Ein ukrainischer Sieg ist unverzichtbar für nachhaltige Sicherheit in Europa
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Versuche, die europäische Sicherheitsordnung zu zerstören, stellt Europa vor die schwersten geopolitischen Umwälzungen seit mehr als drei Jahrzehnten. Deren endgültige Form hängt vom Ausgang des Krieges ab, der leider noch lange dauern wird, schreibt Wojciech Kononczuk.
Wenn jemand im Herbst 2021 gesagt hätte, dass Russland in die Ukraine einmarschieren werde, die daraufhin aber nicht zusammenbrechen, sondern im Gegenteil erfolgreich ihre Unabhängigkeit verteidigen werde, und zwar mit Unterstützung des Westens, dass die Ukraine EU-Beitrittskandidat und mit Beitrittsverhandlungen beginnen werde, dann hätte man ihn wahrscheinlich als realitätsfernen Phantasten bezeichnet. Doch mittlerweile hat die Realität sämtliche Prognosen in mehrfacher Hinsicht übertroffen. Die Ukraine und Europa befinden sich auf so vielen Ebenen in einer Phase des Wandels, dass sich deren Ergebnis aufgrund der vielen Variablen kaum vorhersagen lässt. Doch wenn man diese Entwicklungen effektiv steuert, haben sie das Potential, die politische und sicherheitspolitische Ordnung in Europa von Grund auf neu zu gestalten.
Damit das geschieht, müssen zunächst folgende wichtige Bedingungen erfüllt sein: Erstens muss die Ukraine den Krieg gewinnen, und der Westen sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um diesen Sieg herbeizuführen. Zweitens muss Russland besiegt werden, was eine langfristige Strategie zur Eindämmung seiner revisionistischen Aggressionspolitik erfordert. Drittens braucht die Ukraine umfassende Sicherheitsgarantien, die nur die NATO geben kann. Und viertens muss die Ukraine EU-Mitglied werden, was eine stabilisierende Wirkung auf die ganze Region hätte.
Der Krieg ist noch nicht gewonnen
Mit seinem Angriffskrieg hat Russland etwas in Bewegung gesetzt, was es gar nicht erwartet hatte. Außenminister Sergej Lawrow hatte mit seiner Bemerkung kurz nach dem Einmarsch in die Ukraine Recht: „Es geht hier weniger um die Ukraine als vielmehr um die Weltordnung. Die aktuelle Krise ist ein schicksalhafter, ein epochaler Moment in der modernen Geschichte, denn sie spiegelt den Kampf (im weitesten Sinne des Wortes) darum wider, wie die Weltordnung aussehen wird.“[i] In den Augen Moskaus ist der aktuelle Konflikt ein systemisches Nullsummenspiel. Russlands strategische Ziele kann man in zwei Vertragsentwürfen über Sicherheitsgarantien nachlesen, die dem Westen seit Dezember 2021 vorliegen. Aus Sicht Moskaus hat sich an deren Inhalt nichts geändert.[ii]
Die Situation nach zwanzig Monaten Krieg ist weit entfernt von Russlands ursprünglichen Erwartungen, denn es ist Moskau nicht gelungen, seine strategischen Ziele zu erreichen. Die europäische und amerikanische Reaktion auf den Angriff war ein klares Signal, dass der Westen – zu Moskaus großer Überraschung – alle Versuche unterbinden wird, die europäische Ordnung mit militärischen Mitteln zu verändern.
Russlands grundlose Aggression hat nicht nur zur historischen Spaltung zweier Länder geführt, die sich einst nahestanden und deren Versöhnung, wenn der Krieg einmal vorbei ist, Generationen dauern wird; Russland hat sich damit quasi auch selbst aus Europa ausgeschlossen, zumindest bis zum Ende des Putin-Regimes. Eine der vielen Lehren, die wir aus dem laufenden Krieg ziehen können, ist die, dass eine stabile europäische Sicherheitsarchitektur nur mit einer Integration der Ukraine erreicht werden kann, was wiederum nur mit einem Sieg der Ukraine möglich ist.
