„Russland kann nicht anders Krieg führen“
Schon im sowjetisch-afghanischen Krieg beging die sowjetische Armee Kriegsverbrechen an der afghanischen Zivilbevölkerung. Das Versäumnis, die Gräueltaten aufzuarbeiten, ist eine der Ursachen für die Kontinuität menschenverachtender Kampfmethoden im russischen Militär, schreibt Mariia Vladymyrova.
Die Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine haben die Welt schockiert. Das Abschlachten von Zivilisten in Butscha, die Zerstörung von Mariupol, Angriffe auf Hilfstransporte haben deutlich gemacht, dass das russische Militär in großem Umfang Kriegsverbrechen begeht. Die gezielten Angriffe auf die Zivilbevölkerung gepaart mit Zwangsdeportationen und Hinrichtungen haben auch die Frage aufgeworfen, ob Russland einen Völkermord am ukrainischen Volk begeht.
So schockierend diese Tatsachen auch sein mögen, sie sind kaum überraschend, wenn man sich die vergangenen Einsätze der russischen und sowjetischen Streitkräfte ansieht. Das russische Militär führt seit Jahrzehnten Kriege auf brutale, menschenverachtende Art und Weise und – was entscheidend ist – wurde nie dafür bestraft. Angesichts dieser blutigen Vergangenheit ist es keine weit hergeholte Behauptung, dass Russland so Krieg führt, weil es keinen anderen Weg kennt.
In diesem Artikel verfolge ich das Vermächtnis der Gewalt im russischen Militär bis zum sowjetisch-afghanischen Krieg in den 1980er-Jahren zurück. Dieser zehnjährige Feldzug, die größte sowjetische Militäraktion seit dem Zweiten Weltkrieg, war für Generationen von Offizieren und Soldaten eine prägende Erfährung. Das Versäumnis, eine kritische Antwort auf die während der Invasion begangenen Kriegsverbrechen zu finden, war ausschlaggebend für die spätere Übernahme uneingeschränkter Kampfmethoden durch die russischen Streitkräfte.
Zusammenbruch statt Machtdemonstration
Die Sowjetunion marschierte 1979 in Afghanistan ein, um ein kommunistisches Regime zu errichten. Sie tat dies ohne eine differenzierte Einschätzung der politischen und sozialen Gegebenheiten des Landes. Infolgedessen fand sich Moskau bald in einer Situation wieder, in der amn weder wusste, wie man mit den ursprünglichen Zielen der Operation fortfahren sollte, noch wie man sich zurückziehen sollte. Aus der vermeintlichen Demonstration der sowjetischen Militärmacht wurde ein zehnjähriges Gemetzel, das zu einer der Ursachen für den Untergang der Sowjetunion wurde.
Die für den europäischen Kriegsschauplatz entwickelte sowjetische Doktrin eignete sich in keinster Weise für die Berg- und Wüstenregionen, in denen reguläre Einheiten mit schweren Waffen auf wendige, relativ kleine Gruppen von Aufständischen trafen. Daher musste die Sowjetarmee ihre Anti-Guerilla-Taktik von Grund auf neu entwickeln. Anders als in der Westukraine, wo die Sowjetunion bis in die 1950er-Jahre gegen die ukrainische Widerstandsarmee kämpfte, waren die Sowjets aufgrund fehlender Kontrolle über weite Gebiete Afghanistans nicht in der Lage, die Unterstützung der Aufständischen durch die Zivilbevölkerung zu verhindern.
Diese Unfähigkeit wurde mit brutaler Gewalt und Terror kompensiert – das zeigen die deutlich steigenden Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung. Zivile Siedlungen wurden oft als militärisch relevantes Ziel betrachtet, um Nachschubquellen der Mudschahedin auszuschalten. Schätzungen zufolge starben bis zu 2,3 Millionen Menschen. Bis zu sechs Millionen Menschen flohen aus dem Land. Auch die sowjetischen Militärangehörigen hatten, wenn auch in weitaus geringerem Umfang, erhebliche Verluste zu beklagen – die offizielle sowjetische Zahl liegt bei 14.000 – die tatsächliche Zahl dürfte jedoch weitaus höher liegen.
