Warum der Donbas-Konflikt nie ein Bürgerkrieg war
Im April 2014 begann Russland eine verdeckte bewaffnete Invasion des ukrainischen Donezbeckens. Dennoch folgen manche Politiker, Journalisten und auch einige Wissenschaftler noch immer der russischen Propagandaerzählung eines angeblichen damaligen “Bürgerkriegs“ in der Ostukraine. Eine Einordnung von Julia Kazdobina, Jakob Hedenskog und Andreas Umland.
Vor zehn Jahren, im Frühjahr 2014, wandelte sich der russisch-ukrainische Krieg, der im Februar 2014 mit der Besetzung der Krim begonnen hatte, zu einem großen Konflikt. Trotzdem haben viele Kommentatoren – selbst einige, die sonst auf der Seite der Ukraine stehen und die Vollinvasion Russlands am 24. Februar 2022 verurteilen – zu deren Vorgeschichte eine ambivalente Haltung.
Ob aufgrund russischer Propaganda, Vorurteile, schlichter Naivität oder aus anderen Gründen – zahlreiche ausländische Beobachter sehen weiterhin einen grundlegenden Unterschied zwischen den Kämpfen in der Ukraine vor und nach Russlands vollumfänglichen Einmarsch vor gut zwei Jahren.
Wie Moskau eine ostukrainische „Rebellion“ anzettelte
Der Donbas-Krieg des Zeitraums 2014–2021 war nur eine von mehreren Aspekten des damaligen umfassenderen russischen Versuchs, die weitgehend russischsprachigen östlichen und südlichen Teile der Ukraine unter Kontrolle zu bringen. Ursprünglich wollte der Kreml dieses Ziel mit so wenig wie möglich offenen militärischen Kampfhandlungen erreichen. Der bekannteste Teil dieser weitgehend ohne schweren Waffeneinsatz und verdeckten, aber bereits umfassend organisierten und klar militärischen Operation war die Annexion der Krim durch Russland zwischen dem 20. Februar und dem 18. März 2014. Der Versuch, das von den russischen imperialen Nationalisten als Neurussland (Noworossija) bezeichnete gesamte Gebiet der Ost- und Südukraine zu erobern, umfasste eine Vielzahl weiterer subversiver, hybrider, medialer und anderer Aktionen. Diese zielten darauf ab, die soziale Integrität, politische Stabilität und staatlichen Strukturen der Ost- und Südukraine und darüber hinaus zu untergraben.
Zu den wichtigsten Instrumenten des russischen Hybridkriegs auf dem ukrainischen Festland gehörten Anfang 2014 sowohl russische Medien als auch von Russland beeinflusste ukrainische Medien. Doch blieb die Wirkung von Moskaus Dämonisierungskampagne gegen Kyjiw auf die öffentliche Meinung in der Ostukraine begrenzt. Nicht nur russische Propagandakanäle, sondern auch ausländische Medien stellten damalige prorussische Demonstrationen im Donbass häufig als Ausdruck einer angeblich weit verbreiteten Volksstimmung dar.
Verschiedene Meinungsumfragen, die vor und während dieser Phase durchgeführt wurden, zeichnen jedoch ein anderes Bild. Im März 2014 befürwortete beispielsweise nur ein Drittel der Bewohner der Regionen Donezk und Luhansk die Abspaltung des Donbas von der Ukraine, während 56 Prozent diese Idee ablehnten. Viele der separatistischen Aktionen in ost- und südukrainischen Städten wurden nicht nur oder gar nicht lokal initiiert, sondern von Moskau angestiftet, gelenkt und finanziert.
Wie russische Freischärler den Weg zur gewaltsamen Eskalation ebneten
Während die Spannungen in der Ostukraine bereits vor April 2014 groß waren, begannen Kämpfe in großem Stil erst in der zweiten Aprilwoche. Die neue Phase der Konfrontation war durch den Einsatz von Schusswaffen und die Omnipräsenz russischer Staatsbürger gekennzeichnet. Mit dieser Eskalation begann der Donbass-Krieg als ein bewaffneter Teilkonflikt des umfassenderen Angriffs Russlands auf die Ukraine – ein großer Krieg, der mit russischen Truppenbewegungen auf der Krim am 20. Februar 2014 begonnen hatte und bis heute andauert.
