung und Inkompetenz (insbesondere bei der Offensive gegen Kyjiw) und an den schnellen Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfen für die Ukraine in Verbindung mit wirtschaftlichem Druck durch verstärkte Sanktionen gegenüber Russland seitens den USA und Europa.
Trotz der Niederlagen auf dem Schlachtfeld hält Russland an seinen militärischen Maximalzielen in der Ukraine fest. Schwer zu sagen, ob sich der Kreml unter seiner Flut an Drohungen, Lügen, Schimpfkanonaden und Beschwerden mit Gedanken an kleinere Kriegsziele trägt. Vor einigen Wochen klagte ein ehemaliger (und anonymer) US-amerikanischer Beamter, der gerne eine diplomatische Lösung für den Russisch-Ukrainischen Krieg ausloten wollte, darüber, dass die russischen Spitzenbeamten, mit denen er in Kontakt stand, ihm nicht sagen konnten, was sie eigentlich wollten.[iv] Klar scheint jedoch, was der Kreml nicht will: eine Ukraine mit einer europäischen und transatlantischen Zukunft. Putins Ziel liegt offenbar weniger in der Eroberung der Ukraine als vielmehr in der Verbreitung von Zerstörung und Terror, er will die ukrainische Wirtschaft zugrunde richten und den Widerstandswillen der Bevölkerung brechen, er will die westliche Unterstützung für die Ukraine aussitzen und das Land so zu einem Vasallenstaat degradieren.
Wie könnte der Krieg enden?
Die Ukraine kann den Krieg gewinnen, indem sie die russischen Truppen vollständig aus dem Land drängt – ein unwahrscheinlicher, aber nicht ganz unrealistischer Ausgang. Russlands militärische Position ist möglicherweise instabil und könnte sich ganz auflösen, wenn die ukrainischen Truppen die südlichen Frontlinien durchbrechen. Außerdem könnte ein Sieg erreicht werden, wenn es der Ukraine gelingt, die russische Landbrücke zur Krim zu unterbrechen (ein mögliches Best Case-Szenario infolge der laufenden ukrainischen Offensive) oder, was noch wahrscheinlicher ist, wenn die ukrainischen Truppen weit genug in den Süden vordringen, dass die Krim in die Reichweite ukrainischer Langstreckenartillerie und ‑raketen gelangt.
Die dauerhafte Eroberung der Krim ist offenbar eins von Putins Hauptzielen und ein lang gehegter Wunsch; bereits im April 2008 beanspruchte er in seiner Rede beim NATO-Russland-Gipfel in Bukarest die Krim für Russland.[v] Die Halbinsel hat für russische Nationalisten eine besondere Bedeutung: Schon früh vom Russischen Kaiserreich erobert, war sie ein Zeichen für die russische Vorherrschaft über die Osmanen, zu deren Gebiet sie bis dahin gehörte. Die Besetzung der Krim verleiht Russland erhebliche militärische Macht über die Ukraine – von hier aus hat es leichter Zugang zum ukrainischen Landesinneren und zu den Häfen und kann das Schwarze Meer besser kontrollieren. Wenn es der Ukraine gelänge, die russische Kontrolle über die Krim zu schwächen, indem sie Russland zum Rückzug zwingt oder zumindest eine weitere Besetzung untragbar macht, würde Kyjiw im Krieg die Oberhand gewinnen.
Putin könnte mit Eskalation auf den (potentiellen) Verlust der Krim reagieren, unter anderem mit der Drohung, Atomwaffen einzusetzen. Seine Möglichkeiten zu konventioneller Eskalation scheinen jedoch begrenzt: Gäbe es sie, hätte er sie vermutlich schon genutzt. Nukleare Drohungen sind leichter ausgesprochen als erfolgreich umgesetzt. Der Kreml hat schon in der Vergangenheit den Gebrauch von Atomwaffen angedroht, manche russischen Politiker wie Ex-Präsident Dmitri Medwedew oder kremltreue Kommentatoren wie Dmitri Trenin und Sergej Karaganow drohen bis heute regelmäßig damit. Doch auch wenn der Einsatz von russischen Atomwaffen gegen die Ukraine nicht ausgeschlossen werden kann, ist er aufgrund der vorhersehbaren Folgen unwahrscheinlich: Entfremdung von Russlands stärkstem Quasi-Verbündeten China sowie von großen Teilen des Globalen Südens, noch tiefere Entfremdung von Europa und möglicherweise ein starker Gegenschlag aus den USA. Der Kreml hatte schon im vergangenen Herbst nukleare Drohungen geäußert, diese aber aufgrund von offenbar ernst gemeinten, glaubwürdigen Warnungen seitens der Biden-Regierung,[vi] die sowohl öffentlich als auch (nach Aussage mehrerer Regierungsbeamter) privat erfolgten, wieder zurückgezogen.