Doch es liegen noch viele Herausforderungen vor uns, vor allem muss die dringend benötigte dauerhafte Lieferung militärischer Ausrüstung sowie die Bereitstellung finanzieller und sonstiger Unterstützung für die Ukraine gesichert werden. Die Unterstützung aus den USA und Europa war bisher zuverlässig und es wurden einige Tabus (wie die Lieferung von Panzern und Kampfjets) gebrochen. Dennoch bleiben mittel- und langfristig Ungewissheiten. So weisen etwa Tempo und Umfang der Lieferungen darauf hin, dass die USA und andere Verbündete Angst vor einer möglichen Eskalation haben, falls es zu gut für die Ukraine laufen sollte – denn das könnte in ihren Augen den Kreml etwa dazu provozieren, Atomwaffen einzusetzen. Dass sich hier vor allem die USA, ein entscheidendes NATO-Mitglied und der Hauptlieferant militärischer Hilfe an die Ukraine, selbst beschränken, ist de facto ein Geschenk an Russland. Damit wird keine Abschreckung erreicht, sondern vielmehr der Krieg in die Länge gezogen. Aus polnischer Sicht wie aus Sicht der übrigen Staaten an der NATO-Ostflanke (mit Ausnahme Ungarns) sollte hier keine Selbstbeschränkung geübt werden, da die an Russland vermeintliche Schwächen und Wankelmütigkeit des Westens signalisieren.
Die im Juni 2023 begonnene ukrainische Gegenoffensive hat keine wesentliche Fortschritte auf dem Schlachtfeld gebracht. Da aber Kriegsdynamiken nur zum Teil vorhersagbar sind, kann sich die aktuelle Pattsituation an der Front schnell ändern. Zumindest scheinen die russischen Truppen nicht in der Lage zu sein, ihren Vormarsch in ukrainisches Gebiet fortzusetzen. Die Frage ist nun, ob und inwieweit die Ukraine ihre verlorenen Gebiete zurückerobern kann.
Westliche Sanktionen verschärfen
Fortgesetzte Waffenlieferungen an die Ukraine müssen von konsequenten Sanktionen und anderen Maßnahmen eingerahmt werden, mit denen Moskaus militärische Ressourcen geschmälert werden und das Putin-Regime weiter isoliert und delegitimiert wird. Eine offensichtliche Voraussetzung dafür ist, dass die westliche Staatengemeinschaft vereint zusammensteht und auch weiterhin in der Lage ist, mit einer Stimme zu sprechen. Die Auswirkungen der Sanktionen sind im Land bereits zu spüren. Die russische Wirtschaft wird dadurch massiv geschädigt, jedoch nicht völlig ruiniert, und auch zusammenbrechen wird sie in absehbarer Zukunft wohl kaum. Der Schock der Sanktionen hat den Großteil der russischen Wirtschaft getroffen, aber Moskau hat sich damit arrangiert.
Die Wirtschaftspolitik des Kremls verfolgt zwei Hauptziele: soziale Stabilität wahren und Mittel für die Armee sichern. Wichtigstes Exportgut bleiben Rohstoffe, für die Russland auch tatsächlich alternative Märkte zu den jetzt verschlossenen westlichen findet, wenn auch zu erheblich niedrigeren Einkünften. Doch das optimistischste Szenario für die russische Wirtschaft heißt Stagnation. Die Sanktionen, vor allem im Technologiebereich, hemmen die wirtschaftliche Entwicklung, und ihr kumulativer Effekt auf die Wirtschaft wird vermutlich noch zunehmen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Analyse der aktuellen Lage immer schwieriger wird, da der Kreml den Zugang zu manchen statistischen Informationen beschränkt.
Der Westen muss schnellstmöglich sowohl weitere Sanktionen verhängen als auch die bestehenden verschärfen. Denn Russland lernt, die westlichen Maßnahmen mithilfe einer Vermittlerkette aus Staaten und Unternehmen zu umgehen. Die Verhängung von Sekundärsanktionen könnte eine Lösung sein, doch der Westen, insbesondere die EU, muss noch lernen, diese richtig einzusetzen.
NATO muss sich anpassen und die Ukraine integrieren
Ein weiterer kritischer Schritt ist die laufende, aber noch nicht abgeschlossene Anpassung der NATO an die direkte Bedrohung, die wahrscheinlich langfristig bestehen bleibt. Durch den russischen Angriffskrieg hat sich der Fokus der Allianz auf die Ostflanke verschoben, was wiederum – mit dem Beitritt Finnlands und (dem noch nicht abgeschlossenen Beitritt) Schwedens – die strategische Situation in diesem Teil Europas verändert. Da wir nicht wissen, wie der Krieg ausgeht, muss die NATO ihre Abschreckung und Verteidigung stärken.
