»Regime Change in Russ­land darf für den Westen kein Tabu sein«

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Der „Marsch auf Moskau“ des Söld­ner­füh­rers Pri­go­schin hat gezeigt, dass Putins Macht auf wack­li­gen Beinen steht. Statt Regime­wan­del in Russ­land zu fürch­ten, sollte der Westen sich darauf vor­be­rei­ten und die demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion nach Kräften fördern. Eine Analyse von Maria San­ni­kova-Franck und Ralf Fücks.

Am 24. Juni konnten Jew­ge­nij Pri­go­schin und seine Wagner-Truppe die Mil­lio­nen­stadt Rostow am Don unter ihre Kon­trolle bringen. Weitere große Städte wurden auf ihrem Marsch nach Moskau ohne nen­nens­wer­ten Wider­stand pas­siert. Es ist schwer vor­stell­bar, dass die Geheim­dienste kei­ner­lei Kennt­niss von den Vor­be­rei­tun­gen dieses Marschs aufs Moskau hatten. Das wirft die Frage auf, wie viel Sym­pa­thie es für diese Rebel­lion im Sicher­heits­ap­pa­rat gab und wie stark dieser noch auf Putin setzt.

Es scheint so, als habe Pri­go­schin die Trag­weite seines Coups nicht über­schaut – als der Weg nach Moskau offen lag, zuckte er vor der finalen Macht­probe zurück. Das gilt rezi­prok auch für Putin.

Dass eine solche Meu­te­rei über­haupt statt­fin­den konnte und auf keinen nen­nens­wer­ten Wider­stand traf, hat Putins Image als »starker Mann«, der die Situa­tion im Land und die ver­schie­de­nen kon­kur­rie­ren­den Grup­pie­run­gen inner­halb des Regimes unter Kon­trolle hält, massiv beschä­digt. Das gilt auch für die 180-Grad Kehrt­wende im Umgang mit der Rebel­lion, die er binnen weniger Stunden hin­legte. Wie schon vor Beginn des Über­falls auf die Ukraine wurden Sta­bi­li­tät und Stärke des Regimes im Westen viel­fach überschätzt.

Aus­blick

Putin wird ver­su­chen, seine Macht zu kon­so­li­die­ren. Nach innen muss man mit einer wei­te­ren Ver­schär­fung der Repres­sion rechnen. Aus seiner langen Herr­schaft wissen wir, dass das Regime schlicht nicht in der Lage ist, auf Krisen und Her­aus­for­de­run­gen anders als mit Gewalt und Härte zu reagie­ren. Der Krieg hat diese Tendenz noch einmal verstärkt.

Auch im Hin­blick auf den Krieg gegen die Ukraine wird er sich bemühen, sich als starker Mann zu bewei­sen. Dies kann ihn zur wei­te­rer Eska­la­tion des Kon­flikts treiben. Seine Posi­tion als poli­ti­scher Führer ist so geschwächt, dass er noch weniger als bisher eine Wende zu einem Ver­hand­lungs­frie­den voll­zie­hen kann. Putin hat sich mit der ent­fes­sel­ten Bru­ta­li­tät gegen die Ukraine in eine Sack­gasse manö­vriert. Er hat schon mehr als hun­dert­tau­send rus­si­sche Sol­da­ten geop­fert, die rus­si­sche Armee emp­find­lich geschwächt, die wirt­schaft­li­che Zukunft Russ­lands ver­düs­tert und die Ver­bin­dun­gen zum Westen gekappt, ohne seine Kriegs­ziele in der Ukraine zu errei­chen. Alles Gerede von einem Waf­fen­still­stand kann nicht darüber hin­weg­täu­schen, dass er den Rubikon über­schrit­ten hat. Der Ausgang des Krieges ent­schei­det über sein Schicksal.

Sollte Russ­land in der Ukraine weiter mili­tä­risch in die Defen­sive geraten, steigen die Chancen für eine Spal­tung der rus­si­schen Eliten. Auch die Vor­aus­set­zun­gen für einen Wandel in der öffent­li­chen Meinung Russ­lands sind jetzt güns­ti­ger. Nachdem die Gefahr mili­tä­ri­scher Zusam­men­stöße in den Straßen rus­si­scher Städte real war, kann niemand mehr behaup­ten, der Krieg sei weit weg und betreffe rus­si­sche Bürger nicht direkt. Die­je­ni­gen, die glaub­ten, dass Putin alles im Griff hat, wurden eines Bes­se­ren belehrt.

Die demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion Russ­lands setzt darauf, dass der Kon­flikt mit Pri­go­schin nur der Anfang einer Krise des Regimes ist. Sie erwar­tet weitere Tur­bu­len­zen und Kon­flikte inner­halb des Macht­zir­kels und berei­tet sich darauf vor. Sie wird ihre Kam­pa­gne gegen den Krieg ver­stär­ken und ver­su­chen, auch die Armee und andere Teile des Macht­ap­pa­rats zu über­zeu­gen, dass Putin Russ­land ins Ver­der­ben führt. Eine beson­ders wich­tige Ziel­gruppe sind die rus­si­schen Sol­da­ten in der Ukraine. Als Putin in seiner Anspra­che am 24. Juni den Zusam­men­bruch Russ­lands 1917 als abschre­cken­des Bei­spiel beschwor, hatte er die Meu­te­rei der Front­sol­da­ten vor Augen, die damals mas­sen­haft den Befehl ver­wei­ger­ten und sich gegen den Zaren stellten.