Es ist auch denkbar, dass die Ukraine den Krieg nicht gewinnt. Die laufende ukrainische Offensive könnte ins Stocken geraten und zu einem militärischen Patt führen. Fortgesetzte russische Raketen- und andere Luftangriffe auf Infrastruktur und Zivilbevölkerung könnten die ukrainische Wirtschaft zugrunde richten. Die Kriegsmüdigkeit in der Ukraine, in Europa und den USA könnte zunehmen. Der Druck auf die Ukraine könnte steigen, Verhandlungen auf Basis der, wie es der Kreml nennt, „bestehenden territorialen Realitäten“, also der russischen Eroberungen, zu führen. Möglicherweise rechnet Putin mit diesen Entwicklungen und damit, dass im US-Wahlkampf Trumps Neo-Isolationismus gestärkt wird, sodass die USA die Ukraine nicht weiter unterstützen und Russlands Vorherrschaft über die Ukraine stillschweigend (oder offen) anerkennen.
Was müssen Europa und die USA tun?
Als erstes müssen sie der Ukraine helfen, den Krieg zu gewinnen. Das bedeutet Waffenlieferungen, damit die laufende ukrainische Offensive erfolgreich ist. Es wurde viel darüber geschrieben, inwiefern das bodengestützte taktische Raketensystem ATACMS oder andere Systeme dabei helfen können. Die Dauerdiskussion innerhalb der US-Regierung über ATACMS und andere Systeme ist geradezu eine Metapher für das Engagement der USA (bzw. dessen Fehlen) in der Ukraine geworden. Zynische Stimmen behaupten, dass die USA die Ukraine nur mit gerade so viel Munition und Waffen belieferten, dass diese zwar weiterkämpfen, aber nicht gewinnen könne. Das ist nicht schlüssig. Die Biden-Regierung hat sich bisher nach Kräften bemüht, die Ukraine kontinuierlich mit ungeheuren Mengen von Waffensystemen und Munition zu beliefern. Für ihre Entscheidung, der Ukraine Streumunition zu liefern, hat sie sowohl international als auch aus den eigenen politischen Reihen Kritik geerntet, sich aber aufgrund des erwarteten militärischen Nutzens nicht davon abbringen lassen. Die Argumente, ein bestimmtes Waffensystem sei ein „Game Changer” oder Siegesgarant, sind nicht überzeugend.
Davon abgesehen sind die Entscheidungsprozesse der USA und einiger europäischer Verbündeter, auch Deutschlands, bei manchen Waffenlieferungen in der Tat umständlich und zeitaufwendig. Wiederholte Fälle, in denen die Lieferung bestimmter Waffensysteme zunächst abgelehnt wurde, daraufhin lange Debatten folgten und die Waffen am Ende doch geliefert wurden, haben skeptischen Narrativen Vorschub geleistet. Die Argumentation der Biden-Regierung, ein System wie ATACMS sei nicht kriegsentscheidend, mag zutreffen, wirkt aber defensiv und nicht zielführend. Selbst wenn ATACMS oder ein anderes Waffensystem nicht entscheidend ist, könnte es doch an Nebenschauplätzen helfen, und manchmal werden militärische Offensiven gerade dort entschieden. Wenn einige in der US-Regierung mit dem Fokus auf ATACMS unzufrieden sind, könnte man einerseits weiterhin so viele ATACMS-Raketen wie möglich liefern und andererseits Alternativen auf ihre Tauglichkeit prüfen und diese Waffensysteme dann ebenso unkompliziert und schnell liefern.