Der NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 hat einige positive Veränderungen bewirkt, vor allem die teilweise Rückkehr zu den Abwehrplanungsprozessen und ‑strukturen aus Zeiten des Kalten Krieges.[iii] Russlands Macht lässt sich am besten weiter eindämmen, indem man Stärke, Einigkeit und Handlungsbereitschaft zeigt. Wenn wir Moskau zum Deeskalieren zwingen wollen, müssen wir unsere Entschlossenheit demonstrieren, uns an die neue Sicherheitslage anzupassen. Das ist die Sprache, die der Kreml am besten versteht, weil sie tief in die russische Strategiekultur eingebettet ist. Weitere notwendige Abschreckungsmechanismen sollten eine offizielle Aufkündigung der NATO-Russland-Grundakte beinhalten. Dafür setzen sich Polen und andere mittel- und osteuropäische Länder ein. Der aktuelle Ansatz einiger NATO-Mitglieder, einschließlich der USA und Deutschlands, die Grundakte nicht anzurühren, ist falsch, denn er verstärkt nur hartnäckig die russische Wahrnehmung der vorherrschenden Dialogkultur. Dies ist nur ein Beispiel, wie Polen und andere Nachbarn Russlands eine entschiedenere Haltung gegenüber Moskau vertreten und damit über den NATO-Konsens hinausgehen.
Eine der meistdiskutierten und kontroversesten Fragen ist der Rahmen, in dem die Kooperation zwischen der Ukraine und der NATO am besten stattfinden sollte. Für Polen und die meisten Länder an der Ostflanke der NATO ist die Mitgliedschaft der Ukraine im atlantischen Bündnis der einzige Weg, um Russlands Revanchismus zu stoppen und dauerhaften Frieden zu erreichen. Der NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 hat jedoch keine klare Botschaft ausgesandt, dass sich Kyjiw Hoffnungen auf eine baldige Mitgliedschaft machen könne, sondern hat stattdessen die Bukarest-Formel von 2008 wiederholt, nach der die Ukraine irgendwann aufgenommen werden solle, „wenn die Bündnispartner zustimmen und die Bedingungen erfüllt sind“. Viele NATO-Staaten, einschließlich der USA und Deutschlands, können sich eine Mitgliedschaft der Ukraine nicht vorstellen, solange ein Krieg mit ungewissem Ausgang herrscht.
Die Beziehungen zwischen NATO und Ukraine haben sich in den letzten Jahren enorm weiterentwickelt. Die Ukraine wird (anders als Belarus) nicht mehr wie früher durch das Prisma von „Russlands natürlicher Interessenssphäre“ wahrgenommen, und auch die öffentliche Meinung in der Ukraine zu einer NATO-Integration hat sich völlig gewandelt. Vor der Revolution der Würde 2013/2014 sah die ukrainische Bevölkerung das Bündnis eher als Bedrohung denn als potentiellen Beschützer.[iv] Noch Anfang 2022 schloss Kyjiw nicht aus, unter bestimmten Bedingungen einen blockfreien Status beizubehalten. Doch die russische Großoffensive hat einen massiven Meinungsumschwung befördert: Der Anteil der Befürworter einer NATO-Integration stieg auf 83 Prozent, nur 6 Prozent sind dagegen.[v]
Der Westen ist dabei, als Interimslösung jenseits der NATO-Mitgliedschaft ein Paket von Sicherheitszusagen und ‑vereinbarungen für die Ukraine zu entwickeln. Langfristige Zusagen, die Ukraine dauerhaft mit militärischem Gerät und Munition für ihre künftige Verteidigung zu beliefern, sind wichtig, aber nicht genug – nicht zuletzt, weil viele Details noch ungeklärt sind. Daher sollte die Zeit bis zum nächsten NATO-Gipfel im Juli 2024 in Washington genutzt werden, um eine Lösung zu finden und die Ukraine formell in die NATO einzuladen. Allein dieser Schritt hätte enormen Einfluss auf die Sicherheitsarchitektur, doch ich wiederhole: Nur eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wäre der lang erwartete „Game Changer“ zur Stabilisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur.
