Pro und Contra: Sollen russische Touristen zu Hause bleiben?
Pro: Ein Einreisestopp ist hart, würde aber ein Licht auf das Übel von Putins Krieg werfen, argumentiert Edward Lucas.
An den Ufern des Comer Sees erscheint Europas schlimmster Krieg seit 75 Jahren weit weg. Stattdessen sind Bars und Strände voll mit unbekümmerten, kosmopolitischen und spendablen Besuchern aus Russland. Es gibt auch Ukrainer, aber die arbeiten meistens hart. Eine Frau, die in unserem Hotel schuftet, hat vor ihrer Flucht nach Italien einen Monat in einem Keller verbracht; sie sagt, dass sie die frische Luft und die Einsamkeit auf ihrem nächtlichen Heimweg genießt.
Wie lange noch sollen sich Russen in den europäischen Ferien austoben können? Die estnische Premierministerin Kaja Kallas sagt, Europa zu besuchen sei „ein Privileg und kein Menschenrecht“. Ihr Land hat seine an Russen ausgestellten Visa aufgehoben, aber Hunderttausende dürfen weiterhin in Estland einreisen, weil ihr Visum von anderen Schengen-Staaten ausgestellt wurde. Das ist zwar gut fürs Geschäft, aber der unkontrollierte Zustrom fühlt sich an wie eine Invasion.
Einige russische Besucher haben ukrainische Flüchtlinge verspottet und die Ergebnisse in sozialen Medien gepostet, was die Empörung verstärkt hat (einen solchen Charmeur hat Estland aufgespürt und abgeschoben). Finnland, Lettland, Litauen und Polen, die ebenfalls Landgrenzen mit Russland haben, wollen ebenfalls ein Verbot, ebenso wie Dänemark. Deutschland ist strikt dagegen.
Die Rechtslage ist erstaunlich kompliziert (anders als zu Corona-Zeiten). Aber Tschechien, das als erstes Land den Reiseverkehr für Russen eingeschränkt hat und welches gerade den sechsmonatigen EU-Vorsitz innehat, hat die Schengen-Sanktionen auf die Tagesordnung des Außenministertreffens am 31. August gesetzt.
Höchste Zeit, heißt es aus der Ukraine. Außenminister Dmytro Kuleba sagt, dass den Russen „das Recht genommen werden muss, internationale Grenzen zu überschreiten, bis sie lernen, diese zu respektieren“. Präsident Wolodymyr Selenskyj argumentiert, die Russen sollten „in ihrer eigenen Welt leben, bis sie ihre Philosophie ändern“.
Pragmatische und prinzipielle Gegenargumente gibt es viele. Einschränkungen der Reisefreiheit für gewöhnliche Russen könnte das Narrativ des Putin-Regimes untermauern, dass Russland von Hass umringt wird. Regimekritiker, die vor Verfolgung fliehen, würden gefährden. Jenes Zehntel der russischen Bevölkerung, das ins Ausland reist, ist unsere beste Hoffnung auf einen Wandel in Russland. Es ist wirtschaftliche Selbstbeschädigung: Russische Touristen werden einfach nach Dubai, Ägypten oder ins kremlfreundliche Serbien reisen. Und im Grunde ist Kollektivstrafe ungerecht. Donald Trumps Einreiseverbot für Muslime löste einen Aufschrei der Empörung aus – warum sollte es hier anders sein?
Dabei geht es um unsere Russland-Strategie: Sollen wir den Kreml untergraben, indem wir Russen umwerben, die über seine Herrschaft verärgert sind, oder sollen wir einen Druckkessel schaffen, der das Regime in die Luft jagt? In der Vergangenheit haben wir beides probiert: Im Zweiten Weltkrieg bestanden wir auf Deutschlands bedingungsloser Kapitulation und scheuten Annäherungsversuche von Regime-Insidern, die auf einen separaten Frieden mit den Westmächten hofften. Im Kalten Krieg dagegen spielten wir „teile und herrsche“, hofierten die Wackelkandidaten des Ostblocks und begrüßten jeden Überläufer. Dies war mit unerträglichen moralischen Verrenkungen verbunden. Wir beherbergten die Ceausescus im Buckingham Palace, obwohl das rumänische Regime selbst für kommunistische Verhältnisse bestialisch war. Wir sahen über die manchmal schmutzige Vergangenheit von Funktionären hinweg, die die Seiten wechseln wollten. Der große Preis, so meinten wir, war einige Kompromisse wert.