Eine russische Niederlage in der Ukraine brächte eigene Komplikationen mit sich, aber diese wären nichts im Vergleich zu den Problemen, die ein russischer Sieg bedeuten würde. Die russische Geschichte zeigt, dass die Niederlage in einem Angriffskrieg, in dem es nicht um die Verteidigung des russischen Kernlandes geht, zu innenpolitischen Unruhen und einem politischen Kurswechsel führen kann. Nach der Meuterei von Jewgenij Prigoschin im Juni und der zögerlichen Reaktion aus dem Kreml ist Russlands politische Stabilität in Frage gestellt. Auch wenn ein Regimewechsel in Moskau nicht das erklärte Ziel der USA oder Europa ist oder sein sollte, könnte eine russische Niederlage in der Ukraine zu einem politischen Wandel, womöglich sogar zur Absetzung Putins führen. Die Nachfolge-Regierung müsste nicht einmal reformorientiert oder liberal sein, um eine Stabilisierung der internationalen Stellung Russlands mithilfe der Beendigung des Krieges in der Ukraine anzustreben. Auch Stalins antiliberale Nachfolger haben dazu beigetragen, den Korea-Krieg zu beenden und die Spannungen in Europa zu verringern, weil das aus ihrer Sicht im Interesse der Sowjetunion lag.
Doch auch wenn es kurz- oder mittelfristig nicht zu einem Sieg der Ukraine kommt, wenn es also der Ukraine mithilfe ihrer jetzigen Offensive nicht gelingt, weitere große Gebiete zu befreien oder die russische Kontrolle über die Krim zu untergraben, gibt es für Europa und die USA Optionen, der Ukraine zu helfen und einen strategischen Erfolg zu erzielen, nämlich eine freie, sichere Ukraine mit Integrationsperspektive in EU und NATO.
Eine langfristige Erfolgsstrategie beinhaltet, unabhängig vom Ausgang des Kriegsgeschehens, langfristige militärische Unterstützung, wie sie die G7-Staaten beim NATO-Gipfel in Vilnius angeboten haben.[vii] Dieser Prozess sollte schnellstmöglich beginnen. Die USA haben bereits eine erste Gesprächsrunde mit der Ukraine geführt, andere befreundete Staaten sollten folgen. Polen hätte wegen seiner Bedeutung für die Verteidigung der Ukraine und seines erheblichen Beitrags von Anfang an in die G7-Gruppe einbezogen werden sollen; zumindest jetzt sollte es Teil des Prozesses werden.
Der Kreml könnte ein militärisches Patt möglicherweise dazu nutzen, eine dauerhafte Schwächung der ukrainischen Wirtschaft herbeizuführen und den Krieg zu gewinnen, indem es die Ukraine zugrunde richtet und länger durchhält als ihre Verbündeten. Offenbar zu diesem Zweck hat Russland seine Angriffe auf zivile Infrastruktur und die Zivilbevölkerung in der Ukraine verstärkt. Eine mögliche Gegenmaßnahme ist die Unterstützung der Ukraine bei ihrer Fähigkeit, russische Militärziele – auch innerhalb Russlands – anzugreifen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock weist zutreffend darauf hin, dass ukrainische Angriffe auf russische Militärziele in Russland rechtmäßig seien.[viii] Die US-Regierung nimmt gegenüber derartigen Operationen verständlicherweise eine zurückhaltende Position ein und will solche Angriffe weder ermutigen noch die Mittel zu ihrer Ausführung liefern. Doch auch wenn eine direkte Unterstützung der Ukraine bei Angriffen auf militärische Ziele in Russland zu weit geht, gibt es (eventuell über Drittstaaten) andere Wege, die Ukraine beim Ausbau ihrer Kapazitäten zu unterstützen, damit sie ihre eigene strategische Kampagne gegen russische Militärziele fortsetzen kann. Das Ziel wäre in diesem Fall, Russland der Möglichkeit zu berauben, der Ukraine zu geringen Kosten für sich selbst unbegrenzt militärische Schläge zu versetzen.