Europa am Wendepunkt
Seit Tag Eins des Krieges haben zumindest einige Länder erkannt, dass wir an einem Wendepunkt in der europäischen Geschichte angelangt sind und dass nicht nur die Zukunft Mittel- und Osteuropas, sondern das gesamte europäische Sicherheitssystem auf dem Spiel steht. Auch wenn sich manche EU-Hauptstädte auf einen schnellen Zusammenbruch der Ukraine vorbereiteten, waren die Staaten der NATO-Ostflanke bereit, das Land in einem entscheidenden Krieg zu unterstützen. Die baltischen Staaten und Polen waren nicht nur die ersten, die Waffen in die Ukraine schickten, sondern sie lieferten sie auch zu Lasten ihrer eigenen Verteidigungskapazität.
Am 28. Februar 2022 veröffentlichten die Präsidenten dieser vier Staaten gemeinsam mit denen von Tschechien, der Slowakei, Slowenien und Bulgarien eine Erklärung, in der sie für die europäische Integration der Ukraine eintraten. Es ist kein Zufall, dass der ukrainische Präsident Selenskyj am selben Tag in seinem Büro, aus Angst vor russischen Saboteuren von Sandsäcken umgeben, das EU-Beitrittsgesuch seines Landes unterzeichnete. Was einigen wie Wahnsinn und Realitätsverlust vorkam, stellte sich bald als visionärer Schritt heraus. Selenskyj zeigte Gespür für den historischen Moment. Wie die Geschichte weitergeht, ist bekannt: Im Juni 2022 erhielt die Ukraine Kandidatenstatus, und im Dezember gab die EU grünes Licht für Beitrittsgespräche mit Kyjiw. NATO- und EU-Mitgliedschaft sind eng verwoben – beide Prozesse sind schwierig, aber notwendig für die Stabilität der Ukraine und Europas.
Wie lange es dauern wird, bis die Ukraine vollwertiges Mitglied der Europäischen Union wird, ist schwer vorauszusagen. Die ukrainische Regierung hält beharrlich an ihrer Erwartung fest, dass der EU-Beitritt binnen der nächsten zwei Jahre erfolgt.[vi] Diese Frist ist definitiv zu ambitioniert, aber das tatsächliche Datum hängt von zwei wechselseitigen Prozessen ab.
Der erste betrifft den Kurs der dringend nötigen Strukturreformen in der Ukraine sowie den Ausgang des Krieges. Noch nie hat ein EU-Mitglied auf dem eigenen Gebiet Krieg führen müssen, und kein Mensch weiß, wie man einen EU-Beitritt mit einer über 1000 km langen Frontlinie vereinen soll. Beispiellose Fälle sind heutzutage keine Seltenheit mehr, aber in dieser Beziehung betreten die Ukraine und die EU absolutes Neuland. Die Ukraine, die einen Krieg um die eigene Existenz führt, braucht systemische Transformation, um ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis zu stellen.
Beim zweiten Prozess geht es um die Transformation der EU. Es laufen bereits Diskussionen über die künftige Form der Union und mögliche interne Reformen, einschließlich einer Reform der Abstimmungsverfahren.[vii] Deutschland, Frankreich und einige andere Mitgliedstaaten haben klargestellt, dass die Union vor einer Aufnahme der Ukraine, Moldau und der Westbalkanländer entscheidende Reformen durchführen muss. Polen und andere Mitglieder argumentieren dagegen, dass die beiden Prozesse nicht kombiniert werden sollten. Ihr Hauptargument ist, dass die zu erwartenden Debatten über Inhalt und Wesen der Reformen, die nur mit Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten durchführbar ist, die Erweiterung hinauszögern könnte.
„Die EU ist ohne die Ukraine undenkbar“
Die gute Nachricht ist zum einen, dass sich die EU-Vertreter einig sind, dass die Union – wie es Ursula von der Leyen ausdrückt – „ohne die Ukraine und den Westbalkan undenkbar“ ist, und zum anderen, dass sich das politische Klima in entscheidenden EU-Staaten in Bezug auf eine neue Erweiterungswelle in den letzten Monaten offenbar gewandelt hat. Noch vor zwei Jahren wäre das unvorstellbar gewesen. Damals wurden Stimmen, welche – besonders laut in Mitteleuropa – die europäische Integration der Ukraine oder von Moldau forderten, als „Romantizismus” oder „politischer Realitätsverlust” abgetan. Dies ist nur ein Zeichen von vielen, wie sehr die europäische Geschichte, unter Druck des Kremls, an Fahrt gewonnen hat. Dieser Prozess wäre zudem nicht möglich ohne eine Veränderung der mentalen Landkarte, insbesondere in Westeuropa. Offenbar hat die Ukraine endlich Einzug in die Köpfe vieler Menschen gehalten, selbst wenn die eigentliche EU-Mitgliedschaft noch weit entfernt ist.