Zwischen Amnestie und Vergessen
Politisch war das ganze Unterfangen ein Desaster: Der langwierige Krieg war sowohl eine Folge als auch eine Ursache der Erschöpfung der sowjetischen Staatlichkeit. Dank der Politik der Offenheit (Glasnost) in den späten 1980er-Jahre kamen die wahren Verluste in Afghanistan, Unzulänglichkeiten der Militärführung sowie Korruption und Gleichgültigkeit der politischen Eliten ans Licht. 1988 beschloss Moskau einen vollständigen Rückzug. Angesichts der anhaltenden Empörung in der Bevölkerung räumte die sowjetische Führung im Dezember 1989 ein, dass die Invasion eine „moralische und politische Verurteilung“ verdiene.
Dieser Schritt wurde im Westen als Zeichen dafür gesehen, dass der Kreml aus seinen Fehlern lernt und „menschlicher“ wird. Doch er lenkte die Aufmerksamkeit von einem anderen, entscheidenden sowjetischen Beschluss ab; Einen Monat zuvor hatte der Oberste Sowjet eine zweifelhafte Generalamnestie für Militärangehörige erlassen, die während des Afghanistan-Einsatzes Verbrechen begangen hatten. Zahlreiche Anschuldigungen wegen Kriegsverbrechen und Misshandlungen innerhalb der Truppe blieben ungestraft.
Wie sich herausstellt, war es nicht die Selbstkritik vom Dezember 1989, sondern die vorangegangene Amnestie, die die russische Militärkultur in den folgenden Jahrzehnten bestimmte. Nach Auflösung der Sowjetunion zwei Jahre später hatten die Regierungen der Nachfolgestaaten in erster Linie ganz andere Aufgaben. Es entstanden öffentliche Organisationen von Veteranen, Kriegsjournalisten und Soldatenmüttern, die aber außer dem Verfassen zahlreicher persönlicher Berichte wenig ausrichten konnten. Anstatt die Schrecken des sowjetischen Krieges aufzuarbeiten, zog sich die russische Gesellschaft in allgemeines Vergessen zurück.
Brutales Erbe
Während der Afghanistan-Krieg in der Öffentlichkeit weitgehend in Vergessenheit geraten ist, hat er in den russischen Sicherheitsstrukturen seine Spuren hinterlassen. Eine beträchtliche Zahl der „Afgantsy“ genannten Veteranen dieses Krieges spielte später in Russland bedeutende politische und militärische Rollen und gaben ihre Kampferfahrungen an eine jüngere Generation russischer Militärs weiter.
Auch die systematische Misshandlung von Wehrpflichtigen und Soldaten wurde im Wesentlichen beibehalten. Stattdessen wurden die schwachen Kommandoverbindungen und die gestörte Disziplin in den russischen Streitkräften durch Zwang kompensiert. Diese Praxis hat wohl dazu beigetragen, dass es nicht gelungen ist, glaubwürdige demokratische Kontrollstrukturen in den russischen Streitkräften zu schaffen.
Die fehlende Aufarbeitung des Militäreinsatzes in Afghanistan hat alle nachfolgenden russischen Militäroperationen geprägt, angefangen vom ersten Tschetschenien-Krieg 1994/1995. Sowohl systemisch als auch individuell hat sich das brutale Erbe der Afghanistan-Invasion im heutigen russischen Militär niedergeschlagen. Es manifestiert sich in der Neigung zu wahlloser Waffengewalt, deren Geheimhaltung und in der Tatsache, dass Vorgesetzte zur Disziplinierung ihrer Truppen auf Missbrauch setzen.