Was daraus für die Politik des Westens folgt

Es ist höchste Zeit, dass die Demo­kra­tien des Westens sich auf mög­li­che Sze­na­rien des Wandels in Russ­land vor­be­rei­ten. Das Wochen­ende hat uns vor Augen geführt, dass sie schnell zur Rea­li­tät werden könnten. Putin ist kein Garant für Sta­bi­li­tät. Das Regime ist insta­bil, seine Politik ist die größte Gefahr für Demo­kra­tie und Sicher­heit in Europa. Deshalb darf Regime Change in Moskau kein Tabu für Berlin, Paris, Brüssel und Washing­ton mehr sein.

Der wich­tigste Faktor für jede posi­tive Ver­än­de­rung in Russ­land ist eine mili­tä­ri­sche Nie­der­lage in der Ukraine. Sie wird die schwin­dende Auto­ri­tät des Putin-Regimes voll­ends zer­stö­ren, die Spal­tun­gen inner­halb des Macht­zir­kels ver­schär­fen und die Pro­test­stim­mung in der Bevöl­ke­rung ver­stär­ken. Die vor­be­halt­lose Unter­stüt­zung der Ukraine ist der effek­tivste Hebel des Westens, den poli­ti­schen Wandel in Russ­land zu beför­dern. Die Ereig­nisse vom Wochen­ende haben gezeigt, dass Putin zurück­ru­dert, wenn er unter Druck gerät. Diese Lektion sollten die west­li­chen Regie­run­gen beher­zi­gen, statt sich in ihrer Unter­stüt­zung der Ukraine von ver­meint­li­chen »roten Linien« Putins bremsen zu lassen.

Der Westen sollte eine Spal­tung der rus­si­schen Füh­rungs­zir­kel und die poli­ti­sche Iso­lie­rung Putins nach Kräften fördern. Mit­glie­der des Regie­rungs­ap­pa­rats und der öko­no­mi­schen Elite, die den ver­bre­che­ri­schen Krieg ver­ur­tei­len und für die Ukraine Partei ergrei­fen, sollten einen siche­ren Hafen im Westen finden und von Sank­tio­nen befreit werden, soweit sie keine Kriegs­ver­bre­chen auf dem Kerb­holz haben. Das mag einen Teil der rus­si­schen Eliten, der bislang nach außen loyal zu Putin stand, dazu ver­an­las­sen, seine Haltung zu überdenken.

Berlin könnte Sam­mel­punkt der rus­si­schen Oppo­si­tion werden

Die euro­päi­schen Regie­run­gen sollte ins­be­son­dere die demo­kra­ti­sche Oppo­si­tion im Exil dabei unter­stüt­zen, einen Macht­wech­sel vor­zu­be­rei­ten und eine poli­ti­sche Alter­na­tive zu den reak­tio­nä­ren und bel­li­zis­ti­schen Kräften im Land zu for­mie­ren. Russ­land sollte nicht nur die Wahl zwi­schen Putin und Figuren vom Schlage Pri­gosch­ins haben. Dazu gehören auch gesi­cherte Auf­ent­halts­ti­tel für aus­ge­wie­sene Gegner des Putin-Regimes, die mit einem Schen­gen-Visum in die EU ein­ge­reist sind. Gerade Berlin könnte ein Sam­mel­punkt der demo­kra­ti­schen Oppo­si­tion Russ­lands werden.

Schließ­lich sollten wir mit der rus­si­schen Gesell­schaft offen über die Vor­aus­set­zun­gen einer Rück­kehr in den Bereich euro­päi­scher Zusam­men­ar­beit spre­chen: Voll­stän­di­ger Rückzug aus der Ukraine, finan­zi­elle Ent­schä­di­gung für die ange­rich­te­ten Zer­stö­run­gen, juris­ti­sche Ahndung von Kriegs­ver­bre­chen, Gewalt­ver­zicht gegen­über den Nach­bar­staa­ten. Für diese Kom­mu­ni­ka­tion sollten ins­be­son­dere rus­si­sche Exil­me­dien sowie rus­sisch­spra­chige Pro­gramme der euro­päi­schen Aus­lands­sen­der genutzt werden. Die Bot­schaft sollte lauten: Unser Gegner ist der rus­si­sche Impe­ria­lis­mus, nicht das rus­si­sche Volk. Für ein Russ­land, das Men­schen­rechte und Völ­ker­recht achtet und aufhört, eine Gefahr für seine Nach­barn zu sein, stehen die Türen offen.

 

Dieser Artikel ist am 28. Juni als Gast­bei­trag bei Spiegel.de erschienen.


Kon­fe­renz­be­richte, Policy Papers und Videos zum Thema

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„Russ­land nach Putin“ – Fazit der Brüs­se­ler Kon­fe­renz „The Day After“

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