Michail Chodorkowski: Zehn Vorschläge für ein anderes Russland
Michail Chodorkowski war Chef des russischen Ölkonzerns Yukos, bevor er als politischer Gefangener Putins 10 Jahre im Straflager verschwand. Heute fördert er vom britischen Exil aus die demokratische Zivilgesellschaft in Russland. Sein Text skizziert zehn Leitfragen für die Zeit nach Wladimir Putin. Welche Verfassungsordnung wäre die Beste? Welche Werte könnten Russland zusammenhalten? Welche Lehren sind aus der Geschichte zu ziehen? Die zehn Punkte sind kein fertiges Programm, sondern ein Anstoß für die Diskussion über eine demokratische und rechtsstaatliche Zukunft Russlands.
Wladimir Putin hat recht klar die wichtigsten Momente umrissen, die die nähere Zukunft Russlands prägen werden: Es geht um eine Unabsetzbarkeit des Regimes, die eine weitere Archaisierung des Landes bedeutet. Putins Regime wird aber – auf die eine oder andere Art – enden, und es wäre gut, wenn sich die Gesellschaft bis zu jenem Zeitpunkt entschieden hat, wer wir sind, wohin wir gehen, welcher Art unser Weg in dieser sich schnell wandelnden Welt ist. Ich möchte hier nicht darüber reden, wie wir das Regime ablösen könnten, sondern vielmehr einen Aktionsplan für die Zeit nach Putin erörtern. Ich stelle hier die zehn wichtigsten politischen Fragen Russlands im 21. Jahrhundert zur Diskussion.
1. Imperium oder Nationalstaat?
Russland ist das vergangene halbe Jahrtausend, wenn nicht gar länger ein Imperium gewesen, also ein Land, das seiner Kultur sowie seinem sozialen und politischen Aufbau nach aus unterschiedlichen Teilen bestand, die nur durch militärische Gewalt zusammengehalten wurden. Die Menschen in Russland haben sich an das Imperium gewöhnt, sie vertrauen ihm, sie sehen in ihm die Rettung vor Zerfall und Unordnung im gesellschaftlichen Leben.
Allerdings sind nun Imperien weltweit von Nationalstaaten abgelöst worden, in denen eine gemeinsame Kultur und der Wunsch der Menschen vorherrschen, auf einem Territorium nach einheitlichen Gesetzen zu leben.
Jene, denen es beschieden war, in den heutigen „Landen russischer Zivilisation“ geboren zu werden, und bei denen heute die Verantwortung für deren Zukunft liegt, werden in den nächsten Jahren vor der epochalen Entscheidung zwischen Imperium und Nationalstaat stehen. Es ist eine fundamentale, zivilisatorische Entscheidung. Falls sie nicht jetzt oder falsch getroffen wird, werden ihre Kinder und Enkel schon nichts mehr zu wählen haben.
In Bezug auf Russland würde meine Wahl zugunsten des Nationalstaates ausfallen, zugunsten der Zukunft, und nicht der Vergangenheit.
Die Geschlossenheit einer politischen Nation ist, anders als die Geschlossenheit einer „politischen Volksgruppe“, primär: Sie wird nicht vom Staat geschaffen, sondern schafft selbst den Staat, sie konstituiert ihn. Deshalb auch wird ein Staat, der von einer Nation geschaffen wird (anders als ein Staat, der das Volk kontrolliert), tatsächlich zu einem Verfassungsstaat.
Die Schaffung eines Nationalstaats in Russland verlangt, dass konsequent drei historisch wichtige Schritte unternommen werden.
Der erste Schritt besteht in einer entschiedenen Abkehr vom Paradigma des Imperiums und der Schaffung von Bedingungen, die den Völkern Russlands eine freie Wahl ermöglichen.
Der zweite Schritt ist der eigentliche Akt der Konstituierung eines neuen Russland, jener Beschluss, den die vor hundert Jahren von den Bolschewiki auseinandergejagte Verfassungsgebende Versammlung nicht mehr fassen konnte.
Möglicherweise muss dazu eine neue verfassungsgebende Versammlung einberufen werden, indem die „schlafende Bestimmung“ [Art. 135 Abs.2] der jetzigen Verfassung aktiviert wird.