In der Ukraine ermöglicht diese russische Kriegsführung die Umsetzung der völkermörderischen Absichten der Kremlführung. Um eine angemessene politische Antwort darauf zu formulieren, muss man akzeptieren, dass uneingeschränkte Waffengewalt keine Ausnahme sondern das Herzstück russischer Militärpraktiken ist.
Kontinuität als Schlüssel
Die Ähnlichkeit der russischen uneingeschränkten Kriegsführung in der Ukraine mit früheren Kampagnen, insbesondere in Syrien, wurde wiederholt festgestellt. Die derzeitige Konfrontation weist jedoch einen wesentlichen strategischen Unterschied auf. Der Konflikt in der Ukraine ist ein zwischenstaatlicher Krieg mit konventionellen Mitteln zwischen Russland und der Ukraine.
In dieser Hinsicht kann die Invasion nur mit dem Georgien-Krieg von 2008 verglichen werden, dessen Erfolg eher auf der überwältigenden militärischen Stärke Russlands als auf Strategie und Geschicklichkeit beruhte. Operativ steht das russische Militär jedoch vor ähnlichen Herausforderungen wie in Syrien oder Tschetschenien: Der Kampf um Bevölkerungszentren spielt eine Schlüsselrolle für die Versorgung, Sicherung und die Konsolidierung der umkämpften Frontlinien.
In einem Eroberungskrieg stellen Orts-und Häuserkampf eine große Herausforderung für fremde Truppen dar. Weil die Bevölkerung vor Ort den Besatzern gegenüber überwiegend negativ eingestellt ist, werden die russischen Streitkräfte zur Sicherung ihrer Gebietsgewinne zunehmend auf irreguläre Kriegsführung zurückgreifen.
Niederlage und Aufarbeitung
Das Beispiel Afghanistan zeigt, dass die russischen Streitkräfte eher zu wahlloser Gewalt neigen als ihre Einsatzplanung zu ändern. Politische Entscheidungsträger im Westen dürfen sich nicht der Illusion hingeben, dass der Krieg in der Ukraine durch allmähliche Erschöpfung der russischen Streitkräfte erreicht wird.
Lange Zeit wurden russische Kriege eher als eine auf die Region begrenzte Sicherheitsfrage betrachtet. In den Nachbarstaaten festigte die Kreml-Führung ihren Einfluss nach dem Prinzip „Aggressor – Nachfolger – Vermittler“. Das fehlende Eingeständnis dieser blutigen Einsätze, die westlichen Politikern lange Zeit plausibel erschien, führte dazu, dass der uneingeschränkte Kampf als politisch und militärisch vorteilhafte Taktik anerkannt wurde. In der Ukraine beweist Russland einmal mehr, dass es eine starke und dauerhafte Bedrohung für die internationale Rechtsordnung darstellt.
Deshalb müssen die Verbündeten der Ukraine dafür sorgen, dass Russland vollständig verliert. Dies könnte die einzige Möglichkeit sein, seine politischen und militärischen Eliten zur vollen Verantwortung für ihre Aggression und genozidale Kriegsführung zu bringen. Letztendlich wird eine Niederlage in der Ukraine die lange Geschichte der agressiven russischen Eroberungspolitik offenlegen. Dies wäre für das russische Volk eine historische Chance, sich diesem Vermächtnis zu stellen und es aufzuarbeiten.
Mariia Vladymyrova ist Junior Policy Advisor im Bundestags-Büro von Grünen-Chef Omid Nouripour. Ihr Fachgebiet umfasst Sicherheitsfragen in den Staaten der Östlichen Partnerschaft und Russland. Zuvor war sie Senior Legal Officer im Ministerium für die vorübergehend besetzten Gebiete und Binnenvertriebene in Kyjiw. Die Juristin absolviert derzeit einen MA-Studiengang in Kriegs- und Konfliktforschung an der Universität Potsdam und ist Stipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung.
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