Putin plant einen langen Krieg. Sind wir vorbereitet?
Während sich Wladimir Putin für einen langen Krieg rüstet, prägen Uneinigkeit und Zögern die westliche Politik. Auf unserer diesjährigen Konferenz „Russland und der Westen“ wurde eindringlich für eine neue europäische Russland-Politik plädiert. Gefordert wurde eine Doppelstrategie, die sowohl einen militärischen Sieg der Ukraine ermöglicht als auch einen langfristigen Wandel in Russland befördert.
Im dritten Jahr des umfassenden Krieges Russlands gegen die Ukraine fällt die Zwischenbilanz der „Zeitenwende“ gemischt aus: Der russische Machthaber Wladimir Putin kann keine großen Erfolge vorweisen, während sich die Ukraine – für viele überraschend – mit westlicher Hilfe militärisch behaupten konnte. Das Land bezahlt dafür aber einen hohen Preis. Die Unterstützung des Westens ist gemessen an der Realität des Krieges und seiner Bedeutung für die europäische Nachkriegsordnung immer noch zu wenig und kommt zu spät. Zwischen den westlichen Regierungen gibt es Differenzen darüber, wie weit die Unterstützung der Ukraine gehen soll. Gleichzeitig herrschen Unklarheit über den strategischen Umgang mit Russland und die Konturen einer europäischen Sicherheitsordnung nach dem Krieg.
In diesem dramatischen Rahmen debattierten knapp 100 Expertinnen und Experten auf der diesjährigen Konferenz „Russland und der Westen“ unter dem Titel „Was auf dem Spiel steht“ über die Zukunft der deutschen und westlichen Russlandpolitik.
Russlands innere Verfassung: Vorbereitung für einen langen Krieg
In der Diskussion über die innere Verfassung Russlands wurde deutlich: Putin bereitet sich auf einen langen Krieg vor, indem er dafür die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen schafft.
Ein kleiner kritischer Teil der russischen Gesellschaft ist mit der Politik des Kremls und dem Krieg nicht einverstanden, und macht seinem Unmut unter großem Risiko von Zeit zu Zeit Luft – etwa bei öffentlichen Trauerbekundungen für Alexej Nawalny oder durch die öffentliche Unterstützung der (letztlich nicht zugelassenen) Präsidentschaftsbewerber Boris Nadjeschdin und Jekaterina Dunzowa, die eine begrenzte Antikriegsagenda vertraten.
Die Mehrheit unterstützt jedoch weiterhin das Regime und seinen Krieg gegen die Ukraine. Wie aktiv diese Unterstützung in der stark atomisierten und von Repressionen eingeschüchterten Gesellschaft ist, bleibt offen. Von Begeisterung kann jedenfalls keine Rede sein: Bereits fünf Mal musste die Regierung in den letzten zwei Jahren den Sold erhöhen, um genügend Soldaten zu finden.
Und um eine Generalmobilmachung zu verhindern, werden gezielt in einkommensschwachen und sozial benachteiligten Gruppen rekrutiert. Infolgedessen hat der Krieg eine Umverteilung des Wohlstands zugunsten dieser Gruppen bewirkt. Und weil immer mehr Menschen vom Krieg wirtschaftlich profitieren, ist Umfragen zufolge erstmals seit den 1990er Jahren der Anteil derer, die die Verteilung des Wohlstands in Russland als gerecht empfinden, gestiegen.
Das Regime stützt sich zudem auf verbreitete antiwestliche Ressentiments und verstärkt sie. Nachdem der Großangriff auf die Ukraine zunächst als militärische Spezialoperation an der Peripherie dargestellt wurde, wird er zunehmend als Neuauflage des Großen Vaterländischen Krieges dargestellt, in dem Russland sich gegen den Westen behaupten müsse.
