„Wir leben bereits in einer Diktatur“
Die russische Historikerin, Germanistin und Übersetzerin Irina Scherbakowa ist seit 30 Jahren bei der Menschenrechtsorganisation Memorial aktiv und gilt als fundierte Kennerin Deutschlands und Russlands. Wir haben Sie anlässlich unserer diesjährigen Konferenz „Russland und der Westen“ zur Lage der Demokratie in ihrem Land befragt.
Frau Scherbakowa, Sie arbeiten seit 30 Jahren für „Memorial“. Wie bewerten Sie die augenblickliche Lage der Menschenrechte in Russland?
1991 war in jeder Hinsicht ein historischer Wendepunkt. In den 1990er Jahren hatte ich noch sehr starke Hoffnungen auf eine demokratische Entwicklung. Ich kann nicht sagen, dass ich sie aufgegeben habe, aber schon der Beginn des Tschetschenienkrieges 1994 war ein Signal, dass es schwieriger werden würde. Mit diesem Krieg begann (der Kreml) nach ideologischer Unterstützung zu suchen, nach einer nationalen Idee, etwa mit der Verklärung des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ am 9. Mai.
Der russische Reformer Jegor Gaidar sprach damals von einem „Weimarer Syndrom“. Das schien mir sehr bedrohlich, weil man das als möglichen Weg in die Diktatur interpretieren konnte.
Aber der Machtwechsel (von Boris Jelzin zu Wladimir Putin) am Vorabend der Jahrtausendwende schien von Anfang an sehr gefährlich zu sein. Putin erschien bedrohlich, weil er aus den Sicherheitsbehörden kam.
Viele Menschen in Russland haben damals Hoffnungen auf Putin gesetzt. Aber seit seinem Antritt im Jahr 2000 ging es fast ununterbrochen in Richtung Demokratieabbau – mal schneller, mal langsamer – etwa als Dmitri Medwedew an der Macht war. Der Georgien-Krieg 2008 war aber bereits ein sehr schlechtes Signal.
Seit der Verfassungsänderung von 2020 glaube ich, dass wir nicht mehr den Weg in die Diktatur gehen, sondern dass wir bereits in einer Diktatur leben.
Können Sie sich vorstellen, dass Putin einen Nachfolger präsentiert, so wie es Jelzin im Jahr 1999 gemacht hat?
Nein.
Warum nicht?
A: Wenn überhaupt, dann aus Altersgründen wie seinerzeit Fidel Castro. Aber so weit sind wir noch nicht. Wir haben es ja mit einer Diktatur zu tun, die nur an eine Person gebunden ist. Es gibt keine Figuren außer dieser einen! Natürlich gibt es hier ein paar wenige, die politisch denken. Aber diese Gruppe ist viel kleiner als das (sowjetische) Politibüro – man sieht sie kaum!
Sie sagen, dass man sich einmal nur an Putin erinnern wird. Wie ist es denn mit Alexej Nawalny? Wird man sich an den erinnern?
Ja. Ich glaube, man wird sich an ihn erinnern. Auch wenn ich es vielleicht nicht mehr erfahren werde. Hoffentlich nicht so, dass er zum Martyrer wird. Es ist in diesen Tagen sehr schwer über ihn zu sprechen. Ich kann mir nur wünschen, dass er als einer der Anführer der Oppositionsbewegung in Erinnerung bleibt. Und wenn sich das irgendwie positiv entwickelt, dann wird er bleiben und vielleicht nicht in so großem Format.
Wie bewerten Sie die Entscheidung von Amnesty International, Nawalny den Status eines Gewissensgefangenen (prisoner of consciousness) abzuerkennen?
Das war natürlich ein sehr schlechtes Signal von Amnesty. Man muss nicht mit den Menschen immer einverstanden sein. Jeder weiß, dass man sich irren kann.
Tschetschenien spielt ja immer noch eine Rolle, nicht nur weil es dort keine Demokratie gibt. Wie wirkt sich diese eigentlich kleine Teilrepublik im Kaukasus auf die russische Politik aus?
Für mich ist schwer vorstellbar, wie man demokratische Reformen in Russland entwickeln kann, wenn man (den tschetschenischen Machthaber Ramsan) Kadyrow im Hinterland hat. Das ist nicht kompatibel. Das ist ein absoluter Risikofaktor. Kadyrow erpresst seit Jahren die Zentralregierung damit, dass er in Tschetschenien für Ruhe sorgt. Wenn man diesen Erpressungen nicht nachgeht, beginnt dort ein Chaos, möglicherweise ein Krieg, weil er dort viele Feinde hat. Und jeder Krieg verhindert demokratische Entwicklungen. Für die innere Entwicklung Russlands ist Kadyrow ein unglaublicher Risikofaktor, weil er die Menschen bedroht und weil seine Leute an politischen Morden, wie an dem von Boris Nemzow, beteiligt sind.
Was kann der Westen tun, um Demokratie und Menschenrechte in Russland zu stärken und und was hat er bisher falsch gemacht?
Es ist zwar verständlich, dass man im Westen Stabilität will. Aber als Historikerin weiß ich, dass eine Diktatur auf Dauer keine Stabilität bedeutet. Außerdem ist die Welt ist sehr klein, das hat auch die Pandemie gezeigt. Man kann sich nicht auf Dauer abkapseln.
Man darf Menschenrechte einfach nicht länger als Nebenthema unter „Verschiedenes“ abhandeln. Ich glaube, dass die jüngsten Ereignisse in Russland und Belarus hinlänglich gezeigt haben, dass das keine nachrangigen Fragen sind.
Der Westen darf seine Augen nicht verschließen und vor Sanktionen nicht zurückschrecken. Sanktionen können zwar ein härteres Vorgehen im Inneren provozieren, aber sie sind ein wichtiger moralischer Faktor, die signalisieren, wenn Grenzen überschritten wurden. Außerdem sind Sanktionen ein taktisches Mittel, um die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Denn Putin ist in erster Linie ein Verhandler.
Das Gespräch führte Nikolaus von Twickel
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