Ein zweiter Bereich für langfristiges Engagement sollte die wirtschaftliche Unterstützung der Ukraine umfassen, unter anderem mithilfe der mehr als 300 Milliarden US-Dollar russischer Devisenreserven, die von der G7 nach der Invasion am 24. Februar 2022 eingefroren wurden. Juristische Bedenken und Sorgen, dass auf diese Weise ein Präzedenzfall geschaffen wird, gibt es viele. Doch das Ausmaß des Krieges und die zahlreichen russischen Kriegsverbrechen sowie der verständliche Druck seitens der US-amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit, keine eigenen Steuergelder zu verwenden, wenn russische Mittel vorliegen, sprechen dafür. Auch rechtlich ist dies möglich.[ix] Eine Herausforderung könnte sein, für ein solches Vorgehen die Unterstützung oder zumindest das stillschweigende Einvernehmen wichtiger Stakeholder außerhalb Europas und der G7 zu erlangen, darunter Saudi-Arabien und andere arabische und afrikanische Länder, die von Russlands Blockade der ukrainischen Getreideexporte über das Schwarze Meer betroffen (und darüber verärgert) sind. Zu diesem Zweck könnten die USA und Europa auf das Format zurückgreifen, das im Juni und August 2023 bei den Treffen in Kopenhagen und Dschidda etabliert wurde und zu denen hochrangige Vertreter*innen aus Europa, den BRICS- sowie anderen Staaten aus dem Nahen Osten, Asien und Afrika eingeladen waren, nicht aber Russland. Mit diesem Format kann zusätzlicher Druck auf Russland ausgeübt werden, unter anderem durch die Weiterleitung seines Devisenvermögens an die Ukraine.
Wirtschaftlicher Druck auf Russland, einschließlich Sanktionen und Exportkontrollen, entfaltet nicht sofort seine Wirkung. Aber er kann funktionieren, wenn er über längere Zeit und mit der entsprechenden Sorgfalt ausgeübt wird. Es erfordert Anstrengung, den Wirkungsgrad solcher Maßnahmen, insbesondere von Exportkontrollen, zu erhöhen. Sanktionen, Exportkontrollen und der Preisdeckel auf russisches Öl müssen durchgesetzt werden; wer dagegen verstößt, seien es Mittelsleute oder westliche Unternehmen, muss verwarnt und bestraft werden; Gesetze müssen verschärft werden, um versteckte Finanzquellen und ‑kanäle des Kremls und anderer russischer Organisationen leichter aufzudecken. Die schlechte Nachricht ist, dass Sanktionen und Exportkontrollen niemals wasserdicht sein werden. Es wird immer einen Wettlauf zwischen Umgehungsversuchen und Vollstreckung geben. Die gute Nachricht ist, dass solche Maßnahmen auch gar nicht zu hundert Prozent funktionieren müssen, um einen strategischen Einfluss zu haben. Durch ihre kumulative Wirkung wird das russische kleptokratische System, genau wie einstmals das sklerotische Sowjetsystem, es immer schwerer haben, seinen Angriffskrieg zu finanzieren und den eigenen Lebensstandard aufrechtzuerhalten.
Diplomatische Optionen können Teil der Lösung sein. In Anlehnung an Barack Obama bin ich nicht gegen jede Diplomatie, ich bin nur gegen dumme Diplomatie.
Viele, die einen diplomatischen Ansatz gegenüber Moskau befürworten, wirken geradezu erpicht auf eine friedliche Lösung. Sie erwecken den Eindruck, dass die Ukraine aus einer Position der Schwäche heraus verhandeln sollte oder dass sich allein mit Diplomatie in jedem Fall eine vernünftige Einigung erzielen lässt. Diplomatie um ihrer selbst willen hat wenig Sinn – aber sie sollte auch nicht gleich als Falle oder Zeichen von Schwäche gewertet werden.
Gespräche mit Moskau sind möglicherweise unrealistisch und sollten nicht damit beginnen, dem Kreml allzu eilfertig entgegenzukommen oder Putins aktuelle Bedingungen, nämlich die Anerkennung der „territorialen Realitäten“ seitens der Ukraine, zu akzeptieren. Eine der besseren Entscheidungen der Trump-Regierung im Rahmen ihrer Ukraine-Politik war die Pompeo-Doktrin von 2018, die versicherte, dass die USA Russlands vermeintliche Annexion der Krim nicht anerkennen würde. Sie orientierte sich ganz bewusst an der Welles-Doktrin von 1940, welche die Anerkennung der sowjetischen Annexion der baltischen Staaten verweigerte.[xi] Genau das sollte ein entscheidender Punkt für die USA und Europa bleiben: keine Anerkennung von Annexionen.