Solche Botschaften verfangen sogar bei denen, die dem Kreml kritisch gegenüber stehen: Denn sie liefern einfache Erklärungen und bieten moralische Entlastung auch für jene, die das Gefühl haben, ihr Land führe einen verbrecherischen Krieg. Außerdem glauben viele, die den Krieg eigentlich nicht gutheißen, dass sich Russland jetzt keine Niederlage erlauben kann.
Aber Putin setzt weniger auf Sieg als auf Krieg zur Konsolidierung seines Regimes. Im März 2024 ließ er sich für weitere sechs Jahre wählen. Die Zusammensetzung der daraufhin neu gebildeten Regierung zeigt, dass sich das Regime auf einen langen Krieg einstellt und dass Putin weiß, dass dafür wirtschaftliche Mittel nötig sind.
Die Konferenzteilnehmer waren sich nicht einig, ob die Ablösung des langjährigen Putin-Vertrauten Sergej Schoigu durch den Wirtschaftsexperten Andrej Beloussow als Verteidigungsminister mitten im Krieg ein Zeichen der Stärke oder der Verzweiflung ist:
Die einen argumentierten, Putin glaube, dass er einen langen Abnutzungskrieg gewinnen könne: Mit einem Zivilisten als Verteidigungsminister stärke er seine Position als Oberbefehlshaber und zeige, dass er die wichtigen militärischen Entscheidungen alleine treffe. Beloussow müsse ihm nur die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen. Dagegen argumentierten andere, die Absetzung Schoigus und die damit einhergehenden Verhaftungen hochrangiger Beamter im Verteidigungsministerium seien ein Schritt der Verzweiflung angesichts massiver Probleme.
Einig waren sich aber alle, dass Russland, das bereits mehr als acht Prozent seiner Wirtschaftsleistung für militärische Zwecke und nationale Sicherheit ausgibt, kurzfristig über genügend Ressourcen verfügt, um den Krieg fortzusetzen. Die von der erhöhten Militärproduktion angekurbelte russische Wirtschaft könne auch dank hoher Einnahmen aus dem Ölgeschäft die Folgen der Sanktionen kurzfristig verkraften.
Mittel- und langfristig werden sich die Probleme jedoch verschärfen. Schon jetzt machen sich ein eklatanter Arbeitskräftemangel und das Fehlen westlicher Technologien bemerkbar. Die Hinwendung zu China, das bisher wichtige Gas-Importeure wie Deutschland und die EU ersetzen sollte, funktioniert nicht wie geplant. Peking nutzt Moskaus einseitige Abhängigkeit, um die Preise zu drücken.
Erwartet wird, dass steigende Militärausgaben zu Kürzungen bei den Sozialausgaben führen. Dies wiederum könne gesellschaftliche Spannungen aufgrund ethnischer, regionaler, sozialer oder ökologischer Ungerechtigkeiten verstärken. Aber auch die Eliten selbst könnten davon betroffen sein.
Die Summe dieser internen Faktoren, verstärkt durch die Sanktionen, wird langfristig die Spannungen im System erhöhen. Jedoch: in absehbarer Zukunft könnte nur eine Niederlage Russlands in der Ukraine den Weg für einen Wandel ebnen.
Sanktionen brauchen Entschlossenheit
Die Diskussion um die Sanktionspolitik des Westens verlief weitaus weniger kontrovers. Praktisch alle Konferenzteilnehmer waren sich einig, dass alle Maßnahmen gegen die russische Kriegswirtschaft verschärft bzw. verbessert werden müssen. Der Westen könne und müsse hier handeln, weil er deutlich stärker sei: Allein den EU-Staaten wird für 2024 eine Wirtschaftsleistung von 19 Billionen US-Dollar prognostiziert, fast zehnmal so viel wie Russlands 2 Billionen. „Wirtschaftlich sind wir stärker, aber leider sind wir nicht entschlossener“, lautete eine Schlussfolgerung. Deutlich wurde, dass große Hoffnungen auf ein Embargo für russisches Flüssiggas (LNG) und auf Anlegeverbote für russische Öltanker in der EU ruhen.