Doch die europäische Integration findet auf beiden Seiten statt. Etwa ein Jahrzehnt lang war die öffentliche Meinung in der Ukraine zu diesem Thema gespalten – rund 40 Prozent der Befragten waren dafür, ungefähr ebenso viele dagegen.[viii] Der Stimmungswandel ging mit einem tiefgreifenden Identitätswandel in der ukrainischen Gesellschaft einher, der von der Revolution der Würde sowie vom anschließenden russischen Angriffskrieg ausgelöst wurde. 2021 sprachen sich bereits zwei Drittel der Ukrainer für eine EU-Integration aus, und nach der russischen Großoffensive schossen die Zahlen nochmals in die Höhe: Mit 85-prozentiger Unterstützung einer EU-Mitgliedschaft ist die Ukraine eine der EU-freundlichsten Gesellschaften in Europa.[ix]
Realistisch betrachtet wird die Einigung Europas jedoch noch lange dauern und es liegen viele Stolpersteine auf dem Weg. Der steigende Zulauf zu radikalen, anti-europäischen und rechten politischen Kräften (wie der AfD, der Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden oder dem Rassemblement National in Frankreich), die sich offen dem politischen Mainstream annähern, stellt Europa vor Schwierigkeiten, wenn es mit mehr oder weniger einer Stimme sprechen will. Zudem könnte ein mögliches Wirtschaftschaos die Begeisterung für einen EU-Beitritt der Ukraine und anderer Länder dämpfen. Immerhin stehen 63 Prozent der Befragten in der EU einem Beitrittsangebot für die Ukraine generell positiv gegenüber. Am meisten Zustimmung findet die Idee in Portugal (81 Prozent), Litauen (77 Prozent) und Polen (72 Prozent), am wenigsten in Deutschland (49 Prozent), Frankreich (51 Prozent) und den Niederlanden (54 Prozent).[x]
Russland ist entschlossen, den Krieg fortzuführen
Während die Ukraine dabei ist, sich in die EU und NATO zu integrieren, und dafür radikale Reformen durchführt, muss es gleichzeitig einen Verteidigungskrieg führen und versuchen, verlorene Gebiete zurückzuerobern. Der Kreml seinerseits ist entschlossen, die eigenen Ziele in der Ukraine zu erreichen, und Putin verfügt momentan über keinerlei gesichtswahrende Exit-Strategie.
Russland hält an seinen übergeordneten Ziele in der Ukraine fest, aber es hat seine Taktik weiterentwickelt. Moskau spielt auf Zeit glaubt es sich leisten zu können abzuwarten, bis in den USA möglicherweise Donald Trump (oder ein vergleichbarer Präsident) ins Weiße Haus zurückkehrt und eine außenpolitische Kehrtwende einleitet.
Ein weiterer Hoffnungsfaktor für Moskau sind die wachsenden Probleme in der EU. Diese könnten schließlich dazu führen, dass der Westen die Ukraine nicht weiter unterstützt, zumindest nicht im bisherigen Maße. Moskau ist sich bewusst, dass die Schmerzgrenze für den Krieg und die Bereitschaft, die Kosten dafür zu tragen, in Russland viel höher liegt als in westlichen Ländern.
Wie 20 Monate Krieg zeigen, hat sich der Kreml wiederholt verkalkuliert. Er ist von falschen Vorstellungen ausgegangen und musste erkennen, dass es keine gute Idee ist, dem Westen die eigenen Ideen aufzwingen zu wollen. Russland ist überrascht, gar orientierungslos angesichts der geeinten westlichen Haltung zur Ukraine und deren anhaltender Unterstützung. Doch das russische Regime hat keine Wahl als den Angriff fortzusetzen, da Zugeständnisse aus der Ukraine ausgeschlossen sind. Putin ist de facto zur Geisel seines eigenen Konflikts geworden.
Im Moment gibt es im Westen allerdings keine kritische Masse, die Kyjiw zu Zugeständnissen bewegen könnte. Moskau wiederum ist nicht imstande, eine vorteilhafte Lage an der Front herbeizuführen, und befindet sich seit langem in der Defensive. Die ukrainische Seite bestimmt den Rhythmus auf dem Schlachtfeld, selbst wenn die Gegenoffensive vom Sommer 2023 wenig Wirkung gezeigt hat. Daher klammert sich Russland an seine Gebietsgewinne, spielt auf Zeit und hofft, dass seine Entschlossenheit am Ende zum Sieg führen wird. Dabei unterschätzt Moskau wie früher schon die Entschlossenheit der ukrainischen Bevölkerung, die zu 90 Prozent dafür ist, ihr Land weiter zu verteidigen und keine Zugeständnisse zu machen.