Den Beginn des ostukrainischen Teilkrieges markiert der 12. April 2014, als bewaffnete Separatisten unter Führung irregulärer russischer Kämpfer Verwaltungsgebäude in Slowjansk und Kramatorsk im Gebiet Donezk einnahmen. Auf diese Eroberungen hin folgten die ersten großen Kämpfe des russisch-ukrainischen Krieges.
Die anti-ukrainischen Freischärler in Slowjansk wurden vom ehemaligen FSB-Offizier Igor Girkin (alias „Strelkow“) angeführt. Girkins bewaffnete Gruppe von mehr als 50 irregulären Kämpfern war von der bereits besetzten Krim – wo die meisten dieser Männer an der Annexionsoperation teilgenommen hatten – über Russland auf das ukrainische Festland gelangt.
Girkins Gruppe spielte eine entscheidende Rolle bei der Umwandlung eines regionalen zivilen Konflikts im Donezbecken in einen delegierten zwischenstaatlichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. In einem Interview für die russische rechtsextreme Wochenzeitung Sawtra (Morgen) im November 2014 gab Girkin zu: „Ich habe den Krieg ausgelöst. Wenn unsere [bewaffnete] Einheit nicht die Grenze [von Russland in die Ukraine] überschritten hätte, wäre alles so ausgegangen, wie es in [der nordostukrainischen] Stadt Charkiw und [der südukrainischen] Stadt Odesa geschehen ist. [...] [D]er Anstoß zum Krieg, der bis heute andauert, kam von unserer [bewaffneten] Einheit. Wir haben alle Karten, die auf dem Tisch lagen, neu gemischt. Alle!“
Wie die „Separatisten“ der Ukraine von Moskau gesteuert wurden
Am 13. April kündigte der amtierende ukrainische Präsident Oleksandr Turtschynow den Beginn einer so genannten Anti-Terror-Operation (ATO) an. Die anfängliche Entscheidung der ukrainischen Regierung, die Landesverteidigungsaktion nicht als traditionelle Militäroperation zu definieren, obwohl Russlands entscheidende Rolle in Slowjansk und Kramatorsk von Anfang an klar war, wird manchmal als Beweis für einen innerstaatlichen und nicht internationalen Konflikt interpretiert.
Die Kyjiwer Entscheidung wurde jedoch aus rein pragmatischen und nicht paradigmatischen Gründen getroffen: Die Verhinderung von Separatismus fiel eher unter die ukrainischen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung als unter die Verteidigungsgesetzgebung. Kyjiw war im April 2014 nicht bereit, vor den für Mai 2014 angesetzten Präsidentschaftswahlen das Kriegsrecht zu verhängen, hätten die Wahlen doch im Ausnahmezustand abgesagt werden müssen.
Mehrere wissenschaftliche Untersuchungen zum Ausbruch und Verlauf des Donbass-Krieges haben vielfältige Verbindungen zwischen scheinbar unabhängigen, irregulären anti-ukrainischen Akteuren in der Ostukraine einerseits, und russischen Staatsorganen andererseits – sei es in Moskau, Rostow am Don oder Simferopol – offengelegt.
Der in Deutschland lebende russische Historiker Nikolay Mitrokhin wies etwa in seinem 2014 erschienenen Aufsatz „Transnationale Provokation“ in der Zeitschrift „Osteuropa“ erstmals aus zeitgeschichtlicher Perspektive auf die Rolle hin, die nicht nur russische irreguläre Akteure, sondern auch Agenten des russischen Staates beim Ausbruch des Pseudo-Bürgerkriegs im Donezbecken spielten. Später bestätigten und unterstützten unter anderem der japanische Ukrainist Sanshiro Hosaka mit Artikeln wie „Russian Political Technology in the Donbas War“ oder der deutsche Politologe Jakob Hauter mit seinem wegweisenden Buch Russia’s Overlooked Invasion (demnächst auch in Deutsch erhältlich) die frühen Hinweise Mitrokhins.