Viele Redner forderten, die in Europa liegenden 200 Milliarden Dollar eingefrorenen russischen Zentralbankvermögens endlich der Ukraine zu geben – und zwar nicht bloß die Zinserträge. Wenn man das Geld schon eingefroren habe, dürfe man es juristisch auch nehmen, lautete das Hauptargument, das der Rechtsexperte Patrick Heinemann bereits in einem Beitrag für unser Dossier „Sanktionen“ formuliert hatte. Mit Blick auf diejenigen (die Bundesregierung und die Europäische Zentralbank), die das als „zu riskant“ ablehnten, stellte ein Diskussionsteilnehmer die Frage, warum denn die Lieferung von Waffen an die Ukraine dann weniger riskant sei.
Elemente einer neuen europäischen Russland-Politik
Derzeit tut sich der Westen aber schwer, die notwendigen Ressourcen für einen ukrainischen Sieg zu mobilisieren. Ein Grund dafür sahen mehrere Teilnehmer darin, dass dem Westen derzeit eine Strategie für den Umgang mit Russland fehlt. Sie warnten, dass jede Vereinbarung mit dem derzeitigen Regime zwangsläufig bedeutet, dem Kreml auf Kosten der Ukraine Zugeständnisse zu machen. Stattdessen sollte der Westen auf einen Sieg der Ukraine hinarbeiten und dem Land alles geben, was es dazu braucht. Gleichzeitig sollten wir das Aggressionspotential des Kremls durch eine Kombination aus militärischer Abschreckung und Eindämmung dauerhaft minimieren.
Die Konferenzteilnehmer waren sich einig, dass das Putin-Regime das Haupthindernis für einen nachhaltigen Frieden in Europa und für demokratische Reformen in Russland ist. Der russische Machthaber macht keinen Hehl daraus, dass er den Krieg gegen die Ukraine als Teil einer langen internationalen Auseinandersetzung sieht. Deren Ziel ist es, den Westen zu schwächen und die regelbasierte liberale Ordnung, die als Vormacht des Westens verstanden wird, zu untergraben. Dabei agiert Russland nicht allein, sondern in einer Allianz mit dem Iran und China.
Die liberalen Demokratien werden in dieser Auseinandersetzung zusammen mit der Ukraine gewinnen oder verlieren. Ein Sieg des Kremls hätte katastrophale Folgen für die Zukunft internationalen Ordnung.
Deswegen braucht der Westen, wenn er bestehen will, sowohl eine Strategie für einen Sieg und Wiederaufbau der Ukraine als auch eine langfristige Russland-Strategie, die über eine Schwächung des Regimes hinaus eine Transformation des Landes zum Ziel hat. Auch wenn das derzeit nicht wahrscheinlich scheint, sollte jede Möglichkeit genutzt werden, um einen Wandel Russlands hin zu mehr Offenheit zu erzielen.
Als mögliche Elemente einer solchen Strategie wurden genannt:
- Die internationale Isolierung des Kremls vorantreiben.
- Den Druck der Sanktionen erhöhen.
- Moskau für seine Kriegsverbrechen in der Ukraine zur Rechenschaft ziehen – etwa mittels einer neuen Initiative für ein Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression.
- Eine Stabilisierung der Länder in der gemeinsamen östlichen Nachbarschaft.
- Eine Perspektive für ein postimperiales Russland eröffnen. Nur für ein Russland, das keine Bedrohung für seine Nachbarn darstellt und das Völkerrecht respektiert, steht die Tür zur Zusammenarbeit offen. Das bedeutet heute vor allem die Unterstützung der demokratischen Opposition, der Zivilgesellschaft und der freien Medien, die die Hoffnung auf ein anderes Russland verkörpern.
Vor allem aber gilt es, die Ukraine mit allem zu unterstützen, was sie für einen Sieg braucht. Und: Egal wie die US-Präsidentenwahl ausgeht, muss eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den transatlantischen Partnern geschaffen werden.
Mitarbeit: Nikolaus von Twickel
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