Somit gibt es im Moment keine Möglichkeit, den Krieg zu beenden oder wenigstens zu stoppen. Mögliche diplomatische Verhandlungen mit Moskau wären kontraproduktiv, da sie nur Hoffnungen wecken würden, dass die aktuelle russische Methode – keine Zugeständnisse, weiter vorstoßen bis zum Erfolg – die richtige ist. Eins sollte klar sein: Selbst wenn sich der Westen auf die vom russischen Außenminister Lawrow als „bestehende territoriale Realitäten“ bezeichneten Gebietsverhältnisse einlässt, würde dies den Konflikt nicht beenden, sondern ihn nur verzögern, bis Russland bereit für eine neue Phase ist. Und vor allen Dingen wäre es eine Möglichkeit für Putin, sein Gesicht zu wahren.
Ein weiteres traditionelles Instrument der russischen Seite ist die ständige Drohung mit atomarer Eskalation – eine Drohung, für die westliche Gesellschaften und Regierungen äußerst empfänglich sind. Ein solches Szenario kann zwar nicht völlig ausgeschlossen werden, ist jedoch unwahrscheinlich, denn es würde nicht zuletzt zu Lasten Russlands gehen. Außerdem sendet der Kreml regelmäßig erpresserische Signale an westliche Regierungen, damit diese die Ukraine nicht mit Langstreckenwaffen beliefern. Leider zeigt dies in einigen Fällen auch Wirkung und führt zu einer Selbstbeschränkung, die Russlands Interessen entgegenkommt, den Krieg verlängert und die ukrainischen Verluste vermehrt. Ein aktuelles Beispiel ist die Entscheidung Berlins, aus Angst vor einer Eskalation auf die Lieferung von Taurus-Langstreckenraketen zu verzichten.[xi]
Ein weiteres Paradox ist die Furcht des Westens vor einem Zusammenbruch des russischen Regimes oder gar einem unkontrollierten Zerfall der Russischen Föderation infolge einer Niederlage. Das erinnert an die US-amerikanische Angst vor einem Zusammenbruch der Sowjetunion in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Wenn wir aus diesen 32 Jahren irgendetwas gelernt haben, dann dass westliche Eliten in beständiger Furcht vor einer noch größeren Krise in Russland leben und dass sie nichts dagegen tun können. Zugleich wird eine russische Niederlage – die hoffentlich nur eine Frage der Zeit ist – zweifellos eine neue strategische Frage aufwerfen: die nach Russlands Zukunft und seinem Platz in der Weltordnung. Das und jeder künftige Dialog mit Moskau wird natürlich davon abhängen, inwieweit Russland fähig ist, sich von Grund auf zu ändern und dem Imperialismus abzuschwören.
Der Weg zu dauerhaftem Frieden
Die Ukraine und der Rest der westlichen Staatengemeinschaft stehen vor zahlreichen gravierenden Sicherheitsproblemen, vor allem in Bezug auf den aktuellen Krieg. Die Phase strategischer Instabilität wird nicht so bald beendet sein, und der Westen sollte von dem Grundszenario ausgehen, dass der Krieg lange dauern wird. Wie bereits erwähnt, wird Russland seine Herangehensweise an den von ihm begonnenen Konflikt eindeutig nicht ändern und in den kommenden Jahren eine Bedrohung für die Ukraine und EU bleiben.[xii] Moskau glaubt, dass es am Ende den Sieg erringen wird, wenn es konsequenter, entschlossener und unnachgiebiger als die Gegenseite ist. Doch auch wenn das Putin-Regime sich hinter einem Pokerface zu verstecken versucht, ist es in Wahrheit schwächer, als wir meinen.
