Quo vadis Russland? Erst eine Niederlage in der Ukraine öffnet die Chance auf Erneuerung
Es wird Zeit, über ein Russland nach Putin nachzudenken. Mit einer Niederlage in der Ukraine werden sich auch die Verhältnisse im Land ändern. Ob zum Besseren oder Schlechteren, ist offen. Ohne Abschied vom imperialen Wahn bleibt Russland im ewigen Teufelskreis von Kriegspolitik und autoritärer Herrschaft.
Memorial, die älteste und wichtigste Menschenrechtsorganisation Russlands, bekommt endlich den längst überfälligen Friedensnobelpreis. In die Genugtuung mischt sich Bitterkeit. Die Auszeichnung kommt zu einer Zeit, da Russland sich mit Lichtgeschwindigkeit in eine finstere Kriegsdiktatur verwandelt hat. Memorial ist von Gerichts wegen aufgelöst, seine Gebäude beschlagnahmt, die Konten gesperrt. Welch ein Absturz gegenüber dem hoffnungsvollen Beginn von 1987, in der Periode von »Glasnost und Perestroika«. Noch hatte die Sowjetunion Bestand, aber die Freiräume weiteten sich, um die Vergangenheit aufzuarbeiten und über die Zukunft nachzudenken. Memorial schlug die Brücke zwischen der alten sowjetischen Dissidenz und einer neuen Generation von Historikern und Menschenrechtlern. Erster Vorsitzender war der legendäre Andrej Sacharow.
Ich kam 1997 über die Heinrich-Böll-Stiftung mit Memorial in Kontakt. Daraus wurden 25 Jahre freundschaftlicher Zusammenarbeit. Wir redeten uns die Köpfe heiß und schmiedeten Pläne. Über allem lag eine gemeinsame Erwartung: Demokratie in Russland ist möglich, der Weg in ein gemeinsames Europa ist offen. Der Kontrast zu heute könnte kaum größer sein.
Putins »gelenkte Demokratie« war Tarnung
Die Ernüchterung kam nicht über Nacht. Spätestens ab 2005, dem Beginn der zweiten Amtsperiode Putins, befanden sich die freiheitlichen Geister Russlands wieder in der Defensive. Putins »gelenkte Demokratie« war nur ein Tarnwort für die autoritäre Restauration. Geheimdienstkader besetzten Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft, die Rückkehr zu einer staatlich kontrollierten Ökonomie war in vollem Gange. Ein Schlüsselereignis war die Verhaftung Michail Chodorkowskis und die Zerschlagung des Yukos-Konzerns im Jahr 2003. Wer zu unabhängig war, wurde ausgeschaltet oder zum Kotau gezwungen.
Seitdem geht es Schlag auf Schlag: Zentralisierung der Macht, Gleichschaltung des Parteiensystems und der Duma, Gleichschaltung der Medien, Gleichschaltung der Justiz. Noch bestehende Freiräume in der Zivilgesellschaft, im Kulturbetrieb und den Universitäten wurden eingedampft: Agentengesetze, Internetzensur, Verfolgung politischer Opposition, Regimekritik als Straftat, Beschwörung des »Großen Vaterländischen Krieges« als zentrale Legitimationsquelle des Putin-Regimes.
Der wachsenden Repression nach innen folgte die aggressive Wendung nach außen auf dem Fuß. Die Georgien-Intervention von 2008 war ein Warnsignal, das der Westen nicht hören wollte. Es folgten der erste Ukrainekrieg von 2014, die Krim-Annexion, die militärische Intervention in Syrien, in vieler Hinsicht eine Vorübung für den zweiten Ukrainekrieg. Erst jetzt gehen vielen die Augen auf, die vorher nicht sehen wollten, in welche Richtung sich Russland unter Putin entwickelte. Fundierte Studien beschreiben das »System Putin« als Kombination aus einer mafiösen Kleptokratie, deren Machtelite sich schrankenlos bereichert, und einem Geheimdienstregime, das den Zerfall der Sowjetunion als Moment der schlimmsten Demütigung empfindet. Das Ziel ist die Restauration des Imperiums.