Der dritte Schritt wäre eine radikale Verfassungs- und Gerichtsreform mit dem Ziel, die politische und rechtliche Infrastruktur eines Nationalstaates zu schaffen.
2. Supermacht oder Nationale Interessen?
2014 wurde in Russland ein „Gesellschaftsvertrag“ durch einen anderen abgelöst. Der Kreml nahm bei dem alten Abkommen – „Stabilität im Tausch gegen Freiheiten“ –, das in Russland seit 2003 galt, eine erhebliche Ergänzung vor. Der neue Sozialvertrag lautet jetzt wie folgt: „Größe und Stabilität im Tausch gegen Freiheiten, Gerechtigkeit und Wohlstand“.
Ziel des Kreml ist es, mit dem Westen (und dann mit China) Einflusszonen abzustecken, über die betreffenden Gebiete die politische und militärische Kontrolle zu übernehmen und dadurch einen neuen eisernen Vorhang zu errichten. In der modernen Welt kann aber niemand nennenswerte Erfolge erringen, wenn man allein gegen alle spielt.
Dabei darf allerdings auch nicht außer Acht gelassen werden, dass es objektiv nationale Interessen Russlands gibt, die geschützt werden müssen. In der Tat besteht das nationale Interesse Russlands darin, das Land möglichst schnell in das System der Weltwirtschaft zu integrieren und das (wirtschaftliche und politische) Leben innerhalb des Landes auf eine Art und Weise umzugestalten, dass das Land einen würdigen Platz in diesem System einnehmen kann.
3. Moskowien oder Garderike
Die kommenden Generationen werden vor Fragen stehen, unter denen die nach dem Zentralismus der russischen Staatsmacht einen gesonderten Platz einnimmt. Ich bin überzeugt: In einem derart riesigen Land wie Russland führt Zentralismus früher oder später zu Autoritarismus. Es wird nicht gelingen, im Land ein arbeitsfähiges Demokratiemodell aufrecht zu erhalten, wenn gleichzeitig ein hohes Maß an zentralisierter Macht besteht.
Die Dezentralisierung des politischen Systems ist die wichtigste politische Aufgabe, vor der jene Koalition stehen wird, die nicht mit Worten, sondern mit Taten einen demokratischen Wandel in Russland anstrebt.
Die Urgestalt des neuen Systems ist tief in der Geschichte Russlands zu finden. Sie liegt weiter zurück als der üblicherweise angenommene Anfangspunkt russländischer Staatlichkeit (das Moskauer Zarentum). Es hat schließlich auch eine andere Rus gegeben, nämlich ein Land selbstverwalteter und höchst unabhängiger Städte: Garderike.
In unserer Zeit geht es nicht nur um Städte, sondern um Megastädte, in denen auf engem Raum Millionen Menschen zusammenleben. Es sind die Megastädte mit ihrem prinzipiell neuen Format sozialer Organisation, die heute die Motoren des weltweiten technologischen, wirtschaftlichen und allgemeinen kulturellen Wandels sind.
Strategisch muss „Moskowien“ mit seinem alleinigen, dominierenden Zentrum, in dem die politischen Entscheidungen getroffen werden, in – historisch gesehen – mittelfristiger Perspektive in einen megastädtischen politischen „Multizentrismus“ umwandelt werden. Das bedeutet, dass idealerweise ein politischer „Megastädtebund“ die Grundlage des staatlichen Aufbaus Russlands bilden sollte.
In Russland kann nur ein räumliches System lebensfähig sein, nur ein Dreieck aus starkem Zentralstaat, der Megastadt als regionalem Unterzentrum und einer starken lokalen Selbstverwaltung.
4. Demokratie oder Opritschnina?
Das Wesen der Opritschnina bestand in einer Teilung der Macht in einen äußeren und einen inneren Staat (einen Staat im Staat), wobei der innere Staat den äußeren kontrolliert und eine versteckte politische Kraft darstellt.
Für Russland gibt es aber keine Alternative zur Demokratie. Andernfalls würde es früher oder später durch einen Schwung des Revolutionspendels als Staat vernichtet. Die Schwungweite dieses Pendels kann nur durch Demokratie gedämpft werden.