Die aktuelle Haltung des Westens scheint stabil, aber es bleiben viele strategische Ungewissheiten, die vermutlich mit jedem Kriegsmonat größer werden. Die internationale Ordnung befindet sich an einem Scheideweg, und es ist ungewiss, wie sie schlussendlich aussehen wird und welche Zukunft internationale Gesetze und Regeln haben. Die Grundlage der westlichen Strategie sollte sein, den Sieg der Ukraine sicherzustellen und damit Russland zur Aufgabe aller besetzten Gebiete zu zwingen. Zugleich sollte die Integration der Ukraine in die EU und NATO erfolgen, denn nur diese Strukturen garantieren eine stabile Entwicklung und Sicherheit.
Effektiver ukrainischer Widerstand verschafft Polen und anderen gefährdeten Ländern an der NATO-Ostflanke Zeit, um sich auf die Situation einzustellen, sich für eine mögliche Verschärfung der militärischen Lage in der Region sowie für eine mögliche Verringerung des US-Engagements und seiner Militärpräsenz in Europa zu rüsten. Hinzu kommt das mangelnde Vertrauen in eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die zum jetzigen Zeitpunkt quasi nicht existiert. Deutschlands offenkundiges Versagen, eine militärische „Zeitenwende“ einzuleiten, hat Polen und andere Länder in der Region dazu bewegt, massiv in die eigene Verteidigung zu investieren. Das sieht man deutlich an der Steigerung der polnischen Verteidigungsausgaben auf 3,9 Prozent des BIP in diesem Jahr und über 4 Prozent 2024 – ermöglicht durch einen parteiübergreifenden Konsens, sind das die höchsten Verteidigungsausgaben aller NATO-Staaten.
Zudem gilt die polnische Bekräftigung, dass „wir die Ukraine unterstützen, solange es nötig ist“, unveränderlich weiter. Da das entscheidende Element der polnisch-ukrainischen Beziehungen die gemeinsame Wahrnehmung von Sicherheitsbedrohungen ist, bildet die Unterstützung der Ukraine einen unverzichtbaren Bestandteil der Sicherheitspolitik jeder polnischen Regierung.[xiii] Daher erklärt Polen, dass nur Kyjiw die Bedingungen zur Beendigung des Krieges festlegen kann. Das ist ein klares Signal, dass Warschau sich jeder politischen Lösung widersetzen würde, sollten einige westliche Regierungen beschließen, der Ukraine eine ungünstige Vereinbarung aufzuzwingen. Die negativen Erfahrungen mit dem Minsker Abkommen 2014/15 sind noch in lebhafter Erinnerung.
Ich möchte betonen, dass es in Polen keinen politischen Disput über die allgemeinen Ziele der polnischen Ostpolitik, einschließlich der Reaktion auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, gibt. Vielmehr herrscht zwischen der scheidenden PiS-Regierung und den größten Oppositionsparteien (die nach den Wahlen am 15. Oktober schon bald eine neue Regierung bilden werden) ein stabiler Konsens in Bezug auf den Russisch-Ukrainischen Krieg, Polens Reaktion darauf sowie über die Notwendigkeit, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen und mehr EU-Unterstützung für Kyjiw zu mobilisieren.
In dieser Hinsicht unterscheidet sich die politische Strategie Polens in Bezug auf den Krieg nicht von derjenigen der baltischen und der meisten anderen mitteleuropäischen Staaten. Die Ukraine führt einen Existenzkrieg mit weitreichenden und möglicherweise „existenziellen“ Folgen für die gesamte Region. „Kompromiss”-Szenarien sind ausgeschlossen, und jede Regierung in Warschau – oder in anderen Hauptstädten an der NATO-Ostflanke – wird sich nur für eine Lösung starkmachen, die dauerhaften Frieden bringt.
Andere westliche Mächte, in erster Linie Deutschland und Frankreich, können es sich von ihrer Warte aus leisten, eine „Das ist nicht wirklich unser Krieg“-Haltung einzunehmen. Schließlich sind es nicht ihre sicherheitspolitischen Kerninteressen, die hier auf dem Spiel stehen. Es ist wichtig, dass die westlichen Staaten Kyjiw keine Lösung aufzwingen, sondern dass die Ukraine selbst entscheidet, wie dieser Krieg beendet wird. Andernfalls könnte es zu massivem Aufruhr unter den NATO-Verbündeten kommen, weil Polen und die anderen östlichen Staaten in Bezug auf Friedensbedingungen stets mit Kyjiw einer Meinung sein werden, aber nicht unbedingt mit den meisten westlichen Staaten.
