Akt der Verzweiflung statt krönender Abschluss – Moskaus Scheinreferenden in der Ukraine
Die Scheinreferenden in den von Russland besetzten Gebieten der Ukraine sind ein Vorwand zur Annexion. Ihre hastige Durchführung beweist, wie verzweifelt der Kreml nach der ukrainischen Gegenoffensive ist.
Die sogenannten Referenden in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine dauern noch an, aber ihre Ergebnisse und Ziele stehen bereits fest: Mit satten Mehrheiten will der Kreml eine völkerrechtswidrige Annexion weiterer (nach der Krim) Teile seines Nachbarlandes legitimieren, was wiederum Kyjiw und seine westlichen Verbündeten davon abhalten soll, weiteres russisch kontrolliertes Territorium zurückzuerobern. Moskau argumentiert, dass es sich dann um Angriffe auf Russland selbst handelt – und droht mit Atomwaffen (Wladimir Putin: „kein Bluff“).
Damit hat sich die Rolle der „Referenden“ dramatisch gewandelt. Anders als 2014, als in den russisch kontrollierten Gegenden von Donezk und Luhansk über eine „Unabhängigkeit“ abgestimmt wurde, handelt es sich diesmal um eine Art asymmetrische Kriegsführung: Getrieben von den dramatischen Verlusten im Gebiet Charkiw versucht Moskau verzweifelt, sich mit hastig vorgezogenen Annexionen vor weiteren militärischen Niederlagen zu schützen.
Es geht also – mal wieder – nicht nach Plan: Wenn die vom Kreml eingesetzten Anführer der sogenannten Volksrepubliken seit März von Referenden redeten, meinten sie damit den krönenden Abschluss ihrer Eroberungsfantasien – und den Schlüssel zur Vereinigung mit „Mütterchen Russland“. Damit diese Krönung in Ruhe stattfinden kann, betonten sie zuletzt unisono, dass Referenden wegen der angespannten Sicherheitslage erst später – etwa nach der „Befreiung“ (sprich Eroberung) des gesamten Gebiets Donezk – abgehalten werden sollten.
Als etwa Andrej Turtschak, Generalsekretär der Putin-Partei Einiges Russland, den 4. November als Datum vorschlug (an dem Tag wird in Russland der „Tag der Einheit des Volkes“ gefeiert), kam unerwartete Kritik aus Luhansk – der Anführer der dortigen „Volksrepublik“ Leonid Passetschnik erklärte, dass die Sicherheit der Zivilbevölkerung nicht gewährleistet werden könne, solange „die ukrainischen Angriffe andauern“.
Am 10. September, drei Tage nach Turtschaks Vorschlag, nahmen Regierungstruppen die strategisch wichtige Stadt Isjum im Gebiet Charkiw ein. Seitdem steht die ukrainische Armee wieder direkt an der Grenze zur „Volksrepublik“ Luhansk – aber Bedenken um die Sicherheit der Zivilbevölkerung spielen dort keine Rolle mehr: Stattdessen muss alles blitzschnell gehen, um bloß einen weiteren ukrainischen Blitzkrieg zu verhindern.
Wann genau im Kreml entschieden wurde, die Annexion voranzutreiben, ist unklar. Aber am Abend des 19. September, neun Tage nach der Niederlage von Isjum, ging es los. In den „Volksrepubliken“ verabschiedeten die „Gesellschaftskammern“, die eigentlich mal zur Wiedereingliederung radikaler prorussischer Kräfte gegründet wurden, hastig einstimmige Aufrufe an die jeweiligen Anführer, „sofort“ Referenden zur Aufnahme in die Russische Föderation abzuhalten.
Tags darauf ging es Schlag auf Schlag weiter – die „Parlamente“ in Luhansk und Donezk verabschiedeten entsprechende „Gesetze“ (natürlich wieder einstimmig), die von den Republikchefs sofort unterzeichnet wurden. Und auch die Besatzungsverwaltungen von Cherson und Saporischschia kündigten Abstimmungen an. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die „Referenden“ bereits am 23. September – also in drei Tagen – beginnen, und fünf Tage dauern würden. Die letzten beiden davon – Montag und Dienstag – wurden kurzerhand zu Feiertagen erklärt. Abstimmen „dürfen“ übrigens nicht nur die Bewohner der russisch kontrollierten Gebiete, sondern auch diejenigen, die außerhalb leben – also in Russland und in benachbarten Besatzungsgebieten.
Natürlich ist alles Show – wie das Telefonat, in dem der Donezker Republikchef Denis Puschilin angeblich mit seinem Luhansker Kollegen Passetschnik die gemeinsame Durchführung der Abstimmungen bespricht. Ebenfalls Teil der Inszenierung sind die Auftritte ausländischer „Wahlbeobachter“, die vor bereitgestellten Kameras gefällige Aussagen machen. Zwar hatte eine Delegation von AfD-Politikern eine geplante Reise im letzten Moment abgesagt, dennoch fanden auch einige Beobachter aus Deutschland ihren Weg in die Region, darunter etwa der nordhessische Energieversorgungsmanager Stefan Schaller.
Wie es nach einer Annexion weitergeht, ist unklar. Die von Putin als „Teilmobilmachung“ verkauften Zwangsrekrutierungen dürften Russlands ernsthafte militärische Probleme nicht schnell lösen. Neben dem massiven Risiko landesweiter Unruhen und weiterer militärischer Niederlagen steht Russland vor dem Problem, wie es die politische Kontrolle in seinen „neuen Landesteilen“ sicherstellt.
Aus den seit Februar 2022 besetzten Gebieten sind offenbar mehr als die Hälfte der Einwohner geflohen, in den „Volksrepubliken“ sieht es nicht viel besser aus, dort sind noch rund 2 Millionen von einst 3,6 Millionen Menschen (2014) übrig. Zudem stehen schwache Führungsfiguren an der Spitze – in Donezk ein windiger ehemaliger Finanzpyramidenverkäufer (Puschilin), in Luhansk ein dröger ehemaliger ukrainischer Geheimdienstoffizier (Passetschnik). Ohne Polizeistaat und militärische Härte können diese Personen nicht dauerhaft an der Macht gehalten werden. Es bleibt abzuwarten, ob sich Moskau darauf einlässt, oder ob es bald eigene Leute schickt, um den Donbass zu regieren – bereits jetzt sind 21 russische Beamte ganz offiziell in den Regierungen vor Ort beschäftigt.
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