Angesichts der enthemmten Gewalt der russischen Kriegführung, der Hasspropaganda in den Staatsmedien und der rücksichtslosen Unterdrückung jeder inneren Opposition kommen unangenehme Fragen auf. Mit welchem Russland haben wir es heute und in absehbarer Zukunft zu tun? Woher kommt der erschreckende Mangel an Empathie mit der Ukraine, obwohl doch elf bis zwölf Millionen russischer Familien verwandtschaftliche Beziehungen mit dem vermeintlichen »Bruderland« haben? Waren es nur unglückliche Umstände, weshalb das Land nach dem Zusammenbruch der UdSSR wieder Richtung Autoritarismus und imperialer Machtpolitik abgebogen ist? Oder gibt es ein strukturelles Erbe, das allen Anläufen zu einer Demokratisierung im Wege steht?
Die Antwort auf diese Fragen ist politisch relevant. In den letzten Wochen ist das Szenario einer russischen Niederlage in der Ukraine in den Bereich des Möglichen gerückt – vorausgesetzt der Westen lässt sich von Putins nuklearen Drohgesten nicht einschüchtern. Putin würde einen schmählichen Rückzug der russischen Truppen politisch nicht lange überleben, darin sind sich die meisten Russlandkenner einig. Aber was dann?
Kaum jemand traut sich eine Prognose über einen möglichen Machtwechsel in Moskau. Die internen Machtverhältnisse sind für Außenstehende noch weniger transparent als in der Endphase der Sowjetunion. Klar ist nur, dass Putin noch über die absolute Macht verfügt. Wie ein Wechsel stattfinden und wer den Präsidenten beerben könnte, bleibt spekulativ.
Gehandelt werden drei Basis-Szenarien:
- Putin wird durch eine Figur aus dem jetzigen engeren Machtzirkel ersetzt, die Kontinuität und Stabilität verspricht.
- Die militärische und politische »Demütigung« in der Ukraine mündet in eine chauvinistische Radikalisierung des Regimes. Das hieße noch schärfere Repression nach innen, harte Konfrontation mit dem Westen und gesteigerte Aggressivität nach außen.
- Nach einer instabilen Übergangsphase kommt es zu Neuwahlen. Der Ruf nach einem Neuanfang bringt die vereinigte Opposition an die Regierung. Stand heute wäre Alexej Nawalny ihr zugkräftigster Kandidat.
Auch dieses Best-Case-Szenario würde keineswegs einen raschen Übergang in einen demokratischen Rechtsstaat garantieren. Zu atomisiert ist die demokratische Opposition in Russland, zu verrottet sind die staatlichen Institutionen, zu groß das Gewaltpotenzial, zu ausgeprägt sind Zynismus, Gleichgültigkeit und autoritäre Einstellungen in weiten Teilen der russischen Gesellschaft. Für jede neue Regierung wäre das vollständig auf den Export fossiler Energieträger ausgerichtete Wirtschaftsmodell und die endemische Korruption eine riesige Hypothek. Marktwirtschaftliche Reformen sind seit dem sozialen Absturz der Neunzigerjahre in Misskredit geraten. Russland stehen ökonomisch schwere Jahre bevor.
Wie viel Rückhalt hätte ein neuer Anlauf Richtung Demokratie in der Bevölkerung? Die aktuellen Informationen, die uns aus Russland erreichen, ergeben ein widersprüchliches Bild. Unabhängige Beobachter schätzen, dass etwa 15 bis 20 Prozent den Kriegszug gegen die Ukraine ablehnen, auch wenn nur relativ wenige offen opponieren. Das entspricht in etwa der Größenordnung des liberal-demokratischen Milieus, das Umfragen ermittelt haben. Es konzentriert sich vor allem in den großen Städten.