Korea und Deutschland: Beispiele für Dauer-Pattsituationen
Ein anhaltendes militärisches Patt könnte zu einem Waffenstillstand führen, der den Konflikt zwar nicht beenden, aber stabilisieren würde. Der Waffenstillstand im Korea-Krieg 1953 brachte der koreanischen Halbinsel weder eine Lösung noch vollständigen Frieden, doch dafür eine relative Stabilität. So wurden die Bedingungen für die Transformation Südkoreas hin zu einer Demokratie und freien Marktwirtschaft geschaffen. Ein anderes Beispiel für einen unvollkommenen, aber funktionierenden Kompromiss war die vorübergehende Teilung Deutschlands, durch die der Kalte Krieg in Europa stabilisiert wurde. Keins dieser Beispiele ist eins zu eins auf die Ukraine anzuwenden, und keins davon ist wünschenswert oder sollte der Ukraine auferlegt werden. Doch das Land könnte sich aufgrund seiner Prognose des Kriegsausgangs selbst zu einer ähnlichen Herangehensweise entscheiden. Eine Option wäre die Waffenruhe entlang einer Kontaktlinie, möglicherweise unterstützt von internationalen Beobachtern. Solche Lösungen bergen allerdings die Gefahr, dass sie Russland lediglich die Gelegenheit geben, seine Truppen wieder aufzustocken und erneut in den Krieg zu ziehen. Das koreanische und das deutsche Beispiel konnten nur funktionieren, weil sie nicht nur auf dem Papier vereinbart, sondern von handfesten Maßnahmen begleitet wurden, um die Sicherheit von Südkorea und Westdeutschland zu garantieren.
Ganz gleich, ob die Ukraine den Krieg gewinnt oder es zu einer Pattsituation mit einer möglichen Waffenruhe kommt – um die Sicherheit der Ukraine und Europas zu gewährleisten, wird es mehr brauchen als verbale Zusicherungen (wie das unselige Budapester Memorandum von 1994) oder auch die aktuellen Zusicherungen der USA und G7, die militärische Kapazität der Ukraine zu unterstützen. Die Stabilität Westdeutschlands und Südkoreas beruhte weniger auf den Bedingungen des Waffenstillstands als auf der Präsenz amerikanischer und anderer Truppen. Westdeutschland trat der NATO 1955 als geteiltes Land bei. Die NATO sollte unabhängig vom Kriegsausgang den Beitritt der Ukraine vorantreiben, und der nächste Schritt sollte beim NATO-Gipfel 2024 in Washington erfolgen. Nach welchem Schema auch immer muss die NATO der Ukraine einen klaren und glaubwürdigen Weg zum NATO-Beitritt aufzeigen und sie eventuell auch schon zu Beitrittsverhandlungen einladen. Genau wie vor einer Generation im Fall von Polen und anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sollte auch der Ukraine die EU-Mitgliedschaft parallel zum NATO-Beitritt ermöglicht werden.
Der Weg dahin ist nicht einfach. Russland wird versuchen, eine erzwungene Neutralität der Ukraine zur Bedingung für einen Waffenstillstand zu machen, wie es 1955 mit dem Österreichischen Staatsvertrag oder in Finnland während des Kalten Krieges der Fall war. Der Westen sollte sich darauf nicht einlassen. Eine Waffenruhe unter diesen Bedingungen würde bloß eine Atempause für Russland bedeuten, in der es seine Truppen neu aufstellen und eine weitere Invasion vorbereiten kann. Die Ukraine in eine strategisch uneindeutige Grauzone zu versetzen, ist kein Weg zum Frieden, sondern die Einladung zu einem neuen Krieg. Grauzonen bedeuten für Putin grünes Licht.
Putin wird eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht ohne weiteres hinnehmen. Vielleicht wird er versuchen, den Krieg am Laufen zu halten, indem er seine bisherigen Eroberungen in der Südukraine (insbesondere die Landbrücke zur Krim) soweit wie möglich hält, die Ukraine weiter mit Raketen beschießt, die ukrainische Wirtschaft schwächt und die Hoffnungen der Ukraine auf einen NATO-Beitritt sabotiert. Die USA, Europa und die Ukraine müssen das verhindern, indem sie Russland verstärkt unter Druck setzen, sodass am Ende der Kreml (und nicht die Ukraine und ihre Verbündeten) der Bittsteller im Verhandlungsprozess ist.