Russland muss ein demokratisches Fundament errichten, es muss das unternehmen, was im westlichen Teil Europas bereits seit Langem geschehen ist. Es muss aber nicht nur das Verpasste nachholen, sondern auch jene neuen Herausforderungen berücksichtigen, auf die die modernen westlichen Demokratien, die heute in ernsthaften Schwierigkeiten stecken, Antworten suchen.
Für die Schaffung einer Demokratie in Russland besteht die grundlegende Frage darin, wie sich die höchste Macht in einem System der Gewaltenteilung eingliedern ließe, wie man sie in das Gleichgewicht der Checks and Balances einbinden und den Deep State einer Kontrolle durch die Gesellschaft unterstellen und überhaupt dessen „sakrale“ Bedeutung tilgen könnte. In dieser Phase besteht wohl die beste Lösung in einem Übergang zu parlamentarischer Demokratie.
Es ist davon auszugehen, dass in Russland ein echtes, klassisches Parteiensystem weder bestanden hat noch jemals bestehen wird. Es scheint, als würden wir Mechanismus der Wahlen um etwas anderes herum aufbauen, etwas, was derzeit an die Stelle traditioneller Parteien tritt.
5. Monopol oder Wettbewerb?
Unter einem durchweg korrupten Regime, dem darüber hinaus jedwede ideologische Basis fehlt, geraten Monopole ausschließlich zu einem Instrument der Bereicherung für die Clans, die sich an das Regime angedockt haben.
Angesichts einer entwickelten Informationsgesellschaft hat sich das Monopol als wichtige Methode zur Regulierung des sozialen Raumes praktisch erschöpft. Für Russland gibt es keinen anderen Weg als den Übergang von einer Monopolwirtschaft zu einer Konkurrenzwirtschaft.
Im Wettbewerb sind das Wichtigste die Regeln, durch deren Einhaltung sich ein Akteur breite Entscheidungsfreiheit sichert. Es ist ein gleicher und gerechter Zugang zum Gestaltungsprozess dieser Regeln nötig. Falls nämlich diese Regeln jemandem Vorteile verschaffen, so würde sich der Wettbewerb in sein Gegenteil verkehren, in verdeckte Monopole und Chaos. Dadurch ist ein echter Wettbewerb nur dann möglich, wenn eine entwickelte Zivilgesellschaft und ein politischer (Rechts)Staat bestehen. Ein korruptes, nicht ablösbares Regime (ein politisches Monopol) zusammen mit einem wirtschaftlichen Monopol – das ist garantierte Katastrophe.
6. Wende nach links oder nach rechts?
Meiner Ansicht nach liegt der Trennung in „Linke“ und „Rechte“ die Haltung zu Gleichheit zugrunde. Für eine linke Politik ist ein Streben nach stärkerer Gleichheit und die Bekämpfung von Ungleichheit kennzeichnend. Rechter Politik ist die Anerkennung von Ungleichheit eigen, vor allem in Bezug auf Vermögen, aber auch in anderen Kategorien, und der Versuch, wirtschaftliche Aktivität durch Ungleichheit anzuregen.
Eine demokratische Bewegung muss dem linken Trugbild des derzeitigen Regimes eine reale, „taktische“ linke Agenda entgegensetzen. In der gegenwärtigen Phase könnte diese Agenda in einem Zweiertakt wirken: Als schrittweise Einschränkung von „Superkonsum“ mit Hilfe einer Steuer auf die Vererbung von supergroßen Vermögen (die ihrem Wesen nach einer Konfiszierung gleichkäme), und andererseits durch eine garantierte Beibehaltung (und sogar allmähliche Anhebung) grundlegender sozialer Vergünstigungen, vor allem in den Bereichen Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung.
7. Meinung in Freiheit oder Glasnost im Reservat?
Meinungsfreiheit im genauen Sinne dieses Wortes ist das höchste rechtliche und verfassungsmäßige Prinzip, dem der Staat unterworfen ist. Im heutigen Russland gibt es zwar keinerlei Meinungsfreiheit, doch hat das autoritäre (seinem Wesen nach sogar neototalitäre) Regime gelernt, eine Koexistenz neben den Überresten der Gorbatschowschen Glasnost zu führen – nicht
ohne Nutzen für sich selbst.