Auch vor Erscheinen detaillierter empirischer Untersuchungen über die Konfliktbeteiligung des russischen Staates erschien dieser Faktor als die plausibelste Erklärung für den Ausbruch des Krieges. Der politische Gesamtkontext der militärischen Eskalation im Donbas war von Anfang an suggestiv. Es war kein Zufall, dass der Krieg in derselben Periode ausbrach, als reguläre russische Truppen die Krim eroberten und Russland einen multidimensionalen Hybridkrieg via Medien, Internet, Agenten usw. auf dem gesamten ukrainischen Festland führte. Ein merkwürdiger Aspekt der angeblichen „Rebellion“ im Donbas war stets, dass ihr von Anfang keinerlei bekannte lokale Politiker, Unternehmer, Kulturschaffende oder sonstige Meinungsführer oder relevante politische oder sonstigen Organisationen aus der Region angehörten.
Wie russische reguläre Streitkräfte in den Krieg im Donbass eingriffen
Bis heute bestreitet Moskau vehement, dass reguläre russische Truppen direkt am Donbas-Krieg beteiligt waren. Dies war bis Sommer 2014 auch weitgehend tatsächlich so. Dennoch gab es –abgesehen von der entscheidenden Rolle russischer Truppen bei der Annexion der Krim im Februar/März 2014 – eine Reihe von Hinweisen auf die damalige Anwesenheit nicht nur irregulärer, sondern auch regulärer russischer Soldaten auf dem ukrainischen Festland.
Traurige Berühmtheit erlangte die Besatzung eines selbstfahrenden Boden-Luft-Raketensystems „Buk TELAR“ der russischen Luftverteidigungskräfte. Die regulären Soldaten von Russlands Armee dangen mit ihrer hochmodernen mobilen Startrampe im Juli 2014 für einige Tage in ostukrainisches Gebiet ein. Die russische Buk-Mannschaft schoss versehentlich den Passagierflug MH-17 der Malaysian Airlines ab, dessen 298 Zivilisten, darunter 80 Kinder, alle ums Leben kamen.
Parallel zu kleineren regulären russischen Einheiten, wie der Buk-Einheit, die im Donbas kämpfende prorussische Freischärler unterstützten, begann die russische Armee damals, über die Grenze hinweg auf ukrainische Truppen zu schießen. Im Juli 2014 wurde eine Reihe von Raketen- und Artillerieangriffen von russischem Gebiet auf ukrainische Stellungen auf Fotos und Videos festgehalten. In einem im Dezember 2016 veröffentlichten Bericht beschrieb die bekannte Recherchegruppe Bellingcat den russischen Beschuss der Ukraine in mindestens 149 Fällen.
Im darauffolgenden Monat marschierte Russland schließlich in großem Stil auf dem ukrainischen Festland ein. Am 14. August 2014 überquerte eine große Kolonne von mindestens zwei Dutzend gepanzerten Mannschaftswagen und anderen Fahrzeugen die russisch-ukrainische Grenze. Dies war das erste massive Eindringen regulärer russischer Streitkräfte auf das ukrainische Festland, das von unabhängigen Beobachtern bestätigt wurde. Bis Ende August 2014 wurden bis zu acht reguläre so genannte „taktische Bataillonsgruppen“ der russischen Streitkräfte mit über 6.000 Mannauf ukrainisches Gebiet verlegt.
Richtigstellung des Narrativs
Trotz dieser Faktenlage folgen viele Politiker, Journalisten, Diplomaten und sogar einige Wissenschaftler noch immer der Propagandaerzählung des Kremls zum Donbass-Krieg. Sie und andere sollten die einschlägige empirische Forschung Mitrokhins, Hosakas, Hauters sowie weiterer Regionalexperten zur Kenntnis nehmen und die Ursprünge sowie Natur der verdeckten russischen Invasion des ukrainischen Donezbeckens im Zeitraum 2014–2021 sorgsamer darstellen – und nicht mehr in die russische Propagandafalle tappen. Der damalige bewaffnete Teilkonflikt im Donbass war ein delegierter zwischenstaatlicher Krieg Russlands gegen die Ukraine – und kein innerukrainischer Bürgerkrieg.
Julia Kazdobina ist Senior Fellow am Security Studies Program des Foreign Policy Council „Ukrainian Prism“ in Kyjiw. Jakob Hedenskog sowie Andreas Umland sind Analysten am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (UI). Dieser Artikel basiert auf einem ausführlicheren englischsprachigen SCEEUS-Bericht vom 12. April 2024: https://sceeus.se/en/publications/why-the-donbas-war-was-never-civil/
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