Die ukrainische Einschätzung, wann und wie Diplomatie zum Zuge kommen soll, ist dabei zentral. Die Biden-Regierung hat gut daran getan, sich in Bezug auf die Ukraine an das alte polnische Sprichwort zu halten: „Nichts über uns ohne uns.“ Sämtliche Optionen – militärische Unterstützung, wirtschaftlicher und diplomatischer Druck auf Moskau sowie mögliche diplomatische Verhandlungen – müssen mit der Ukraine abgesprochen und festgelegt werden, vorzugsweise vertraulich. Das Urteilsvermögen und die Entschlossenheit der USA, Europas und der Ukraine werden in den kommenden Monaten einer Probe unterzogen.
Ein Sieg der Ukraine könnte einen Sieg für Biden bedeuten
Die politische Dynamik in den USA könnte diese Strategie jedoch erschweren. Zwar unterstützen die meisten Republikaner*innen im Kongress, auch wichtige Ausschussmitglieder, die Ukraine, doch der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat Donald Trump und einige andere republikanische Kandidat*innen tun dies nicht. Trump hat mit anderen die außenpolitische Tradition des „America First“ wiederbelebt. Ebenso wie vor Pearl Harbor bedeutet die aktuelle Version dieser Doktrin im Grunde Gleichgültigkeit gegenüber europäischen Sicherheitsinteressen sowie eine Duldung oder gar Unterstützung aggressiver Diktatoren – damals Hitler, heute Putin. Darüber hinaus argumentieren einige Anhänger*innen der so genannten „realistischen” Schule in der Außenpolitik, die Ukraine könne den Krieg unmöglich gewinnen und die USA solle Druck ausüben, damit die Ukraine im Wesentlichen auf Grundlage der russischen Bedingungen verhandelt. Diese Schule erinnert an die „Realisten” im Kalten Krieg, die das sowjetische Imperium in Europa als bedauerlichen, aber notwendigen Preis für den allgemeinen Frieden hinnahmen und den Einfluss demokratischer Dissident*innen in Mittel- und Osteuropa auf den historischen Verlauf ihrer Nationen leugneten. Beide Gedankenschulen akzeptieren Einflusssphären als Ordnungsprinzip internationaler Beziehungen und überlassen kleinere Staaten – und auch einige größere wie die Ukraine – der angeblich unvermeidlichen Aufsicht von Großmächten.
Präsident Biden und seine Regierung werden sich dem wachsenden Druck beider Schulen ausgesetzt sehen, je näher die amerikanischen Präsidentschaftswahlen im November 2024 rücken, vor allem wenn die Ukraine bis dahin keine wesentlichen militärischen Fortschritte erzielt hat. Manche im Weißen Haus würden die Diskussionen über eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine lieber aufschieben, solange der Russisch-Ukrainische Krieg andauert, aus Angst vor Kritik, dass sich die USA zu viel Verantwortung aufhalse, einen Krieg mit Russland riskiere und die eigenen Soldat*innen in Gefahr bringe. Andererseits könnte Unterstützung für die Ukraine jetzt die Chancen erhöhen, einen ukrainischen Erfolg auf dem Schlachtfeld herbeizuführen und Putins Russland zu besiegen. Das wäre wiederum ein strategischer Erfolg für die Vereinigten Staaten und damit ein politischer Erfolg für Präsident Biden.
Die Entschlossenheit und öffentliche Unterstützung der Ukraine hat in den USA länger und auf höheren Ebenen gehalten, als viele im Land (und vermutlich auch im Kreml) erwartet haben. Die Entschlusskraft der amerikanischen Regierung und Gesellschaft wird nun auf die Probe gestellt.