Und schließlich dürfen wir auf gar keinen Fall die alten Fehler wiederholen. Wir haben bereits zahlreiche Lehren aus dem Russisch-Ukrainischen Krieg gezogen, aber diese sollten auch verinnerlicht und umgesetzt werden. Das absolute Fiasko der westlichen Strategie gegenüber Russland vor dem 24. Februar 2022 sollte uns eine Warnung sein. Wenn dieser Krieg vorbei ist, haben wir die historische Gelegenheit, den Integrationsprozess des europäischen Kontinents fortzusetzen und dadurch mehr Stabilität und Wohlstand zu erreichen. Auch wenn dieser Zeitpunkt noch weit entfernt ist, wurden einige grundlegende Schritte in dieser Richtung bereits getan. Bei alldem sollten wir nicht vergessen, dass eine unabhängige und sichere Ukraine unverzichtbarer Bestandteil einer nachhaltigen europäischen Sicherheitsordnung ist.
Wojciech Konończuk ist Direktor des Centre for Eastern Studies (OSW) in Warschau
Deutsche Übersetzung von Hanne Wiesner
[i] TASS: „Lawrow sieht Hoffnung für Kompromiss bei Verhandlungen mit Ukraine“ (Лавров заявил, что есть надежда на компромисс в переговорах с Украиной), 16. März 2022, https://tass.ru/politika/14085133?utm
[ii] Marek Menkiszak: „Russia’s blackmail of the West“, OSW, 20. Dezember 2021, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/analyses/2021–12-20/russias-blackmail-west
[iii] Justyna Gotkowska: „NATO Summit in Vilnius: breakthroughs and unfulfilled hopes“, OSW, 13. Juli 2023, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/osw-commentary/2023–07-13/nato-summit-vilnius-breakthroughs-and-unfulfilled-hopes
[iv] Julie Ray und Neli Esipova: „Before Crisis, Ukrainians More Likely to See NATO as a Threat“, 14. März 2014, https://news.gallup.com/poll/167927/crisis-ukrainians-likely-nato-threat.aspx
[v] Studie „Support for international unions: survey in Ukraine and Europe (July 4–10, 2023)“, https://ratinggroup.ua/en/research/ukraine/p_dtrimka_m_zhnarodnih_soyuz_v_opituvannya_v_ukra_n_ta_vrop_4-10_lipnya_2023.html
[vi] Suzanne Lynch: „Ukraine makes clear it won’t accept second-class EU membership“, 28. September 2023, https://www.politico.eu/article/ukraine-wont-accept-second-class-eu-membership-pm-denys-shmyhal/
[vii] Alexandra Brzozowski und Aurélie Pugnet: „Germany, France make EU reform pitch ahead of enlargement talks“, 19. September 2023, https://www.euractiv.com/section/enlargement-neighbourhood/news/germany-france-make-eu-reform-pitch-ahead-of-enlargement-talks/
[viii] Anastasiia Chornohorska: „Ukrainians overwhelmingly support European Integration“, 1. April 2016, https://euromaidanpress.com/2016/04/01/ukrainians-overwhelmingly-support-european-integration-infographics/
[ix] Studie „Support for international unions: survey in Ukraine and Europe (July 4–10, 2023)“, https://ratinggroup.ua/en/research/ukraine/p_dtrimka_m_zhnarodnih_soyuz_v_opituvannya_v_ukra_n_ta_vrop_4-10_lipnya_2023.html
[x] Bericht „2023 Transatlantic Trends“, https://www.gmfus.org/sites/default/files/2023–09/TT2023_digital‑3.pdf
[xi] Hans von der Burchard: „Scholz cites risk of ‘escalation’ as reason not to send Taurus missiles to Ukraine“, 5. Oktober 2023, https://www.politico.eu/article/germany-olaf-scholz-cites-risk-escalation-deliver-taurus-missiles-to-ukraine/
[xii] Marek Menkiszak: „Winning the war with Russia. The West’s counter-strategy towards Moscow“, OSW, 26. April 2023, https://www.osw.waw.pl/en/publikacje/point-view/2023–04-26/winning-war-russia
[xiii] Wojciech Konończuk: „The Polish-Ukrainian Bond Is Here to Stay“, 3. Oktober 2023, https://carnegieeurope.eu/strategiceurope/90686
Dieses Paper ist im Rahmen des vom Auswärtigen Amt geförderten Projekts „Russland und der Westen“: Europäische Nachkriegsordnung und die Zukunft der Beziehungen zu Russland“ erschienen. Sein Inhalt gibt die persönliche Meinung des Autors wieder.
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