Ihm steht ein zumindest ebenso großes Milieu gegenüber, das den Krieg voll unterstützt oder sogar auf seine Verschärfung drängt. Dieser Teil der Gesellschaft hängt an großrussisch-imperialen und schroff antiliberalen Vorstellungen. Dazwischen scheint es ein breites Spektrum von Leuten zu geben, die den Krieg wider besseres Wissen legitimieren oder indifferent sind. Die Mehrheit der russischen Gesellschaft ist entpolitisiert, passiv und konzentriert sich darauf, das eigene Leben irgendwie zu meistern.
Russlands Abschied vom Imperium
Seit der willkürlichen Zwangsrekrutierung wehrpflichtiger Männerhäufen sich die Zeichen von Ernüchterung. Hunderttausende haben sich in die benachbarten Länder abgesetzt, um ihrer Einberufung zu entgehen. Das ist kein Ausweis demokratischer Gesinnung, zeigt aber, dass der Hurrapatriotismus der Staatsmedien in weiten Teilen der Gesellschaft nicht verfängt.
Russland steht an einer historischen Weggabelung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Abschied vom Imperium, eine zweite Phase der De-Kolonisierung nach der Implosion der UdSSR. Weshalb sollte Russland nicht zumutbar sein, was Deutschland, das Habsburger Reich, Frankreich und Großbritannien hinnehmen mussten – am Ende zu ihrem Glück? Der Kreml muss seinen Machtanspruch über den postsowjetischen Raum aufgeben. Erst dann kann Russland zu einem guten Nachbarn werden. Wieweit der Prozess der De-Kolonisierung auch die innere Peripherie des Landes – etwa den Nordkaukasus – erfassen wird, ist eine offene Frage.
Die Alternative wäre ein Abgleiten in noch schrilleren Großmacht-Chauvinismus, begleitet von einer aggressiven Paranoia: alle gegen uns, wir gegen alle, insbesondere den Westen. Der Überfall auf die Ukraine liegt auf dieser Linie. Solange Russland am imperialen Wahn festhält, gibt es keinen stabilen Frieden in Europa – und keine Chance auf Demokratisierung nach innen.
Eine Niederlage Russlands in der Ukraine ist eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für eine Erneuerung. Dazu braucht es auch die schmerzhafte Auseinandersetzung mit der eigenen Gewaltgeschichte nach innen und außen, die Entwicklung eines staatsbürgerlichen Bewusstseins von Rechten und Pflichten, die Achtung des Rechts sowie tief greifende Reformen des Gefängnissystems und der Armee als Brutstätten der Gewalt. Dieser Prozess wird dauern, und er ist von außen nur bedingt beeinflussbar.
Was wir tun können, ist zuallererst die entschiedene politische, militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine bei der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit und der Befreiung ihres Territoriums. Zweitens benötigen die demokratischen Kräfte Russlands unsere Solidarität beim Aufbau von Exilstrukturen. Dazu gehört die Unterstützung russischer Medien in Europa, die eine demokratische Gegenöffentlichkeit zu Putins Propagandaapparat bilden.
Die EU sollte Medienangebote fördern, die auch die russisch sprechende Bevölkerung in den postsowjetischen Nachbarländern erreichen. Solange Russland seinen autoritären und neoimperialen Kurs fortsetzt, kommen wir drittens nicht um eine entschlossene Politik der Eindämmung und Abschreckung herum. Das erfordert die Stärkung der gemeinsamen europäischen Verteidigung im Rahmen der Nato – einschließlich der Ukraine.
Gegenwärtig scheinen die Aussichten für eine politisch-moralische Erneuerung Russlands eher düster. Es gehört allerdings zum Wesen autokratischer Systeme, dass Veränderungen eher abrupt als linear ablaufen. Militärische Niederlagen waren seit jeher die Mutter von Reformen und Revolutionen in Russland.
Der Text ist zuerst am 12. Oktober als Gastbeitrag im Nachrichtenmagazin Der Spiegel erschienen
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