Strategisch aber müssen wir weniger auf eine vollständige Wiederherstellung der Glasnost hinarbeiten, als vielmehr feste Verfassungsgarantien für Meinungsfreiheit schaffen. Wir müssen zu einem vollwertigen, freien und offenen Medienmarkt übergehen, der rechtlich durch klare Gesetze geregelt wird. Nur wenn ein solcher Markt mit echtem Wettbewerb besteht, kann das Recht auf Meinungsfreiheit tatsächlich garantiert werden.
Falls Medien durch Haushaltsmittel unterstützt werden müssen, muss sichergestellt werden, dass diese Unterstützung transparent erfolgt, und dass weder einzelne Beamte noch deren Korporation als Ganzes zu Nutznießern dieser Subvention werden können.
Wenn es gelingt, den Medienmarkt zu stabilisieren und die Voraussetzungen zu schaffen, dass sich eine vielfältige Medienlandschaft entwickelt, in der die Medien entweder aufgrund eigener Ressourcen arbeiten (also wirtschaftlich unabhängig sind), oder aber – unter transparenten Bedingungen und gesellschaftlicher Kontrolle – mit staatlicher Förderung, dann können wir uns auf den zweiten Aspekt des Problems konzentrieren, nämlich die „politischen“ Garantien für die Unabhängigkeit der Medien.
8. Parlamentarische oder präsidentielle Republik?
Durch die Entscheidung für ein präsidentielles Modell öffnet dem Regime – anders, als bei einem parlamentarischen Modell – erheblich mehr Räume, um von einer demokratischen Umgestaltung abzurücken
Das ist der wichtigste und einzige Grund, aus dem ich für das Russland meiner Träume die parlamentarische Republik vorziehen würde.
Wenn das Parlament institutionell im Zentrum des politischen Systems in Russland steht, erhöht sich automatisch die Wertigkeit des Abgeordnetenmandats und somit auch des gesamten Wahlverfahrens.
Der Übergang zu einer parlamentarischen Republik ist der einzige reale Weg für einen Neustart des politischen Systems in Russland, und genau hierin, und in nichts anderem besteht deren Vorteil gegenüber einer präsidentiellen Republik.
9. Diktatur des Gesetzes oder Rechtsstaat?
Ein Rechtsstaat ist ein Staat, in dem die Gesetze bestimmten Kriterien genügen müssen.
Ein Gesetz ist dann rechtsstaatlich, wenn es von einem vollwertigen, tatsächlich von den anderen Gewalten unabhängigen – und aufgrund eines demokratischen Wahlgesetzes gewählten – Parlament verabschiedet wurde, also dem einzigen legitimen Gesetzgebungsorgan.
Die Gesetze müssen dabei auf Prinzipien aufbauen, die außerhalb von Zeit und Raum gelten. Meiner Ansicht nach ist dieses grundlegende Prinzip die Freiheit. In jedem konkreten Fall müssen wir unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Situation prüfen, ob das betreffende Gesetz den Schutz der Rechte und Freiheiten des Menschen fördert oder nicht.
10. Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit?
Es wird allgemein anerkannt, dass Gerechtigkeit ein grundlegender moralischer Imperativ für die Politik darstellt. Nun bedeutet Gerechtigkeit für jeden etwas anderes, eigenes, und es ist nur sehr schwer, einen gemeinsamen Nenner für „eine Gerechtigkeit für alle“ zu finden. Zweitens, und noch wichtiger: der Preis für eine ausbalancierte Gerechtigkeit ist oft unverhältnismäßig hoch.
Damit sich das nicht ein ums andere Mal wiederholt, muss die elementare Suche nach Gerechtigkeit in einen Rahmen gebracht werden. Dieser Rahmen lässt sich meiner Ansicht nach nur auf eine Weise schaffen, nämlich, indem man sich auf ein tiefergehendes und universelleres Prinzip als die Gerechtigkeit stützt.
Dieses Prinzip ist für mich die Barmherzigkeit, nämlich die Fähigkeit mitzufühlen und zu verzeihen; es ist gleichsam eine Gerechtigkeit zweiter Ordnung. Wenn wir die Politik und das Recht an der Gerechtigkeit messen, dann müssen wir Gerechtigkeit wiederum an Barmherzigkeit messen, und so verhindern, dass erstere sich in ihr Gegenteil verkehrt.
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