Auch die Entschlossenheit der Ukraine wird geprüft, sowohl auf dem Schlachtfeld als auch in Bezug auf ihre Fähigkeit, die systemische Transformation fortzusetzen. Für die Demokratie zu kämpfen heißt nicht, dass die Arbeit bereits getan ist (wie die Vereinigten Staaten aus bitterer jüngster Erfahrung wissen). Das Thema der Korruption in der Ukraine wurde in der US-amerikanischen innenpolitischen Debatte über Unterstützung für die Ukraine politisiert und instrumentalisiert. Die Herausforderungen sind jedoch echt. Selbst bekannte Unterstützer*innen der Ukraine äußern andauernde Bedenken über die Korruption dort. Dies tut auch Präsident Selenskyj, der vor kurzem sämtliche Regionalchefs der ukrainischen Rekrutierungsbüros entlassen hat.[xiii] Unter dem Druck des Krieges ist die politische Macht in der Ukraine im Präsidialamt Bankova zentralisiert worden. Die Demokratie in der Ukraine muss wieder gestärkt werden, Wahlen sind unumgänglich. Das haben die NATO und EU selbst in ihren entgegenkommendsten Erklärungen zum Beitritt der Ukraine klargestellt.
Es gibt noch zahlreiche Ungewissheiten und Schwierigkeiten. Doch die Chance auf Erfolg für die Ukraine und die Freie Welt durch Widerstand gegen die russische Aggression bleibt bestehen. Die Ukraine, Europa und die USA dürfen in den kommenden Wochen und Monaten nicht vergessen, was unser Ziel ist: ein geeintes Europa, das eine freie, demokratische Ukraine einschließt. Und das sollten wir alle ernst meinen.
Daniel (Dan) Fried ist pensionierter US-Diplomat und ein Distinguished Fellow beim Washingtoner Thinktank Atlantic Council. Er hatte in seiner langen Karriere einflussreiche Positionen inne, vor allem im Bezug auf die Russlandpolitik. Zwischen 2005 und 2009 war er Staatssekretär für Europa und Eurasien im US-Außenministerium. Zwischen 2013 und 2017 war er als Chef des US Office of Sanctions Coordination verantwortlich für die Sanktionspolitik der Obama-Regierung gegenüber Russland.
Deutsche Übersetzung von Hanne Wiesner
[i] Z. B. Artikel von Sam Fleming und Henry Foy vom 6. August 2023 in der Financial Times: The ‘monumental’ consequences of Ukraine joining the EU
[i] The EU-Ukraine association agreement: a potted history – POLITICO
[ii] The Orange Revolution: A Revolution of Hope | Center for US Ukrainian Relations
[iii] Eine kurzlebige und weitgehend vergessene Ausnahme war Edward House, nationaler Sicherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der von Ende 1918 bis Anfang 1919 für die baltische, finnische und ukrainische Unabhängigkeit eintrat, nachdem das Russische Reich nach der russischen Niederlage im Ersten Weltkrieg zerbrochen war und die Bolschewiken die Macht ergriffen hatten. Zur Interpretation von Wilsons 14-Punkte-Programm s. Interpretation of President Wilson’s Fourteen Points – Wikisource, the free online library
[iv] Artikel vom 27. Juli 2023 in der Moscow Times: Former U.S. Official Shares Details of Secret ‘Track 1.5’ Diplomacy With Moscow
[v] Putins Bukarest-Rede im April 2008: Text of Putin’s speech at NATO Summit (Bucharest, April 2, 2008) | UNIAN
[vi] Biden sends a careful but chilling new nuclear message to Putin in CNN interview | CNN Politics
[vii] Gemeinsame Erklärung der G7 über langfristige militärische Unterstützung für die Ukraine: G7: Joint declaration of support for Ukraine – Consilium (europa.eu)
[viii]Ukraine has legal right to attack Moscow, says Germany (msn.com)
[ix] Artikel von Lawrence Summers, Philip Zelikow und Robert Zoellick sowie von Franklin D. Kramer: Lawrence Summers, Philip Zelikow and Robert Zoellick on why Russian reserves should be used to help Ukraine (economist.com); Time for the West to seize Russian state assets | The Hill
[x] Ukraine’s diplomatic offensive made important advances in Saudi Arabia – Atlantic Council
[xi] https://www.theatlantic.com/international/archive/2018/07/welles-act-pompeo/566060/
[xii] Post von Bridget Brink auf X (Twitter) https://x.com/USAmbKyiv/status/1689581973545660416
[xiii] Artikel in der Washington Post zu Selenskyjs Aktion: Zelensky fires military recruitment center chiefs after corruption probe – The Washington Post
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung des Autors wider.
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