Fast alle Russen tragen eine Mitverantwortung für Putins Aufstieg
Beide Ansätze haben ihre Vorzüge. Aber im Umgang mit Putin ziehe ich es vor, den inneren Druck zu erhöhen und unsere Sicherheit zu schützen. Die riesige Größe Russlands gibt seinen Bürgern nicht das Recht, zu reisen, wohin sie wollen – in Uniform oder ohne. Zwar ist nicht jeder Russe gleichermaßen schuldig, aber durch aktive oder passive Kollusion tragen fast alle eine gewisse Mitverantwortung für Putins Aufstieg. Viele mieden die Politik, weil sie sie für langweilig oder irrelevant hielten, genossen ihre privaten Annehmlichkeiten und ignorierten den Faschismus, der sich vor ihrer Haustür zusammenbraute. Jetzt drohen uns Hungersnot, Chaos und eine nukleare Katastrophe. Unsere bisherige Offenheit hat, gelinde gesagt, nicht gerade glänzend funktioniert.
Trotz steigender Kosten wird der Krieg in Russland immer beliebter. Vergessen Sie den Putinismus: Die ausdrückliche Unterstützung für den Stalinismus hat schockierende Ausmaße erreicht. Selbst oberflächlich betrachtet liberal eingestellte Russen pflegen jahrhundertealte imperialistische Haltungen. Unter Russen im Ausland dominieren Selbstmitleid und ein ausgeprägtes Anspruchsdenken anstatt Selbstkritik.
Darüber hinaus erleichtern Reisefreiheiten dem Kreml Spionage, Sabotage, Mord, das Umgehen von Sanktionen, Propagandatricks und Geldwäsche. Wir in Großbritannien wissen das von den Giftanschlägen gegen Alexander Litwinenko und von Salisbury, die von Attentätern mit Geschäfts- und Touristenvisa verübt wurden. In jüngster Zeit haben russische Agenten offenbar ein Depot in die Luft gejagt (der fünfte Anschlag in den letzten Wochen), das Emilian Gebrev gehört, einem bulgarischen Waffenhändler, der 2015 nur knapp eine Nowitschok-Vergiftung überlebte.
Russlands Terrorkampagne wird in ganz Europa geführt
Die Reisepläne von Tätern und Mittätern zu behindern, scheint eine milde Antwort zu sein, auch wenn sie eine schaumgebremste Reaktion von Kreml-Sprachrohren hervorgerufen hat. Der Propagandist Wladimir Solowjow meinte, dass ein Reiseverbot und die Einstufung Russlands als Terror-Staat den Eintritt des Westens in den Krieg bedeuteten und daher einen „präventiven Atomschlag“ verdienten. Das zeigt, dass Visabeschränkungen die „Achillesferse“ des Kremls sind, sagt mir Frau Kallas aus Estland. „Davor haben sie Angst.“
Diese schwierigen Entscheidungen sind die Folge unserer früheren Gier und Ängstlichkeit. Wir sollten die bequeme, aber faule Fairness aufgeben, die es anderen überlässt, die Konsequenzen unseres Handelns zu tragen. Stattdessen sollte es unser Leitprinzip sein, die Ukraine und die anderen Frontstaaten in den Mittelpunkt unserer Bemühungen zu stellen. Wir sind uns endlich bewusst geworden, wie gefährlich es ist, Russlands Anrainerstaaten als geopolitischen Puffer zu behandeln. Und dort sollte es auch keine Zuflucht geben für Russen, die den Spaß und die Freiheit genießen wollen, die ihre Herrscher zu Hause abgeschafft haben.
Die Esten und anderen wissen das besser als wir. Sie hatten in der Vergangenheit recht und wir haben sie ignoriert. Jetzt sollten wir auf sie hören.
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